Henryk M. Broder: Die BDS-Anhänger bereiten
die Endlösung der Judenfrage vor – diesmal im Nahen Osten
In der
Literaturzeitschrift „Allmende“ warnen Autoren, die Israels
Politik befürworten, vor dem „Neuen Antisemitismus“ / Mirna
Funks umstrittener Roman „Winternähe“
Arn Strohmeyer
Der britisch-jüdische Philosoph
Brian Klug behandelt in einem Essay mit dem Titel „Eine jüdische
Herangehensweise an die Menschenrechte und Israel/Palästina“ das
Dilemma des gegenwärtigen Judentums. Er spricht dort von einer
„binären Spaltung“, die nichts mit der Unterscheidung von
religiös und säkular zu tun habe, sie laufe in ihrer
Prioritätensetzung auf ein „entweder oder“ hinaus: Entweder
ständen Gruppen oder ethnische Interessen an erster Stelle oder
die universellen Menschenrechte. Die beiden Sichtweisen seien
nicht nur unterschiedlich, sie schlössen sich gegenseitig aus.
Und doch beanspruchten beide dieselbe Tradition für sich: das
Judentum oder die Jiddischkeit. Der Gegensatz zwischen beiden
Richtungen sei so groß, dass er von einer ernsthaften Krise im
Judentum spricht – eine Krise, bei der sich der Staat Israel als
Fels herausstellen könnte, an dem das Judentum
auseinanderbrechen könne.
Klug nennt die Auseinandersetzung
zwischen den Vertretern der universalen Menschenrechte und den
Anhängern Israels (also im Wesentlichen die Gefolgsleute des
Zionismus) im metaphorischen Sinn eine „Schlacht“, die mit allen
Mitteln ausgetragen werde. In den Augen der Verteidiger des
Zionismus (Partikularisten) sind die Universalisten „Verräter“
oder „Feiglinge“ (Klug) oder eben „Antisemiten“. Wenn man von
einem „neuen Antisemitismus“ spricht, gilt es also zu
unterscheiden zwischen dem „alten“ Antisemitismus, der sich
vorrangig auf die „Rasse“ gründete und Juden wegen angeblich
angeborener negativer Eigenschaften ablehnte, den es natürlich
auch noch gibt, und einem vermeintlich „neuen“, der jede Kritik
an Israels Politik als „Antisemitismus“ anprangert, weil hier
„die Juden“ als Kollektiv (oder eben als jüdischer Staat)
attackiert würden.
Wenn eine angesehene deutsche
Literaturzeitschrift wie „Allmende“ eine ganze Ausgabe dem
„neuen Antisemitismus“ widmet, müsste man eigentlich davon
ausgehen, dass sie die Spaltung und die Krise, in der sich das
Judentum gegenwärtig befindet, in den veröffentlichten Beiträgen
zur Kenntnis nimmt und berücksichtigt. Aber nichts dergleichen –
mit keinem Satz wird das Dilemma des Judentums erwähnt. Es
existiert offensichtlich gar nicht. Zu Wort kommen – sieht man
von den Aufsätzen von Esther Dischereit und Rafael Seligmann ab
– nur überzeugte jüdische Anhänger der israelischen Politik, was
vermutlich mit der typisch deutschen Angst der Redaktion vor dem
Antisemitismus-Vorwurf zu tun hat, womit Klugs oben angeführte
Analyse sich auch in diesem Fall bestens bestätigt. “Allmende“
schlägt sich (von den beiden kleinen Ausnahmen abgesehen)
vollständig auf die eine Seite – die
partikularistisch-zionistische. Im Jahr 2004 hatte der
Suhrkamp-Verlag schonen einen Band mit dem Titel „Neuer
Antisemitismus?“ herausgegeben, aber immerhin mit Fragezeichen.
In dem Buch stammen von 17 Beiträgen wenigstens drei von
kritisch, also universalistisch eingestellten Juden: Judith
Butler, Dan Diner und Tony Judt.
*
Nur ein Interview-Beitrag in dem „Allmende“-Heft
hebt sich (wie schon erwähnt) von der zum Teil blinden
Israel-Loyalität der anderen Autoren/innen ab. Obwohl die an
Esther Dischereit gerichteten Fragen die deutsch-jüdische
Schriftstellerin immer wieder auf die Klischees und Stereotypen
der Vorwürfe des „neuen Antisemitismus“ festlegen wollen, lässt
sie sich nicht beirren. Sie sieht die größte Gefahr zur Zeit
viel mehr im „neuen“ Hass auf die Muslime, der sich strukturell
aus dem immer noch existierenden Antisemitismus der
NS-Vergangenheit herleite. (Eine These, die auch der
Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz vertritt.) Scharf
kritisiert sie deshalb den Zentralrat der Juden in Deutschland,
der vor einer Verschärfung des Antisemitismus durch Flüchtlinge
aus arabischen Ländern warnt und eine Begrenzung der Zuwanderung
fordert, weil diese Staaten „antisemitisch“ seien. Diese Art von
Vorurteil sei völlig unakzeptabel, es handle sich dabei um
Projizierung oder Verlagerung des heimischen Antisemitismus,
sagt Esther Dischereit. Die Flüchtlinge seien vor Hass und
Gewalt geflohen und hätten damit zu tun, hier zurechtzukommen
und nicht Feindschaft gegen Juden zu verbreiten. Mit Blick auf
den Zentralrat fragt sie: Gibt es nicht auch eine Verpflichtung
den Anderen gegenüber?
Esther Dischereit spricht in ihrem
Beitrag aus, was in der Debatte um einen vermeintlichen „neuen
Antisemitismus“ keiner der anderen „Allmende“-Autoren
ausspricht, was aber unbedingt gesagt werden muss: Der „neue
Antisemitismus“ hat seine Ursache nicht zuletzt in der
menschenrechts- und völkerrechtswidrigen Politik Israels: „Falls
am neuen Antisemitismus etwas neu ist, dann sicher nicht seine
Verschmelzung mit Antizionismus. Dieses Problem gibt es seit
langem schon. Israel bietet seit Jahrzehnten allen Grund dafür,
Kritiker und Feinde nicht nur anzuziehen, sondern geradezu zu
sammeln. Das israelische Interesse an einem Frieden in der
Region ist unübersehbar ausgesprochen gering, währenddessen die
illegale Siedlungspolitik weitergeführt wird. Religiöse
Fanatiker nehmen zunehmend Einfluss auf die Politik, auf der
Seite der Palästinenser/innen bilden sich solche Kräfte
ebenfalls heraus. Die israelische Regierungspolitik nimmt keine
Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung. Wenn
Siedler und Armeeangehörige schreckliche Verbrechen begehen,
bleibt die Tat in der Regel ungesühnt. Und sie begehen sie.“
*
Eine solche Aussage muss für den
britischen Rabbi Lord Jonathan Sacks und Henryk M. Broder als
fanatische Israel-Unterstützer pure Ketzerei sein, eben übelster
„Antisemitismus“. Beide definieren in ihren Allmende“-Beiträgen
den Antisemitismus als „Seuche“, als „ewige Krankheit“, die
immer wieder ausbricht. Heute tritt er den beiden zufolge als
„Antizionismus“ auf. Broder sieht das so: „Nach Auschwitz kann
es keinen klassischen Antisemitismus mehr geben. Es wäre ein
Bekenntnis zum Holocaust. Der neue Antisemitismus maskiert sich
als Antizionismus. Israel ist der Jude unter den Staaten. Der
Antizionist will nicht, dass Israel seine Politik ändert, er
will, dass Israel von der Landkarte verschwindet. Die wenigen
‚echten Antisemiten’, die es noch gibt, leugnen den letzten
Holocaust, die vielen authentischen Antizionisten, die sich in
Organisationen wie dem BDS betätigen, bereiten die nächste
Endlösung der Judenfrage vor, diesmal im Nahen Osten.“ An
anderer Stelle merkt er an: „Egal wie er [der Antisemitismus]
sich deklariert oder verleugnet, er hat immer ein Ziel: eine
judenfreie Welt.“
Rabbi Sacks argumentiert ganz
ähnlich wie Broder, gibt sich aber großmütig und tolerant:
Kritik an Israel zu üben, auch Juden nicht zu mögen sei kein
Antisemitismus. Der heutige Antisemitismus trete als
„Antizionismus“ auf und bedeute: „den Juden das Recht
abzusprechen, mit den gleichen Rechten wie alle anderen Menschen
als Juden zu existieren.“ Den Antisemiten wirft er folgende
Argumentation vor: „Wir [die Antisemiten] sind unschuldig, sie
[die Juden] sind schuldig. Um frei zu sein, müssen wir sie, die
Juden oder den Staat Israel, zerstören. So beginnen die schweren
Verbrechen.“ Das sind ungeheure Unterstellungen für alle
diejenigen, die Israels Politik aus der Sicht des Völkerrechts
und der Menschenrechte kritisieren. Wer das genau ist – die
Antisemiten und Antizionisten, die die Juden eliminieren und den
Staat Israel zerstören wollen – , sagt der Rabbi im Gegensatz zu
Broder nicht. Aber da Antisemiten dem Rabbi zufolge „davon
überzeugt sind, nicht antisemitisch zu sein“, kann mit diesem
Vorwurf eigentlich jeder konfrontiert werden.
Und gerade die Aktivisten, die
sich für Menschenrechte und Humanität in Israels Politik
gegenüber den Palästinensern und eine friedliche Lösung des
Konflikts einsetzen, sind offenbar die gefährlichsten
Antisemiten. Der Rabbi schreibt: „Heute sind Menschenrechte die
oberste Autoritätsquelle der Welt. Daher wird Israel – die
einzige uneingeschränkt funktionierende Demokratie mit einer
freien Presse und unabhängigen Justiz im Nahen Osten –
regelmäßig einer der fünf Todsünden des Menschenrechts
bezichtigt: Rassismus, Apartheid, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, ethnische Säuberung und versuchter Völkermord.“
Der Rabbi vermeidet es natürlich tunlichst, auf diese Vorwürfe
im Einzelnen einzugehen, dann müsste er ja belegen, dass sie
unberechtigt sind, was er gar nicht kann. Für ihn sind sie aber
ein Beleg für den infamen und verleumderischen Antisemitismus
der Kritiker der israelischen Politik.
Fazit: Broder und Sacks sprechen
die einseitig partikulare Sprache der Zionisten. Ihre Sicht ist
menschenrechts- und völkerrechtsfeindlich und völlig
ahistorisch. Ihr ungeschichtliches Erklärungsmuster des
Palästina-Konflikts verleugnet vollständig, dass der
Machtanspruch des Zionismus in diesem Land überhaupt erst die
Auseinandersetzung mit den Arabern herausgefordert hat. Erst der
zionistische Siedlerkolonialismus in einem arabischen Palästina
und sein gewaltsam durchgesetzter Anspruch, dieses Land zu
besitzen, machen das Wesen und den Kern des Nahost-Konfliktes
aus – mit allen seinen Folgeerscheinungen. Und dazu gehört auch
der Antizionismus, der ja gar nicht die Existenz der Juden oder
des Staates Israel in Abrede stellt, sondern den Zustand beenden
will, dass Israel auf Kosten eines anderen Volkes existiert.
Denn auch die Palästinenser habe ein Recht auf Selbstbestimmung
und politische Souveränität. Da die Aufarbeitung der
Entstehungsgeschichte Israels ein Tabu ist und alles getan wird,
jede rationale Kritik an diesem Staat und seiner Politik a
priori unmöglich zu machen, es gegen Kritik sozusagen zu
immunisieren, werden Kritiker automatisch als Antisemiten
angeprangert. Was auch bedeutet, jede Kritik durch irrationale
Vorhaltungen als illegitim zu erweisen. Dafür sind die
Ausführungen Broders und Sacks gute Beispiele.
Es war oben auf den Gegensatz von
zionistisch-ethnischem Partikularismus und Universalismus
hingewiesen worden, der heute die Krise des Judentums ausmacht.
Deshalb soll der Behauptung des Rabbi Sacks, dass die
Antisemiten auch heute noch den Juden das Recht bestritten, „als
freie und gleichwertige Menschen zu existieren“, und dass der
Antisemitismus in Europa zunehme, eine israelisch-jüdische
Stimme entgegenhalten werden, die universalistisch argumentiert.
Der Literaturwissenschaftler Ran HaCohen schreibt: „Es wird
höchste Zeit laut zu sagen: Im gesamten Verlauf der jüdischen
Geschichte seit dem Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. u.
Z. gab es nie eine Epoche, die mit weniger Antisemitismus
gesegnet war als unsere. Es gab nie eine bessere Zeit, als Jude
zu leben als unsere. Gerade einmal vor zwei Generationen war
Antisemitismus eine legitime politische und kulturelle Haltung
in den meisten führenden Staaten der Welt. Antisemitismus konnte
man offen aussprechen, sogar stolz darauf sein. Juden nicht zu
mögen war so natürlich wie heute der Abscheu vor Kakerlaken.
Heute ist Antisemitismus ein Tabu und gesetzwidrig in jedem
entwickelten Land der Erde. Selbst wirklich antisemitische
Gruppen leugnen ihre antisemitischen Züge, weil sie wissen, dass
das politisch inakzeptabel ist.“
Weiter schreibt Ran Ha Cohen: „Vor
wenigen Generationen – lassen wir den Holocaust zunächst
beiseite – wurden Juden in allen größeren Ansammlungen als
Bürger zweiter Klasse behandelt. Ihnen waren bürgerliche und
religiöse Rechte fast überall verwehrt. Es gab
Zugangsbeschränkungen zu Universitäten und vielen Berufen, zum
öffentlichen Dienst und zu jeglicher Machtstellung. Manchmal
unterlagen sogar Heirat und Zeugung Quoten und Genehmigungen.
Solche institutionalisierte Diskriminierung und Unterdrückung
ist heute nicht nur völlig erloschen, sie ist schlicht
unvorstellbar. (...) Juden genießen völlige religiöse Freiheit
wo auch immer. Sie sind voll gültige Staatsbürger, wo immer sie
leben mit allen politischen, bürgerlichen und humanitären
Rechten wie jeder andere Bürger. (...) Juden haben freien und
unbegrenzten Zugang zu jeder Einrichtung des Landes, in dem sie
leben.“(Ran Ha Cohen: Missbrauch von Antisemitismus, Palästina
Portal 8. 01. 2008)
Sacks spricht auch viel von
„Verantwortung“. Antisemiten sind Menschen, so der Rabbi, die
keine Verantwortung übernehmen wollen und anderen die Schuld
geben. An anderer Stelle sagt er: „Hauptsächlich geht es um die
Unfähigkeit einer Gruppe, Verantwortung für ihre eigenen Fehler
zu übernehmen, und ihre eigene Zukunft aus eigener Anstrengung
zu gestalten.“ Auch hier meint er die Antisemiten,
Antizionisten, Israel-Kritiker und sicher auch die
Palästinenser, denn für ihn ist das ja alles eins. Seiner
Aussage über den Begriff „Verantwortung“ seien zwei Äußerungen
von universalistisch denkenden Juden gegenüber gestellt.
Die erste kommt von Iosef
Bikermann, einem jüdischen Emigranten aus Russland, der in den
dreißiger Jahren ins Exil nach Berlin geflohen war und mit
anderen Emigranten das Buch „Russland und die Juden herausgab“.
Natürlich bezieht sich seine Anmerkung auf die damalige
Situation der Juden in der Stalin-Zeit. Aber da viele Zionisten
in Palästina aus dem russisch-polnischen Raum stammen und dort
auch großen politischen Einfluss bis heute ausübten und ausüben,
weil sie die ashkenasische Führungsschicht stellen, ist die
Aussage dieses Emigranten über „Verantwortung“ immer noch
interessant und kann durchaus auf die israelische Politik von
heute angewandt werden, denn Israel sieht die Schuld für den
Nahost-Konflikt mit den Palästinensern wegen des „ewigen
arabischen Antisemitismus“ ausschließlich bei den Palästinensern
und ist nicht bereit, seinen Anteil an den Ursachen der
Auseinandersetzung kritisch zu hinterfragen.
Bikermann schrieb: „Das Böse, so
glauben Juden, geht immer von anderen aus und richtet sich immer
gegen die Juden: Der Jude ist von Geburt an gut, nur die
schlechte Umgebung und die Unterdrückung hindern ihn daran,
seine guten Eigenschaften zu zeigen. Aus der ewigen
Beschuldigung ziehen sie den Schluss ihrer ewigen eigenen
Unschuld. Die Juden verzichten darauf, mit ihrem eigenen
Verhalten ins Gericht zu gehen. Und vollkommen fehlt ihnen, was
noch schlimmer ist, das Gefühl und das Bewusstsein für die
eigene Verantwortung. Diese Eigenschaften erklären, warum Juden
sich so leichtsinnig in den bolschewistischen Wahn hineinziehen
lassen, warum sie im Rausch der ‚Gleichberechtigung‘ jegliches
Maß verlieren und sich zu Verbrechen verführen lassen.“ (zitiert
nach Sonja Margolina) Sätze, die in ihrer Verallgemeinerung fast
antisemitisch klingen, aber sie stammen von einem sehr politisch
denkenden Juden.
Die jüdisch-deutsche Historikerin
Sonja Margolina, die ebenfalls aus Russland stammt und heute in
Berlin lebt, schreibt in ihrem Buch „Das Ende der Lügen.
Russland und die Juden im 20. Jahrhundert“ (1992): „Das solide
moralische Kapital, das die Juden nach Auschwitz bekommen haben,
scheint erschöpft zu sein. Sowohl für die Juden, die in Israel
leben, aös auch für diejenigen, die sich aus Not für die Juden
bekennen, bedeutet das, dass sie nicht mehr auf der alten Bahn
ihrer Ansprüche an die Welt fortfahren können. Die Welt hat
jetzt auch das Recht, mit den Juden wie mit allen anderen zu
sprechen. Die Zeit ist gekommen, das Ghetto der Gleichgültigkeit
gegenüber der übrigen Welt und gegenüber dem Schicksal anderer
Völker zu verlassen. Die jüdische Sache lässt sich nicht von der
Sache anderer trennen, der Kampf für die Rechte der Juden ist
nicht fortschrittlicher als der Kampf für die Rechte anderer
Völker. Es ist Zeit, den Spiegel zu zerbrechen und sich
umzusehen: Wir sind nicht allein auf der Welt. ‚Weltfremdheit, o
weh!‘ schrieb Hannah Arendt‘, ist immer eine Form der Barbarei.‘
Der Begriff ‚Verantwortung‘ wird zum kategorischen Imperativ der
Gegenwart. Nur die wachsende Verantwortung der solidarischen
Einzelnen gegenüber der Verantwortungslosigkeit der Vielen kann
den mit dem neuen Jahrtausend auf uns zukommenden Problemen
etwas entgegensetzen.“
Die Rolle der Juden in der
Geschichte beurteilt die Historikerin – natürlich mit Blick auf
die Rolle der Juden bei und nach der bolschewistischen
Revolution in Russland, aber auch ganz allgemein und sicher auch
mit Blick auf den Palästina-Konflikt – auch sehr kritisch:
„Natürlich war diese Geschichte wie bei anderen Völkern auch
nicht nur eine der Frommen, sondern auch eine der Schamlosen,
nicht nur eine von Schutzlosen und in den Mord Getriebenen,
sondern auch eine von Bewaffneten und den Tod Bringenden, nicht
nur eine der Verfolgten, sondern auch eine der Verfolgenden. Es
gibt darin Seiten, die man nicht aufschlägt, ohne zu erbeben.
Und es sind Seiten, die systematisch und gezielt aus dem
Bewusstsein der Juden verdrängt worden sind.“ Henryk M. Broder
hat sich ja vor einigen Jahren in ähnlicher Weise – wenn auch in
ganz anderem Zusammenhang und in anderer Absicht – geäußert: „Es
stimmt, Israel ist heute mehr Täter als Opfer. Das ist auch gut
und richtig so, nachdem es die Juden fast
2000 Jahre lang mit der Rolle der ewigen Opfer versucht und
dabei nur schlechte Erfahrungen gemacht haben. Täter haben
meistens eine längere Lebenserwartung als Opfer und es macht
mehr
Spaß, Täter als Opfer zu
sein."(Jüdische Allgemeine, 17. März 2005, S. 3, Freispruch für
Israel; Artikel zum gleichnamigen Buch von Alan Derschowitz)
*
Rafael Seligmann schreibt in
„Allmende“ „Über sein Leben als Musterjude in Deutschland“. Der
Autor ist sicherlich kein zionistischer Fundamentalist. Er hat
mit seiner These völlig Recht, dass immer dann, wenn eine
politische Zeiterscheinung brisant ist, weil ein jüdisches
Thema oder ein mit Israel zusammenhängendes Problem in den
Medien zur Diskussion steht, die „Musterjuden“ ins Gefecht
geschickt werden. Dann müssen Juden wie Henryk M. Broder, Micha
Brumlik, Michel Friedman und Michael Wolffsohn „ran“, um die
jüdische beziehungsweise israelische Position zu erläutern.
Seligmann schreibt: „Die Juden werden als authentische
moralische Quelle ausgestellt. Tatsächlich besitzen sie
lediglich eine Alibi- bzw. eine Propagandafunktion. Sie haben
schreibend und TV-palavernd zu bestätigen, was die Redakteure
und das Publikum gerne sagen oder hören würden, doch sich ob
eines Antisemitismusvorwurfs nicht mehr unter ihrem Namen zu
äußern trauen.“
Dem kann man nur zustimmen.
Merkwürdig ist nur, dass Seligmann hier ausschließlich jüdische
Intellektuelle anführt, die – mit Differenzierungen – die
israelische Position teilen und auch verteidigen, aber jüdische
Autoren, die der israelischen Politik kritisch gegenüber stehen,
überhaupt nicht nennt: etwa Judith und Reiner Bernstein, Alfred
Grosser, Evelyn Hecht-Galinsky, Iris Hefets (von der „Jüdischen
Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten“), Felicia
Langer, Abraham Melzer und Rolf Verleger sowie den in deutscher
Sprache schreibenden Israeli Moshe Zuckermann. Sie sind alles
andere als „Musterjuden“ und deshalb sind sie in den deutschen
Medien (sieht man einmal von dem populären Alfred Grosser ab,
wenn er sich zu Frankreich äußert) so gut wie nicht gegenwärtig.
Da ist die Angst in deutschen Redaktionsstuben doch zu groß.
Seligmann fordert die Deutschen auf, ohne Hemmungen ihre Meinung
zu sagen: Die deutschen „Hintermänner“ und „-frauen sollten
offen zu ihren Standpunkten stehen und die Konsequenzen tragen.
Ansonsten beschädigten sie die Freiheit. Und weiter: „Mehr als
70 Jahre nach Hitler und seinen Nazis hat der Musterjude
ausgedient. Er gehört auf den Misthaufen einer bösen Geschichte.
Gefragt sind stattdessen Offenheit und Ehrlichkeit.“
*
Mirna Funk hat einen weitgehend
autobiographischen Roman mit dem Titel „Winternähe“ geschrieben,
der im sehr renommierten S. Fischer Verlag erschienen ist. Über
seine literarischen Qualitäten lässt sich sicher streiten, aber
die stehen hier nicht zur Debatte. Es geht um die politischen
Aussagen des Buches, vor allem darum, auf welcher Seite des
jüdischen Spektrums und mit welchem moralischen Anspruch –
Partikularismus oder Universalismus – sie sich positioniert.
Dazu macht sie klare Aussagen in ihrem Buch, in etlichen
Zeitungsartikeln und Interviews.
Die Autorin ist 1981 in Ost-Berlin
geboren und dort auch aufgewachsen. Sie hat einen jüdischen
Vater und eine nicht-jüdische Mutter, die sie früh verlässt. Der
Vater setzt sich noch zu DDR-Zeiten nach West-Berlin ab, weshalb
die Großeltern das Kind aufnehmen. So beschreibt sie in dem
Roman ihre Kindheit und Jugend. Ein sicherlich schwieriger und
widersprüchlicher Lebensbeginn, der Identitätsprobleme für ihre
Zukunft vorprogrammiert. So schreibt sie denn in dem Roman über
ihre Hauptperson Lola, mit der sie sicher identisch ist: „Lola
fühlte sich wie ein Oxymoron [Zusammenstellung zweier sich
widersprechende Begriffe in einem Begriff), nicht nur weil sie
deutsche Jüdin war, sondern weil sie Jüdin und Nichtjüdin war.
Meistens hatte Lola ein positives Gefühl zu ihrem
Oxymoron-Dasein. In ihr verband sich die Geschichte der
Deutschen und der Juden, aber auch die Auseinandersetzung mit
dieser Geschichte, in ihr hausten das Vergessen und das Erinnern
gleichermaßen. Etwas, das in der Realität schier unmöglich war,
dem war sie täglich ausgesetzt. Aber wenn sie ein negatives
Gefühl zu ihrem Oxymoron-Dasein hatte, hielt sie es in ihrem
Körper nicht aus, die Spannung, die Gegensätzlichkeit, die Wut
und den Schmerz. Dann wollte Lola aus sich herausspringen oder
eben nur noch eins von beidem sein: Jude oder Nichtjude.“
Der Roman schildert das Suchen
Lolas nach Identität. In Berlin erlebt sie einige in der Tat
schlimme und abschreckende antisemitische Attacken (wenn sie
denn nicht Fiktion sind): So hatten etwa Arbeitskollegen während
einer Betriebsfeier auf ein großes Foto von ihr auf ihre
Oberlippe einen Hitlerbart gemalt und auch im Internet
verbreitet. Lola geht wegen dieses Vorfalls vor Gericht, kommt
aber mit ihrer Klage nicht durch. Es kommt zu anderen
antisemitischen Erlebnissen. Selbst Leute in ihrem Umfeld, die
sich politisch als „links“ oder „grün“ bezeichnen, geben Lola
gegenüber Sätze von sich, die man eher in rechtextremistischen
Kreisen und der NPD vermutet wie: „Was da in Gaza und hinter der
Mauer passiert, ist nicht besser als Auschwitz.“ Oder: „Ich
glaube, dass sechs Millionen tote Juden vielleicht doch ein
bisschen übertrieben sind. (...) Irgendwann muss es doch auch
mal gut sein. Immer wieder diese Leier. Die armen und die bösen
Deutschen. Kommt Ihr Euch selbst nicht ein bisschen bescheuert
vor, immer diese Opferrolle einzunehmen? Mir wäre das
unangenehm. Mir wäre es peinlich, einem ganzen Volk 70 Jahre
Theater zu machen.“ Sätze, die für deutsche Linke oder Grüne
eigentlich sehr untypisch sind. Hat die Autorin hier nicht doch
über das Maß ihre Fantasie bemüht?
Lola sieht nur noch Antisemiten um
sie herum, kündigt sogar ihre Arbeitsstelle, weil sie nicht mit
Antisemiten zusammen arbeiten will und kann. Langsam aber stetig
verfestigt sich bei ihr der Eindruck, dass die Deutschen nichts
dazu gelernt haben, und Antisemitismus im Land der Täter wieder
fröhliche Urstand feiert: „Und weil sich in den letzten zwanzig
Jahren die Zungen gelockert hatten, konnte man endlich laut
hören, was alle leise dachten. Mittlerweile durfte jeder sagen,
was er in den Jahren des aufgezwungenen Schweigens nur bei sich
gedacht hatte. Nämlich: Dass jetzt Schluss sein müsse mit dem
Schweigen, dass den Juden die Banken gehörten, die einem das
Geld wegnehmen, dass die Israelis die neuen Nazis seien und dass
der Holocaust nun wirklich der Vergangenheit angehöre. Diese
Sätze konnte man in den Kommentarspalten auf den Onlineportalen
der großen deutschen Tageszeitungen lesen. Diese Sätze konnte
man offen auf Abendessen hören, ohne dass sich derjenige, der
diese Sätze formulierte, dafür schämen musste.“
Es wäre interessant zu erfahren,
auf welchem Onlineportal einer deutschen Tageszeitung sie
Derartiges gelesen hat. Hier wird die Autorin unglaubwürdig, ihr
Deutschlandbild ist sehr einseitig und fragwürdig. Haben
wirklich alle Deutschen aus der Vergangenheit nichts gelernt?
Deutsche Medien sind eher – wie die deutsche Politik –
philosemitisch und Israel-freundlich ausgerichtet. Die nicht
verarbeitete Schuld und die Angst vor dem Antisemitismusvorwurf
(und ist er auch noch so unberechtigt) sitzen tief. Eine scharfe
und gut fundierte Kritik an der israelischen Politik, orientiert
an Völkerrecht und Menschenrechten, ist eher die Ausnahme –
siehe die Ausführungen von Rafael Seligmann. Aber die Autorin
braucht dieses Feindbild, um sich davon abzusetzen und ihre
innere Wandlung zu rechtfertigen, die das eigentliche Thema des
Buches ist.
Diese Wandlung tritt endgültig
ein, als Lola sich während des Gaza-Krieges 2014 in Tel Aviv
aufhält und sie Raketen der Hamas anfliegen sieht, die aber so
gut wie alle von dem Abwehrsystem „Iron Dome“ abgefangen werden.
Die Bewohner der Stadt flüchten in Unterstände, aber die
Schäden, die die Geschosse aus dem Gazastreifen anrichten, sind
so gut wie nicht der Rede wert. Vor allem aber erschrecken Lola
die Demonstrationen in Deutschland gegen Israels Krieg. Die von
einigen durchgeknallten Jugendlichen herausgebrüllten Parolen
wie „Juden ins Gas!“ sind für Lola sozusagen der letzte Beweis,
dass in Deutschland wieder der Antisemitismus Besitz von den
Köpfen ergriffen hat.
Sie schreibt: „Lolas Vermutung und
auch die Vermutung vieler anderer – , dass sich hinter vielen
israelkritischen Äußerungen Antisemitismus verstecke, schien
sich zu bestätigen. Dieser Krieg ließ sie alle aus ihren Ecken
und Verstecken hervorkommen: Diejenigen, die sich selbst niemals
als Antisemiten bezeichnet hätten, konnten dem Drang, sich eine
entschiedene Meinung zum Konflikt zu bilden, nicht widerstehen.
Waren sie doch meistens völlig unpolitisch, wenn es um all die
anderen Kriegsgebiete in dieser Welt ging, aber Israel bewegte
sie über alle Maßen. Und Israel bewegt sie nicht deshalb, weil
sie sich mit dem Leid der Palästinenser aus rein objektiven
Beweggründen identifizierten, sondern weil ihre tief vergrabene
Wut auf die Juden, die Wut darauf, dass diese Schuldgefühle in
ihnen auslösten, ein Ventil finden konnte. Es war eine Erlösung
für den gemeinen Antisemiten in Europa.“
Diese Unterstellungen machen
sprachlos, weil sie den meisten Deutschen jedes politisch-humane
Engagement bestreitet und zugleich Israels brutalen Überfall auf
ein wehrloses Volk rechtfertigt. Aber Lola ist in den Tagen
dieses Krieges klar geworden, dass der Antisemitismus nicht
einfach nur zurückgekommen ist, sozusagen in der Mitte der
Gesellschaft, sondern dass er nie abwesend war. Und weil das so
ist, spannen die deutschen Medien „linke“ kritische israelische
Journalisten „vor ihren ideologischen Karren“, denn wenn selbst
Juden Israel scharf kritisieren, dürften die Deutschen das
natürlich auch. „Antisemitismus mit jüdischem Schutzschild“
nennt die Autorin das. Diese Juden, die die Besatzung
verurteilten, habe man, schreibt die Autorin, während des
Gaza-Krieges ausfindig gemacht und in die Talkshows und auf die
Bühnen gezerrt. Wenn man Israel schon nicht kritisch sehen
dürfe, dann hole man sich einfach ein paar Juden, die das
erledigten. Das erinnert Lola oder die Autorin daran, wie man in
den KZ’s jüdische Aufseher (Kapos) hatte, und die Juden die
Gräber ausheben mussten.
Abgesehen davon, dass der
Vergleich der kritischen Juden in den deutschen Medien mit den
Kapos in den KZ’s völlig absurd und geschmacklos ist, hat hier
wohl der Realitätsbezug der Autorin völlig ausgesetzt und ist
die Fantasie endgültig mit ihr durchgegangen. Denn es wurden
nirgendwo in deutschen Medien oder Talkshows kritische Juden
gesichtet, die Israels Krieg gegen den Gazastreifen scharf
verurteilt hätten, da hätte der Zentralrat schon früh genug
erfolgreich Einspruch erhoben und das zu verhindern gewusst. (Es
sei nur an einen Vorfall aus der letzten Zeit erinnert: Es gab
in der Tagesschau einen kurzen Bericht, in dem der ausgewiesene
Experte Clemens Messerschmidt erläuterte, wie die israelischen
Besatzer die Palästinenser mit Wasser unterversorgen. Es gab
einen Sturm der Entrüstung auf der Seite der Israel-Verteidiger,
der Bericht wurde sofort als „antisemitisch“ angeprangert. Dabei
hatte Messerschmidt, der als Ingenieur für das Wasserwesen viele
Jahre vor Ort gearbeitet hat und die Verhältnisse bestens kennt,
nur ein paar Wahrheiten ausgesprochen: Weil die jüdischen
Siedler im Wasser schwelgen, gehen die Palästinenser so gut wie
leer aus. Die ARD entschuldigte sich sofort für den Bericht und
kündigte an, dem Thema noch einmal „objektiv“ nachzugehen.)
Am Ende des Buches, das eigentlich
ein Entwicklungsroman ist, kann Lola Bilanz ziehen: Der Krieg
hat sie grundlegend verändert und sie überlegt nun, wie sie mit
dieser Erfahrung ihr zukünftiges Leben gestalten will. Denn für
sie ist nichts mehr so, wie es einmal war. Sie hat ihre Wahl
getroffen, auch wenn sie das so deutlich nicht ausspricht: Sie
ist ein gläubige Zionistin geworden. Im Text, den sie für
„Allmende“ geschrieben hat, spricht sie ihre neue Weltsicht
deutlich aus: Antisemitismus trete heute als Antizionismus und
Israel-Feindlichkeit – gepaart mit Verschwörungstheorien – auf,
die die Täter-Opfer-Achse stabilisieren sollen. Der „neue
Antisemitismus“ sei geprägt von Unwissenheit, dem Wiederholen
aufgenommener Informationen aus den Medien und dem „völligen
Fehlen eigenen Denkens“. Und damit sei der deutsche
Antisemitismus absolut identisch mit dem europäischen.
Die Autorin bekennt in dem
„Allmende“-Text, dass sie so genervt vom Antisemitismus in
Deutschland sei, dass sie nun unter Deutschen die Klappe halte.
Sie sei die Konfrontation mit [mit den antisemitischen
Deutschen, muss man ergänzen] einfach leid, sie sei am Ende, sie
habe vorläufig alle Lesungen, Podiumsdiskussionen, Vorträge und
Interviews abgesagt. „Ich bin fertig mit meinem Scheißroman“,
schreibt sie. Dabei habe sie doch aufklären wollen, die Augen
öffnen, die Menschen zum Hinterfragen bringen. Sie gesteht ihr
Scheitern ein, vermutlich deswegen ist sie inzwischen nach Tel
Aviv verzogen und will dort heiraten.
Man muss sich fragen, in welcher
Welt Mirna Funk lebt und ob sie noch Beziehungen zur Realität
hat. Geht man von der Ausgangsthese aus – die Spaltung des
Judentums in zionistische Partikularisten und jüdische
Universalisten – , dann hat die Autorin sich eindeutig für den
ethnisch-partikularistischen Zionismus entschieden, für den
alles, was gegen seine Interessen verstößt „Antisemitismus“ ist.
Das ist im Grunde die Definition des „neuen Antisemitismus“.
Diese Botschaft wollte die Autorin unter die Leute bringen, aber
kaum jemand hat es ihr abgenommen. Wenn das bedeutet, dass die
Mehrheit der Deutschen inzwischen eher zum Universalismus neigt,
wäre das ja nur zu begrüßen. Es gibt viele Juden, die die
Deutschen in dieser Sicht unterstützen. So hat etwa der
israelische Philosoph Omri Boehm geschrieben, dass Zionismus und
Humanismus unvereinbar seien. In seinem Aufsatz „Das deutsche
Schweigen über Israel und der Preis dafür“ leitet er aus dem
Kantschen Begriff der Aufklärung (der Aufforderung, aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten und sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen) gerade für
die Deutschen die Pflicht ab, nicht zu schweigen und Israels
Politik zu kritisieren. Ja, er hält das für den endgültigen Test
des aufgeklärten Denkens selbst.
Er schreibt: Wenn man sich einem
universalen Humanismus unterstützend verpflichtet fühle, dann
müsse man Israels Verletzungen des Völkerrechts und der
Menschenrechte verurteilen, damit unterstütze man auch die Juden
und Israel. Wenn Deutschland es aber versäume, die Verbrechen
Israels beim Namen zu nennen, werde es seiner Verantwortung
nicht gerecht und würde obendrein den Holocaust als politisch
signifikante Vergangenheit unterminieren. Boehm schließt: „Wenn
aufklärerisches Denken als eine politische Antwort auf
Deutschlands Vergangenheit einen Sinn haben soll, dann muss es
den Mut aufbringen, diese Angst zu überwinden. Zu Israels
Politik zu schweigen, ist der falsche Weg – er ist auch nicht
effektiv, weil er der Geschichte des Holocaust keine
Gerechtigkeit widerfahren lässt.“
Wenn man diese Zeilen von Omri
Boehm liest, hat man den Eindruck, dass Mirna Funk gar nicht
weiß, was Aufklärung bedeutet und dass sie den Begriff eher in
seiner populären Alltagsbedeutung gebraucht. Aber die ist in
diesem Zusammenhang wenig nützlich. Wenn hier schon wieder mit
Omri Boehm ein israelischer Autor zu Wort kam, dann nicht um
einen „Musterjuden“ (Rafael Seligmann) vorzuschicken, sondern
weil es gerade im Judentum so großartige universalistische
Denker und Autoren gibt, die die Dinge exakt auf den Punkt
bringen können. In Deutschland haben lntellektuelle leider kaum
den Mut dazu.
Mirna Funk argumentiert in ihrem
Buch rein zionistisch, auch wenn der Begriff gar nicht vorkommt,
und das heißt auch völlig unhistorisch: Das ist im Zionismus das
bewährte Muster, weil man damit die wirklichen Ursachen des
Nahost-Konfliktes vertuschen kann. Das Ziel dieser Ideologie war
von Anfang an, inmitten eines anderen Volkes einen jüdischen
Staat zu errichten, ohne zuerst die Zustimmung und
Zusammenarbeit dieses Volkes zu erlangen. Aus diesem Vorgehen
ergaben sich die Unterdrückung der Palästinenser und die Gewalt
gegen sie ganz von selbst. Shimon Peres, einer der
Gründungsväter Israels, antwortet in seinen Lebenserinnerungen
auf die Frage, wie die zionistischen Einwanderer mit den
Palästinensern umgegangen seien: „Wir haben sie gar nicht
gesehen, es gab sie für uns gar nicht!“
In den langen Passagen, die Mirna
Funk über den Gaza-Krieg 2014 schreibt, erwähnt sie nicht an
einer einzigen Stelle die Vorgeschichte dieses Krieges, der
nicht die Hamas-Raketen als Ursache hatte, sondern lange vorher
geplant war, wie Ehud Barak später zugegeben hat. Mirna Funk
erwähnt nur die drei israelischen Religionsschüler, die im
Westjordanland ermordet wurden. Aber sie waren nur der Vorwand
für den Angriff, nicht der eigentliche Grund. Wenn die Autorin
schon auf den Krieg eingeht, wo bleiben die Informationen, die
man über Gaza wissen muss: Dass Israel die Hamas als Konkurrenz
zur damals verhassten PLO mit aufgebaut hat; dass die Hamas 2006
freie Wahlen im Westjordanland und im Gazastreifen gewann,
Israel und der Westen das Ergebnis aber nicht anerkannten, die
dann gebildete „Regierung der nationalen Einheit“ gar nicht
regieren konnte, weil der Westen alle Hilfsgelder sperrte; dass
Israel sogar einen Großteil der frei gewählten Abgeordneten
verhaftete, zum Teil sitzen sie heute noch im Gefängnis; dass
Israel zusammen mit der PLO und den USA 2007 die im Gazastreifen
regierende Hamas mit einem militärischen Angriff stürzen wollte,
was aber misslang; dass der Gazastreifen seit 2007 vollständig
von der Außenwelt abgeriegelt ist; dass es nicht nur zwei Kriege
gegen das Gebiet gegeben hat, sondern auch etliche kleinere
Militäraktionen der Israelis, die auf palästinensischer Seite
Hunderte von Toten forderten; dass Israel in Selbstjustiz mit
seinen zielgenauen Raketen alle Hamas-Führer eliminierte, die
ihm unbequem waren. Heute ist der Gazastreifen ein eingezäuntes
Elendsquartier, in dem die Menschen nur noch verzweifelt und
hoffnungslos dahinvegetieren.
Und weiter: Dass die beiden Kriege
2008/09 und 2014 Massaker waren, 2014 gab es 2100 Tote, davon
waren die meisten Zivilisten, 490 Kinder kamen um, 11 000
Menschen wurden verletzt, viele von ihnen werden ihr Leben lang
verkrüppelt bleiben, 540 000 Menschen wurden vertrieben und 120
000 obdachlos; außerdem wurden zehntausende von Häusern zerstört
und so gut wie die ganze Infrastruktur. Auf israelischer Seite
kamen 64 Soldaten ums Leben und 3 bzw. – je nach Quelle – 7
Zivilisten. (Angaben der Heinrich-Böll-Stiftung vom 2. 10. 2014
und Zeitonline 20. 8. 2014) Dass Israel dabei furchtbare Waffen
einsetzte, die zum Teil verboten und geächtet sind: weißen
Phosphor, Dime, Flechettes-Munition,
Mini-Würfel-Schrappnell-Geschosse. (Man schaue im Internet nach,
was diese Waffen bewirken oder lese es in Jeff Halpers Buch „Ein
Israeli in Palästina“ (S. 226f) nach.
Halper schreibt auch, dass ein
wichtiger Grund für Israels Invasionen (nicht nur in Gaza)
Feldversuche mit neuen Waffen und -strategien am lebenden Objekt
– eben den Palästinensern – seien. Von diesen Versuchen
profitiere Israels Sicherheitspolitik und Rüstungsindustrie
gleichermaßen (S. 225). Israel kann dann beim Export seiner
Waffen sagen, sie seien im Krieg getestet und erprobt worden.
Der israelische Filmemacher Yotam Feldman hat über diese Thema
eine Dokumentation („Das Labor“) erstellt, in der Militärs
diesen Sachverhalt bestätigen.
Man könnte das Sündenregister des
Zionismus erweitern und bis zur Nakba 1948 zurückgehen: die
Vertreibung von 750 000 Palästinenser zusammen mit der
Zerstörung von elf Städten und 500 Dörfern. Von dem weiß Mirna
Funk nichts oder sie will es nicht wissen. Sie hat keinerlei
Empathie für die Menschen auf der „anderen Seite“. Sie
existieren für sie offenbar gar nicht, wie auch Shimon Peres
geschrieben hat. Dass Israels Politik ein einziger Bruch des
Völkerrechts und der Menschenrechte ist, erwähnt sie nicht. Die
beiden Begriffe kennt sie nur im Zusammenhang mit ihrem
Antisemitismus-Vorwurf: Wer sich darauf beruft, ist
offensichtlich ein Antisemit. Sie kann während des Krieges ruhig
in ihrem Liegestuhl am Strand von Tel Aviv liegen, während der
weiße Phosphor auf Gaza regnet und die Menschen dort keine
Fluchtmöglichkeit haben.
Die Demonstrationen in Deutschland
gegen den Überfall Israels auf den Gazastreifen 2014 haben sie
in der Überzeugung bestärkt, dass Deutschland ein durch und
durch antisemitisches Land sei. Nicht zuletzt deshalb ist sie
nach Israel ausgewandert, wie sie schreibt. Man kann diese
Demonstrationen, bei denen es vielleicht einige unschöne
Ausfälle gegeben hat, aber auch ganz anders beurteilen: als
berechtigte Kritik an einem Massaker, das eine übermächtige
Militärmacht mit den modernsten verfügbaren Waffen an einem im
Grunde wehrlosen Volk begangen hat, das weder über eine Armee
noch über irgendwelche Waffen verfügt. Die Raketen der Hamas
sind selbst gebastelte Sprengkörper, die vielleicht eine
verheerende psychologische Wirkung haben mögen, Zerstörungs- und
Vernichtungskraft haben sie nicht. Es hat unter der israelischen
Zivilbevölkerung – siehe die Zahlen oben – so gut wie keine
Opfer gegeben. Israels Kriege im Gazastreifen 2008/09 und 2014
waren in vieler Hinsicht Kriegsverbrechen (siehe den
UNO-Bericht) – und deswegen waren die Proteste in Deutschland
politisch-moralisch gar nicht zu beanstanden. Es sei aber
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch die Raketenangriffe
der Hamas ein Kriegsverbrechen sind, wenn sie auf zivile Ziele
gerichtet sind. Nur ist die Dimension des Verbrechens verglichen
mit den israelischen Übermacht eine ganz andere.
Mirna Funk schreibt in
hysterischer Übertreibung über die Demonstrationen gegen den
Gaza-Krieg: „Seit die Bodentruppen in Gaza einmarschiert waren,
schrie der Durchschnittsdeutsche laut: Genozid. Das Wort Genozid
fand sich in jedem Post. Israel begehe Völkermord. Kindermörder
Israel. Die Juden seien längst wie Hitler. Haben die denn nichts
aus ihrer eigenen Vergangenheit gelernt, wurde gefragt. Siebzig
Jahre hatten die Deutschen darauf gewartet, den Juden endlich
einmal einen Völkermord vorwerfen zu können. Ejakulat, wohin man
sah.“
Mirna Funk irrt, wenn sie meint,
dass der Genozid-Vorwurf nur von vermeintlichen deutschen
Antisemiten kommt. Ob Israel einen Genozid an den Palästinensern
begeht, wird im Zusammenhang mit dem Siedlerkolonialismus in der
internationalen Wissenschaft intensiv diskutiert. (Siehe Petra
Wild: Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der
zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013,
S.183f, 204f) Und auch unter den Juden in den USA ist der
Genozid ein Thema. So antwortete der Schriftsteller Ben
Ehrenreich, der Autor von „The Way to the Spring“, im Februar
2017 bei einer Veranstaltung in New York auf die Frage, ob es in
Israel/Palästina einen Genozid gebe, mit einem eindeutigen „ja“
Er sagte: „Die Frage zum Genozid – ja, es ist ein zunehmender
Genozid. Ich meine, das ist ein Wort, das vielen Leuten zu
denken gibt, und das sollte es auch. Wir sehen nicht den
massenhaften Mord, obwohl ich denke, dass wir in Gaza etwas ganz
Ähnliches gesehen haben, etwas, das wir normalerweise mit
Genozid assoziieren. Aber – die Versuche ein Volk auszulöschen,
sie richtig auszulöschen, ihre Geschichte auszulöschen, können
wenn ich logisch denke, nur als Genozid bezeichnet werden.“
Weiter sagte er: „Ich meine,
ständig sagt jemand – zum Beispiel in den Internetmedien – ‚So
etwas wie einen Palästinenser gibt es nicht‘ oder ‚Es gab dort
niemanden, als die Zionisten kamen‘ – das sind genozidale
Statements, das sind Versuche, eine Kultur auszulöschen, eine
Geschichte auszulöschen, ein Volk zu dezimieren, und ich denke,
diese Statements sollten als solche erkannt werden. (...) Israel
ist eine siedlerkolonialistische Gesellschaft, und das Eine, das
alle siedlerkolonialistischen Gesellschaften gemeinsam haben,
ist, dass sie einer genozidalen Logik folgen. Die, in der wir
jetzt gerade leben: Jeder einzelne von ihnen – Südafrika,
Kanada, die USA, Australien und Israel: Überall, wohin die
Siedler kamen und das Land zu ihrem erklärten und alles taten,
was sie konnten, um entweder die Menschen zu entfernen, die noch
dort waren, oder deren Geschichte auszulöschen, dass sie
behaupten können, es hätte sie dort nie gegeben.“ Ehrenreich
fügte hinzu, dass es ihm als Juden mit dem Hintergrund des
Holocaust extrem schmerzlich sei, das Wort Genozid zu benutzen.
Wörtlich sagte er dann: „Es ist noch schmerzlicher, diese
Realitäten zu sehen, und diese historische Ironie ist brutal.“
Die Wirklichkeit der
Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg in Deutschland sah ganz
anders aus. Der einen Seite – den Verteidigern und Unterstützern
Israels – kamen der Krieg und die Proteste offenbar gar nicht so
ungelegen, konnte man nun doch wieder eine große Kampagne in den
Medien starten mit der immer wiederholten warnenden
Feststellung, der Antisemitismus sei wieder auf dem Vormarsch
und nehme beängstigende Ausmaße an. In Wirklichkeit hatte diese
Kampagne vor allem die Funktion, von Israel grausamer
Kriegsführung abzulenken. Natürlich nimmt in Zeiten wenn Israel
seine Nachbarn mit Krieg überzieht, die Kritik an diesem Staat
zu, nur hat das mit wirklichem Antisemitismus in den meisten
Fällen gar nichts zu tun. Wenn in den sechziger Jahren
Hunderttausende auf die Straße gingen und gegen den
Vietnam-Krieg der USA protestierten, war das Motiv auch nicht
Anti-Amerikanismus. Es könnte ja auch sein, dass sehr viele
Deutsche aus den Verbrechen der Nazis ihre Folgerungen gezogen
haben und sagen: Die beste Lehre aus dem Holocaust ist, für
Menschenrechte und Völkerrecht einzutreten, wo immer es nötig
ist – auch oder gerade dann, wenn der Kriegführende Israel ist.
Wie sehr diese Demonstrationen
politisch instrumentalisiert wurden, belegt die journalistische
Kommentierung etwa in Bremen. Am 23. 07. 2014 protestierten dort
zwischen 6 000 und 7 000 Menschen gegen Israels Krieg – darunter
auch viele Muslime. Es gab keinerlei Zwischenfälle bei dieser
Großdemonstration und der anschließenden Kundgebung. Die
Einsatzleitung der Polizei hat sich ausdrücklich bei den
Organisatoren für die gute Zusammenarbeit und den friedlichen
Ablauf bedankt.
Ganz im Stil der BILD-Zeitung, die
einen Tag vor der Demonstration in ihrer Bremer Ausgabe eine
„Hass-Demo“ angekündigt hatte, behauptete der
Radio-Bremen-Journalist Jochen Grabler in einem Kommentar vor
der Demonstration in Bremen, dass die Veranstalter hier
„zündelten“. Er schildert dann Zustände, wie sie im „Dritten
Reich“ bei der sogenannten „Kristallnacht“ 1938 von den Nazis in
Szene gesetzt wurden. Weitere Zitate aus dem Kommentar: „Um es
mal auf den Punkt zu bringen: Wenn sich jetzt Andersdenkende
nicht vor die Tür wagen, wenn – was Allah, der Christengott und
Jahwe am besten gemeinsam verhüten mögen – Bremer Juden auf
offener Straße angegriffen und gejagt werden, wenn Geschäfte
gestürmt werden, weil irgendwer behauptet, sie seien in
jüdischer Hand, wenn der Holocaust geleugnet, Fahnen des
Heiligen Krieges hoch gehalten werden, Hitler gepriesen, die
Juden ins Gas gewünscht, wenn Hakenkreuze in Davidsternen
vorgezeigt werden, dann wissen wir heute schon, wer diese
Giftspritze angesetzt hat: Frau Krafft-Schöning und ihre
Friedensfreunde.“ (Die Journalistin Beate Krafft-Schöning war
eine der Organisatoren/innen der Demonstration.)
Weiter heißte es in dem Kommentar
von Jochen Grabler: „Immer vorneweg: Testosteron gepeitschte
junge Männer, verhetzt, aus jeder Pore dampfend vor Hass. Aber
selbstredend demonstrieren sie nur für Frieden und
Gerechtigkeit. Denn stets kommen die Aufrufe zu solchen
Demonstrationen mit dem gleichen naiv-doofen Augenaufschlag
daher. Wie jetzt in dem Bremer Aufruf: ‚Die Veranstalter sind
ausdrücklich daran interessiert, dass Menschen aller
Nationalitäten und Religionen an dieser Demonstration für den
Frieden teilnehmen.‘“ Nach einer grundsätzlichen Rechtfertigung
des Demonstrationsrechts heißt es weiter: „Aber wenn nun der
Krieg um Gaza so in unsere Städte getragen wird, dass sich
Menschen anderer Meinung nicht mehr an die Öffentlichkeit wagen,
und dass Angehörige einer Religion um Leib und Leben fürchten
müssen, dann ist die Grenze der Meinungs- und
Demonstrationsfreiheit weit überschritten. Weil die
Menschenwürde unantastbar ist. Das sind die hohen, höchsten
Güter, mit denen auch die Bremer Friedensfreunde gerade spielen.
Sie zündeln in vollem Bewusstsein. Dafür gibt es keine
mildernden Umstände.“ Eine Beschwerde über diesen üblen und
unverantwortlichen Hetzartikel beim Rundfunkrat des Senders
hatte keinen Erfolg. Die Begründung lautete: Der Kommentar läge
im Bereich des journalistisch Zulässigen und Erlaubten. Jochen
Grabler war einmal Wahlkampfleiter der Grünen in der Hansestadt
und ist heute Leiter der Recherche-Redaktion des Senders.
Ähnliche Panik schürte der
israelische Botschafter in Deutschland, Yakov Hadas Handelsman.
Er verstieg sich zu der Äußerung, in den Straßen Berlins seien
Juden verfolgt worden wie 1938. Wenn es so weiter gehe, fürchte
er, dass unschuldiges Blut vergossen werde. (FAZnet
20.07.2014) Besonnene Köpfe reagierten denn auch viel
zurückhaltender auf die Demonstrationen. Der renommierte
Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz meinte: „Ich sehe
überhaupt keine neue Qualität. Ich würde auch gern die Wortwahl
‚antisemitische Ausschreitungen‘ hinterfragen. Es haben sich zum
Teil seltsame Leute zusammen gerottet. Einige haben blödsinnige
Parolen gerufen. Das wird von Interessenten mit großem Widerhall
als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt. Ich
beobachte die Szene seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren wird damit
Politik und Stimmung gemacht.“ Benz sieht die größere Gefahr
heute viel mehr in der Feindschaft gegenüber Muslimen. Die
Islamophobie arbeite mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern
und Stereotypen wie der Antisemitismus. Gemeinsam sei diesen
Vorurteilen die Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen
der Ausgrenzung: „Das Feindbild der Juden wird heute durch das
Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder geht es um die Ausgrenzung
einer Minderheit. Es ist höchste Zeit, die
Diskriminierungsmechanismen zu verstehen und schließlich zu
verhindern.“
Und der frühere israelische
Botschafter in Deutschland Avi Primor hatte sich schon vorher
zum sogenannten „neuen Antisemitismus“ geäußert: „Es besteht
überhaupt kein Konsens darüber, was Antisemitismus eigentlich
ist. Antisemitismus genau beschreiben, das konnte ich noch nie.
Ich konnte nur sagen, wer kein Antisemit ist. Das ist mir klar.
Wenn jemand mit einem Juden eine schlechte Erfahrung gemacht hat
und danach nichts verallgemeinert, ist er kein Antisemit. Aber
natürlich kann man mit Juden auch schlechte Erfahrungen machen.
Unter Juden gibt es genauso schlechte Leute wie in anderen
Völkern. Infolgedessen bin ich auch kein begeisterter Freund von
Philosemiten, die meinen, dass Juden besser als andere sind. Sie
sind weder besser noch schlechter, sie sind genau wie die
anderen.“ Primor warnt davor, aus dem Antisemitismus eine
Alltagsangelegenheit zu machen, [was wohl heißt: eine
Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs], weil man ihn dann
nicht mehr bekämpfen könne. Die Gefahr eines „neuen
Antisemitismus“ schätzt er eher gering ein: „Der Antisemitismus
schrumpft regelmäßig seit dem Zweiten Weltkrieg. Er schrumpft
überall, in Deutschland wie anderswo, genauso wie in Amerika.
(...) Das bedeutet, nicht dass es keinen Antisemitismus gibt.
Natürlich gibt es Antisemitismus. Es gibt den religiösen
Antisemitismus, es gibt rassistischen Antisemitismus, es gibt
Neonazis und Nazis. Das gibt es alles. Aber das wächst nicht. Im
Gegenteil: Es geht ständig zurück.“ Avi Primor sagte auch: „Der
Hass auf Israel nimmt nicht zu, sondern die Sympathien für
Israel nehmen ab.
Für das immer wieder gerade auch
von jüdischer Seite sowie in Studien und Umfragen gebrauchte
Argument, dass der Antisemitismus zunehme, macht Primor eine
erhöhte Sensibilität für das Problem verantwortlich: „Weil die
Leute eben dem [Thema] gegenüber sehr empfindlich geworden sind.
Erstens berichten die Medien über jeden Fall des Antisemitismus
wie nie zuvor. Infolgedessen ist man sich dessen schon sehr
bewusst geworden. Außerdem: Weil die Leute eben keine
Antisemiten sind, sind sie gegenüber Antisemiten sensibel
geworden und wollen es immer wahrnehmen. Je eher also der
Antisemitismus schrumpft desto eher meinen die Leute, dass er
wächst.“
Die Anschläge in Paris wurden auch
sofort als neue Belege für anwachsenden Antisemitismus
interpretiert und entsprechend instrumentalisiert. Es sei hier
nur die Antwort eines Israeli zitiert, die in ihrer Sachlichkeit
viel für sich hat: „All diese Gewalttaten [in Paris und
Kopenhagen] wurden von jungen Muslimen begangen, die meistens
arabischer Abstammung sind. Sie waren und sind ein Teil des
fortwährenden Krieges zwischen Israel und den Arabern. Das hat
nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie haben nichts mit dem
Pogrom in Kishinew [1903] und nichts mit den Weisen von Zion zu
tun.“ Er sieht den Grund für die Gewaltbereitschaft junger
Muslime im Hass auf ihre Gastländer, weil sie sich dort
verachtet, gedemütigt und diskriminiert fühlen. Mangelndes
Selbstbewusstsein und soziale Frustration macht auch Wolfgang
Benz als Motive des Unmuts junger Muslime in Europa aus.
Mirna Funk hat ihre Folgerungen
aus dem Gaza-Krieg 2014 und den Reaktionen darauf in Deutschland
gezogen, hat sich für den partikularistisch-zionistischen Weg
entschieden und ist nach Israel eingewandert. Das ist ihr gutes
Recht, auch wenn ihre Motive mehr als irrational sind. Es sei
hier eine Jüdin zitiert, die Historikerin Esther Benbassa, die
an der Sorbonne in Paris jüdische Geschichte lehrt. Sie leitet
für sich universalistische Schlussfolgerungen aus Israels
Politik ab. Sie bezieht sich mit ihrer Aussage zwar auf den Gaza
Krieg 2008/09, wird durch den neuen Waffengang 2014 in ihrer
Ansicht aber eher bestärkt worden sein. Sie schreibt in ihrem
Buch „Jude-Sein nach Gaza“: „Mit dieser Offensive geschah etwas
Neues. Es wurde eine Scheidelinie überschritten zwischen dem,
was ein Jude mit seinem geschichtlichen Hintergrund zulassen
kann und dem, was er zurückweisen muss, wenn er möchte, dass
sein Jude-Sein eine von Humanität und somit Universalität
geprägte Vision der Welt bleibt.“
Diese Sätze sind ein ethischer
Aufschrei für Menschlichkeit, der auch die „Anderen“ sieht und
mit einbezieht. Ohne die Einbeziehung des oder der „Anderen“
kann es keine Humanität geben. Ihr Buch ist ein wunderbarer
Beleg für jüdisch-universalistische Denken, das sich nicht wie
die Ausführungen Mirna Funks im Kreis drehen, um dann da
anzukommen, wo Esther Benbassa genau die Unmenschlichkeit sieht.
*
Dirk Laucke ist ein junger
deutscher Autor, der die Ehre hat, in der Literaturzeitschrift
„Allmende“ seine Sicht der Dinge im Zusammenhang mit dem „neuen
Antisemitismus“ darzulegen. Der Titel seines Aufsatzes klingt
etwas nebulös: „Gräben der Freude. Pöbelei“, wie seine Sprache
sich überhaupt in ständigen feuilletonistischen Kapriolen und
Pirouetten überschlägt. In der Sache ist er aber ein knallharter
Vertreter des zionistischen Partikularismus, die besagt: Die
Ursache des Nahost-Konflikts ist – wie oben schon ausgeführt –
der arabische oder islamische Antisemitismus, der in der
Nachfolge des europäischen Antisemitismus (gerade auch des
nationalsozialistischen) steht und genozidalen Charakter hat.
Dieser moderne Antisemitismus („neuer Antisemitismus“) richtet
sich nicht mehr gegen individuelle Juden, sondern gegen das
jüdische Kollektiv Israel. Mit dieser Position steht Laucke den
„Antideutschen“ sehr nahe.
Laucke wartet mit einer ganzen
Reihe von in der Tat erschreckenden und abstoßenden Äußerungen
arabischer Politiker auf, die als eindeutig antisemitisch zu
werten sind. So will er seine Hauptthese belegen, dass die
arabische bzw. palästinensische Feindschaft gegenüber Israel
allein auf Antisemitismus zurückzuführen ist. Jeden Zusammenhang
dieser Feindschaft mit dem Charakter, den Zielen und Taten des
Zionismus – etwa die Entstehungsgeschichte des Staates Israel,
seine mit Gewalt ausgeübte Vormachtstellung in der Region und
das seit 50 Jahren betriebene brutale Okkupationsregime –
erwähnt er mit keinem Wort. Seine Methode ist schon deshalb sehr
fragwürdig, weil man auf seine Zitatensammlung mit ebenso
erschreckenden und abstoßenden Äußerungen israelischer Politiker
oder Militärs antworten kann. Hier nur fünf Beispiele aus einer
großen Auswahl: Die gegenwärtige israelische Justizministerin
Ajelet Schacked machte sich auf ihrer Webseite einen Satz eines
israelischen Journalisten zu eigen: dass man die
[palästinensischen] Mütter der Märtyrer töten und ihren Söhnen
nachfolgen lassen solle, sonst würden sie „weitere kleine
Schlangen produzieren“. (Quelle: Wikipedia) Also ein klare
Aufforderung, palästinensische Mütter umzubringen.
Der israelische Ministerpräsident
Menachem Begin pflegte Palästinenser „Tiere auf zwei Beinen“ zu
nennen (New Statesman 25. 6. 1982) und Yassir Arafat bezeichnete
er als „zweibeiniges Raubtier“.(Abraham Burg: Hitler besiegen,
S.72) Yitzhak Shamir, ebenfalls israelischer Regierungschef,
sagte öffentlich: „Die Palästinenser sollen wie Heuschrecken
zermalmt, (...) ihre Köpfe an Felsen und Mauern zerdrückt
werden.“ (New York Times 3. 4. 1988) Der frühere Generalstabchef
der israelischen Armee Raphael Eitan bekannte: „Wenn wir mit dem
Land fertig sind, werden alle Araber in dieser Hinsicht nur noch
in der Lage sein, wie Schaben auf Drogen in einer Flasche
herumzuwursteln.“ (Yediot Ahronot, 13. 4. 1983; New York Times
14. 4.1983) Der gegenwärtige israelische Außenminister Avigdor
Lieberman sagte, als im Jahr 2003 palästinensische Gefangene
freigelassen werden sollten, es sei besser, die Gefangenen im
Toten Meer zu ertränken, wofür er als damaliger
Transportminister Busse zur Verfügung stellen würde.
(Tagesspiegel Berlin 2.9.2011; ZNET 26.3. 2009) Die Liste
solcher Aussagen lässt sich beliebig verlängern. Diese
Äußerungen sind genauso unmenschlich und rassistisch wie die von
Laucke angeführten von Arabern.
Diese Methode gibt also nichts
her. Sie ist genauso unergiebig wie die enthistorisierte,
geschichtslose Methode der zionistischen Geschichtsbetrachtung,
die direkt oder indirekt fast alle „Allmende“-Autoren verwenden
und die besagt: hier die „guten“ Israelis, dort die „bösen“
Araber. Vertreter dieser Auffassung wie auch der oben
aufgeführte Rabbi Sacks sind überzeugt, dass Israel die Macht
für die Guten schlechthin ist. Politisch folgt daraus, dass man
die bedingungslose Anerkennung des Status quo im Nahen Osten
verlangt, ohne nach der Vorgeschichte des heutigen Zustandes zu
fragen, sie wird aus gutem Grund vollständig ausgeblendet. Auf
diese Weise soll jede Kritik an Israels Politik a priori
unmöglich gemacht werden. Wer die wahre Geschichte Israels und
des Zionismus aufgreift, wird als „Antisemit“ angeprangert. In
dieser Tradition steht auch Laucke.
Der deutsch-israelische Historiker
Dan Diner hat schon 1983 in einem Aufsatz, darauf hingewiesen,
wie fragwürdig die israelische Sicht auf die eigenen Geschichte
ist. Die Inbesitznahme Palästinas und die Unterdrückung seiner
Bevölkerung bis heute durch die Zionisten ist – so Diner – ein
klassischer kolonialistischer Akt, eben Siedlerkolonialismus.
Das offizielle Israel stellt den Konflikt aber als Fortsetzung
der Verfolgungsgeschichte der Juden dar – also im Zusammenhang
mit dem Antisemitismus und dem Holocaust. Damit werde das
wirkliche Geschehen in Palästina aber völlig verleugnet, die
Täter würden zum Opfer gemacht und umgekehrt.
Entgegenzuhalten ist
Israel-Verteidigern wie Laucke, dass es eine radikale Judophobie
(Rassenantisemitismus) im Gegensatz zu Europa im Nahen Osten
früher nicht gegeben hat, die Erscheinung ist dort relativ neu.
Der Arabist Alexander Flores, auf dessen Aussagen ich mich im
Folgenden stütze, geht davon aus, dass die Entstehung eines
modernen Antisemitismus in der arabischen Welt angemessen nur
verstanden werden kann als Transfer entsprechender Ideen aus
Europa – und zwar im Kontext des Umbruchs der arabischen Welt
zur Moderne unter europäischer Dominanz (bei dem die Araber
durch ihre Rückständigkeit als „looser“) erscheinen, sowie im
Zusammenhang der Inbesitznahme Palästinas durch die Zionisten.
Auch Flores sieht den Zionismus
als Kolonisierungsbewegung, der sich den imperialen Interessen
europäischer Mächte (später der USA) verbunden habe. Ohne deren
Protektion hätte das zionistische Projekt – also die Umwandlung
Palästinas in einen jüdischen Staat – nie realisiert werden
können. Was aber auch heißt, es wurde auf Kosten der
Palästinenser verwirklicht. Die heftige Feindschaft der
Palästinenser gegen den Staat Israel und seine Politik lasse
sich vor allem aus dem immensen Schaden erklären, der den
Palästinensern aus dem zionistischen Projekt und der Politik
Israels entstanden sei. Flores schreibt. „Die Feindschaft ist an
sich nicht antisemitisch. Sie wird es erst, wenn sie als
Feindschaft gegen Juden ‚als Juden‘ artikuliert wird oder wenn
Israel bzw. israelische Politiker, Institutionen oder Aktionen
so dargestellt werden, dass sie dem Klischee ‚des‘ Juden
entsprechen.“
Die arabischen Nachbarstaaten
Palästinas herum hätten mit den Juden während der britischen
Mandatszeit (1922 – 1948) eher friedlich und ungestört zusammen
gelebt. Erst im Gefolge der Staatsgründung Israels, des ersten
arabischen-israelischen Krieges (1948/49) und der damit
einhergehenden palästinensischen Katastrophe (Nakba) hätte sich
in der arabischen Welt eine scharf antiisraelische und oft auch
antisemitische Haltung verbreitet, schreibt Flores. Durch den
Krieg 1967, der weiteren Landraub und weitere Vertreibungen
durch die Israelis brachte, wurde dieser Hass sicherlich noch
verstärkt.
Flores führt folgende Gründe an,
warum die Feindschaft der Araber gegenüber Israel oft
antisemitische Formen annahm: 1. Die Größe und Intensität des
Schadens, die der Zionismus und die Staatsgründung Israels den
Palästinensern zugefügt hat. 2. Die Foertdauer des Denkens in
kommunitären Kategorien („die Juden“) bei der Beschreibung der
Entwicklungen. Dadurch sei in den arabischen Gemeinschaften die
Differenzierung vernachlässigt worden. 3. Der immer wieder mit
Nachdruck vorgetragene Anspruch der Zionisten bzw. der
israelischen Führung, für alle Juden weltweit zu sprechen und zu
handeln. Juden, die andere Positionen vertraten, wurden
marginalisiert. Das hat dazu geführt, dass der Unterschied
zwischen Zionismus und Judentum in einem gr0ßen Teil der
öffentlichen Wahrnehmung verschwommen ist.
Flores führt 4. an: Die Art und
Weise, wie das zionistische Projekt in die Weltpolitik
eingeordnet war und ist. Israel hat es immer wieder verstanden,
sich als Vorposten der führenden Weltmächte in der
Auseinandersetzung mit seinen Gegnern darzustellen und hat damit
auch deren Unterstützung gewonnen. Der Rückhalt der Weltmächte
[besonders des Westens] erscheint stabil. Noch die schreiendsten
Kriegsverbrechen und Menschrechtsverletzungen kann Israel sich
leisten, ohne dass man ihm in den Arm fällt. Diese enorme
Erfolgsstory können sich viele Palästinenser und Araber nur als
eine große Verschwörung vorstellen, in der (siehe Punkt 3) Juden
in der ganzen Welt eine große Rolle spielen. Flores folgert aus
diesen Kriterien: „Alle diese Punkte führen dazu, dass der
Unterschied zwischen Zionismus und Judentum in den Augen vieler
Araber verwischt wird und ihre heftige Feindschaft gegen Israel
in Antisemitismus umschlägt. In diesem Prozess werden alle
möglichen Quellen herangezogen, um die so entstandene
Judenfeindschaft zu bebildern, vor allem eine ganze Reihe von
Versatzstücken aus dem Antisemitismus europäischer Provenienz.“
Die Ausführungen des Literaten
Dirk Laucke, sich bei seinem Antisemitismus-Vorwurf nur auf ein
paar Zitate von bösen Arabern zu stützen, greifen viel zu kurz
und tragen wenig bis nichts zum Verständnis der Problematik bei.
Rafael Seligmann fordert in seinem „Allmende“-Aufsatz ja gerade
die Deutschen auf, offen zu ihren Standpunkten zu stehen.
Deshalb sei es hier klar ausgesprochen: Das, was die angeführten
„Allmende“-Autoren (außer Esther Dischereit und Rafael Seligmann
selbst) „neuen Antisemitismus“ nennen, ist lediglich alter Wein
in neuen Schläuchen. Der „neue Antisemitismus“ ist nicht die
neue Erscheinungsform einer „ewigen Seuche“, sondern vom
universalistischen Standpunkt aus gesehen eine Abwehrstrategie
gegen jede kritische Auseinandersetzung mit der israelischen
Politik. Dass die eigentliche Zielscheibe des „neuen
Antisemitismus“ gerade die Universalisten sind, die sich für
Menschenrechte und Völkerrecht einsetzen (also ganz
offensichtlich aus den Schrecken der Vergangenheit gelernt
haben), ist nicht nur eine Ironie der Geschichte, es ist
abartig, weil hier alle moralisch-ethischen Kriterien auf den
Kopf gestellt werden. Das nicht zuletzt deshalb, weil
ausgerechnet der moralisch so in die Defensive geratene
Zionismus – und in Deutschland die Enkelkinder der Täter (etwa
in Gestalt der „Antideutschen“) – bestimmen wollen, was heute
Antisemitismus ist und wer ein Antisemit ist. Wenn man einen
ehrlichen und aufrichtigen Diskurs führen will, kommt man nicht
umhin, die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel bzw.
Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel fein
säuberlich auseinanderzuhalten. Wenn man sie in eins setzt,
läuft das auf falsche Schlussfolgerungen und eine
interessengeleitete Manipulation hinaus (Moshe Zuckermann) und
genau das ist dann die Beschwörung eines „neuen Antisemitismus“.
Ein Argument muss man denen, die
den Vorwurf des „neuen Antisemitismus“ erheben, unbedingt
entgegenhalten: Wenn man irgendwo auf der Welt Juden das antun
würde, was Israel in der Vergangenheit den Palästinensern
angetan hat und täglich noch antut, könnte man nur von
allerschlimmsten Antisemitismus sprechen.
*
Bei diesen Gedanken über Juden,
Israel und Palästinenser muss ich an Erlebnis denken, das mich
sehr bewegt, ja schockiert hat. Ich bin vor einigen Jahren von
Frankfurt nach Buenos Aires geflogen. Während des Fluges kam ich
mit meinem Nachbarn ins Gespräch, einem israelischen Architekten
aus Jerusalem. Er wollte in Uruguay von ihm gestaltete
Bauprojekte besuchen. Wir hatten ein sehr angeregtes und
interessantes Gespräch, das uns die Flugzeit verkürzte. Er
stammte aus einer deutschen Familie und sprach deshalb sehr gut
Deutsch. In Rio de Janeiro kamen wir in der Nacht an. Wir
mussten dort in dasselbe Flugzeug umsteigen, das ihn nach
Montevideo und mich nach Buenos Aires bringen sollte. Wir hatten
vier oder fünf Stunden Aufenthalt und setzten uns deshalb
zusammen in eine Longue.
Plötzlich tauchte dort eine Gruppe
von orthodoxen Juden auf – mit Locken, Kippa, Gebetsriemen und
Überhang. Sie gingen direkt auf ein Fenster zu, von dem aus sie
den Sonnenaufgang sehen konnten, um dort ihr Gebet zu
verrichten. Als der israelische Architekt die Gruppe sah, war er
nicht mehr zu halten, er explodierte regelrecht und schrie die
Vorbeigehenden an: „Diese Lumpen, dieses Dreckpack, dieses
Gesindel, diese widerlichen Schmarotzer! Für die muss ich
arbeiten und Steuern bezahlen, damit sie sich ein faules Leben
machen und beten können!“ Ich rutschte in meinem Sessel
zusammen, machte mich ganz klein und wäre vor Scham am liebsten
im Erdboden versunken, so geschockt war ich. Nach diesem
Wutausbruch wandte sich der Architekt sehr freundlich mir wieder
zu, und wir setzten unser Gespräch fort, als sei nichts gewesen.
Auf den Vorfall ging er nicht weiter ein. Es fällt mir heute
noch schwer, diesen Eklat richtig zu verstehen und einzuordnen.
Handelte es sich da um Antisemitismus, einen Fall von „jüdischem
Selbsthass“ oder um einen ganz „normalen“ Streit unter Juden.
Ich bin da völlig ratlos. Vielleicht wissen Mirna Funk oder
Rabbi Sacks eine Antwort darauf.
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Sacks, Rabbi Lord Jonathan: Das
mutierende Virus: Antisemitismus verstehen; Rede – gehalten am
27. 9. 2016 im Europäischen Parlament in Brüssel anlässlich der
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Weiss, Philipp: Israels
Bemühungen, die palästinensische Geschichte auszulöschen,
spiegle einen wachsenden Genozid wider, sagt Ehrenreich,
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Zuckermann, Moshe: Deutsche
Befindlichkeiten. Wie ein vorgebliche Antisemitismusbekämpfung
zur ideologischen Farce gerät, Junge Welt, 10. 02. 2017
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