Die deutsch-israelischen Beziehungen waren von Anfang an auf einer Lebenslüge aufgebaut. Die drückende Schuld, die die NS-Vergangenheit mit dem maßlosen Verbrechen des Holocaust bei den Deutschen zur Folge hatte, suchte nach seelischer Entlastung. Man meinte dies erreichen zu können, indem die politische Elite sich nach 1945 umgehend zum Philosemitismus bekannte. Die Sühne für den Holocaust glaubte sie dadurch leisten zu können, dass sie sich vorbehaltlos hinter den jungen Staat Israel stellte, wobei sie diesen Staat ausschließlich als Staat der Überlebenden ansah und die Tatsache, dass er ein kolonialistischer Siedlerstaat war, dessen Existenz auf der gewaltsamen Unterwerfung eines anderen Volkes beruhte, geflissentlich übersah.
Die deutsche Politik seit Konrad Adenauer unterstützte den zionistischen Siedlerstaat politisch, materiell und auch mit Waffen und schwieg zu den Verbrechen, die das Regime an den Palästinensern beging. Man machte sich also zum Komplizen eines anachronistischen siedlerkolonialistischen Staates – des letzten kolonialistischen Staates, den es auf der Welt noch gibt. Die Verleugnung der Realität ging sogar so weit, dass man immer wieder die „gemeinsamen Werte“ betonte, die es angesichts der Realitäten in Israel/Palästina gar nicht geben kann.
Dazu kam, dass die deutsche Politik die zionistische Version der Geschichte des Nahost-Konfliktes übernommen hat, ohne zu sehen, dass es sich um Mythen handelt, die das zionistische Vorgehen dort in äußerst positivem Licht erscheinen lassen und die legitimen Ansprüche der Palästinenser abwerten und delegitimieren. Diese völlige Identifizierung mit der zionistischen Sicht der Geschichte hat verhindert, dass Deutschland sich in sinnvoller, das heißt realistischer Weise in den Konflikt einbringen konnte.
Die Widersprüche und Ungereimtheiten im deutsch-israelischen Verhältnis lagen also von Anfang an offen zu Tage, wurden aber unter den Teppich gekehrt und zwangen im Umgang miteinander zu einer großen gegenseitigen Unaufrichtigkeit, denn mit der bedingungslosen Unterstützung dieses Staates, der nach Ansicht führender globaler Menschenrechtsgruppen (Amnesty International, Human Rights Watch, Betselem und andere) und auch israelischer Intellektueller ein Apartheidstaat ist, trägt die deutsche Politik die brutale völkerrechtswidrige Unterdrückung der Palästinenser mit.
Eine solche Politik steht auch in diametralen Gegensatz zu der eigentlich aus dem Holocaust sich ergebenden Verpflichtung: der Durchsetzung und dem Einhalten der Menschenrechte und des Völkerrechts absoluten Vorrang einzuräumen. Das Dilemma, in das die deutsche Politik gegenüber Israel geführt hat, ist also ganz offensichtlich. Um aber jede Kritik an dieser zur Ideologie geronnenen Politik (Stichworte: gemeinsame Werte, Israels Sicherheit als deutsche Staaträson, Verschweigen der Verbrechen an den Palästinensern) abzuwehren, wird von deutscher und israelischer Seite die schärfste Waffe eingesetzt: der Antisemitismus-Vorwurf. Ein ganzer Apparat von Beamten und öffentlich Bediensteten (Antisemitismusbeauftragte) wacht über die Einhaltung des deutschen „Israel-Katechismus“. Den Begriff hat der australisch-amerikanische Historiker Dirk A. Moses geprägt.
Nun war der Zionismus nie eine auf Frieden und Ausgleich bedachte Ideologie. Sein Ziel war immer ein rein jüdischer – also ethnisch homogener - Staat auf dem gesamten Territorium Palästinas. Um dieses Ziel zu erreichen war und ist jedes Mittel recht. Die Geschichte des Zionismus in Palästina war und ist eine einzige Geschichte der Gewalt. Man denke an die Niederschlagung des Aufstandes der Palästinenser 1936 – 1939 durch zionistische Milizen zusammen mit britischen Truppen, die Nakba 1948 mit der Vertreibung der Hälfte des palästinensischen Volkes (800 000 Menschen), die Enteignung des palästinensischen Besitzes und Eigentums nach der Nakba, die Vertreibung von 300 000 Palästinensern im Krieg von 1967 sowie die brutale Niederschlagung der beiden Intifadas.
Dazu kommt die Siedlungspolitik, die nur durch massiven Landraub möglich war. Sie machte die Gründung eines palästinensischen Staates unmöglich und entzog und entzieht diesem Volk damit immer mehr die Existenzgrundlage. Vergessen dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht die furchtbaren israelischen Angriffe auf den völlig von der Außenwelt abgeriegelten Gazastreifen, die in gar keinem Verhältnis zur Gewalt der dort Eingeschlossenen stehen. Israels Attacken haben diese kleine völlig übervölkerte Region, die überwiegend aus von Israel vertriebenen Flüchtlingen besteht, zu einem Elendsghetto gemacht, von dem die UNO schon vor Jahren voraussagte, dass es in Kürze unbewohnbar sein werde.
Der Zionismus war also immer eine auf Gewalt beruhende Ideologie und ihre Umsetzung in der Realität beruhte dementsprechend auch auf Gewalt. Diese Seite wollte die deutsche Politik in ihrer von Schuld und Sühne bestimmten Intentionen den Juden gegenüber aber nie sehen. Die Prämissen ihrer Politik konnte die deutsche Seite auch nur behaupten, weil sie nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel unterscheidet, also zwischen einer ethnischen Kultur im weitesten Sinne, einer politischen Ideologie und einem Staat, der keineswegs nur aus Juden besteht, denn im Kernland sind 20 Prozent der Bevölkerung Palästinenser. Nimmt man die besetzten Gebiete hinzu, dann ist der demographische Gleichstand bereits erreicht, bzw. haben die Palästinenser bereits die demographische Mehrheit.
Das gewollte Ergebnis der zionistischen Politik war: Sie hat den Palästinensern das Land gewaltsam fortgenommen, besser gesagt: geraubt, den größten Teil der eingeborenen Bevölkerung 1948 und 1967 vertrieben, das Land mit Immigranten besiedelt, die restlichen Einheimischen werden heute als Fremde eingestuft. Nach dem Nationalstaatsgesetz von 2019 sind die Palästinenser Menschen zweiter oder dritter Klasse, nur Juden haben in Israel das Selbstbestimmungsrecht. Das ist die Realität. Jede andere Darstellung umgeht die Ursachen des Nahost-Konflikts, enthistorisiert ihn, greift also zu ungeschichtlichen Erklärungsmustern und manipuliert so die öffentliche Meinung. Mit dieser Kritik ist die Haltung aller deutschen Bundesregierungen angesprochen und auch die der deutschen Leit- und Mainstreammedien.
Nun hat sich die Situation in Israel beträchtlich radikalisiert. Eine supernationalistische und ultraorthodoxe Regierung ist an die Macht gekommen. Sie stellt aber keineswegs ein völlig neues Element in der israelischen Politik dar, sondern ist nur die konsequente Weiterentwicklung der bisherigen Entwicklung. Der israelische Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe Zuckermann hat 2014 (also von neun Jahren!) in seinem Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt prognostiziert, was jetzt eingetreten ist. Er schrieb damals: Israel steht vor einer historischen Entscheidung – der Lösung des Konflikts mit den Palästinensern durch die Errichtung eines souveränen Staates an der Seite Israels oder der Lösung des Konflikts durch die Errichtung eines binationalen Staates, eines Staates also, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt und gemeinsam leben können. Für Zuckermann gibt es keine andere strukturelle Möglichkeit außerhalb dieser beiden Grundpositionen.
Denn die Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung bedeutet durch die Einbeziehung der besetzten Gebiete in das israelische Staatsgebiet die objektive (graduelle) Entstehung einer binationalen Struktur, die, wenn sie von beiden Seiten akzeptiert würde, in einen binationalen Staat münden würde. Da Israel diese Option nicht zulassen wird, ist ein Zustand vorauszusehen, in dem die Juden in Israel/Palästina eine Minderheit sein werden. Israel würde dann ein Apartheidstaat im vollen Sinne des Wortes werden. Der Zionismus würde durch die Verweigerung der Zwei-Staaten-Lösung das Ende seines eigenen Projekts herbeiführen. Zuckermann sieht in diesem Fall zwei Möglichkeiten: einen nicht-zionistischen Neubeginn mit einem emanzipatorischen Horizont oder den „langen Weg einer ruchlosen, faschistisch-repressiven Degeneration.“
Zuckermann liegt mit seiner Analyse offensichtlich völlig richtig. Nichts deutet auf einen Neubeginn mit emanzipatorischem Horizont hin, der Weg einer Entwicklung in Richtung eines supernationalistischen und ultrareligiösen Faschismus zeichnet sich aber bereits ab. Zahlreiche Israelis stimmen dieser Prognose inzwischen zu. Der israelische Schriftsteller David Grossman spricht von einer, „tiefen verhängnisvollen Veränderung unserer Identität und des Wesens des Staates.“ Das Chaos sei da, mit all seiner Sogkraft, ebenso der innere Hass und die gegenseitige Abscheu wie auch die grausame Gewalt.
Der israelische Journalist Gideon Levy von der Tageszeitung Haaretz weist darauf hin, dass die Politik der neuen ultrarechten Regierung nur die Fortsetzung der bisherigen Politik ist: „Plötzlich fürchten alle um die Demokratie in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter einer militärischen Tyrannei lebt, die zu den grausamsten der Welt gehört. Plötzlich macht sich jeder Sorgen um die Zukunft des Justizsystems in einem Land, in dem dieses System fast jedes Kriegsverbrechen und jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit legitimiert und sich offen über das Völkerrecht hinwegsetzt. Plötzlich regt sich jeder über die mögliche Entkriminalisierung von Betrug und Untreue auf, in einem Land, in dem das Verbrechen des Mordes fast vollständig abgeschafft wurde, sofern der Mörder ein Soldat oder ein Siedler und das Opfer ein Palästinenser ist.“
Levy sieht im Siedlungsbau die Wurzel des israelischen Apartheidregimes und lehnt es ab, Israel eine Demokratie zu nennen, weil es in dem Land immer (mit Ausnahme einiger Monate vor dem Sechs-Tage-Krieg) eine Militärherrschaft über die Palästinenser gab und gibt. Die israelische Soziologin Eva Illouz spricht in einem Interview mit dem Spiegel von einem „regime change“ in Israel und vergleicht die Radikalen, die jetzt im Land die Macht haben, mit dem faschistischen Ku-Klux-Klan in den USA. Sie richtet in dem Interview auch klare Worte an die Deutschen, die immer noch vom Holocaust traumatisiert auf Israel schauten und gar nicht verstehen wollten oder könnten, was in Israel vor sich gehe: „Man kann einen souveränen, militärisch starken Staat nicht behandeln, als wäre er ein geschundenes Volk. Aber viele Deutsche können das nicht unterscheiden. Ein moralisch wie analytischer Fehler“, sagt sie.
Wegen ihrer Holocaust-Traumatisierung könnten die Deutschen zudem nicht unterscheiden, wann ein Land [wie Israel] Beistand brauche und wann es zur Ordnung gerufen werden müsse. Und im Zusammenhang mit der hysterischen Antisemitismus-Debatte in Deutschland merkt sie an: „Der deutsche Umgang mit Israel und dem Judentum hat etwas Quasireligiöses. Eine Art Büßerritual? Um rein zu sein, muss man offenbar auf der Seite der Juden stehen, immer.“ Ein solches Verhalten bringe aber weder den Juden noch Israel etwas. Deutschlands Israel-Freunde könnten nur eins tun, wenn sie diesem Staat helfen wollten: für ein Ende der Besatzung sorgen.
In der Ampelkoalition in Berlin gilt aber wie in allen vorherigen deutschen Regierungen das Prinzip Realitätsverleugnung, also wie der Strauß den Kopf in den Sand stecken. Der letzte Beleg dafür war der Besuch des neuen israelischen Außenministers Eli Cohen in Berlin Anfang des Monats. Außenministerin Annalena Baerbock bewies bei dieser Gelegenheit, wie heuchlerisch und verlogen ihr außenpolitischer Ansatz einer „menschenrechtsorientierten Außenpolitik“ ist. Die grüne Ministerin, die ja behauptet, „vom Völkerrecht her zu kommen“, hat an Israels permanenten Verstößen gegen dieses Recht nichts einzuwenden. Sie spulte weiter die üblichen Phrasen zum deutsch-israelischen Verhältnis ab: die einzigartigen Beziehungen wegen des Holocaust, die Verbundenheit durch die gemeinsamen Werte (!) sowie die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson.
Israel sei, so Baerbock, wie kein anderes Land vom Terror bedroht. Über die Ursachen des Terrors im Besatzungsstaat Israel hat die Ministerin offenbar noch nicht nachgedacht. Sorge bereitet ihr auch die von der neuen israelischen Regierung geplante Justizreform und die Absicht, die Todesstrafe einzuführen. Dass es die Todesstrafe in Form von Liquidierungen von Palästinensern dort längst gibt und die Täter – Soldaten, Polizisten oder Siedler – nie bestraft werden, ist der Ministerin offenbar auch entgangen.
Obwohl alle Welt inzwischen weiß, dass die Zwei-Staaten-Lösung durch die israelische Siedlungspolitik endgültig passé ist, hält die Außenministerin unverbrüchlich daran fest. Als der israelische Außenminister ankündigte, „gegen des Iran zu handeln“, damit er nicht in den Besitz von Atomwaffen käme, erhob die Völkerrechtlerin Baerbock keinen Einspruch. Denn die Aussage des israelischen Ministers bedeutet ja ganz eindeutig, dass sein Land bereit ist, den Iran militärisch anzugreifen. Ein völkerrechtswidriges Verbrechen, das man Putin mit dem Überfall auf die Ukraine mit Recht vorwirft, das Israel aber ganz offensichtlich erlaubt sein soll. Da die israelische Sicherheit ja deutsche Staatsräson ist, wirft das die Frage auf, wie Deutschland sich in diesem Fall verhält. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte vor einem solchen Szenario eindringlich gewarnt, Deutschland in solche Abenteuer zu verwickeln. Baerbock hat damit wohl kein Problem.
Lange wird die deutsche Politik dieses Kopf-in-den Sand-Stecken gegenüber Israel nicht mehr durchhalten. Die sich überschlagenden Ereignisse im zionistischen Staat (gerade hat der Sicherheitsminister Smotrich das „Ausradieren“ der palästinensischen Stadt Hawara gefordert) werden die deutschen Politik sehr bald zu klaren Positionen zwingen. Realitätsverlust würde dann bitter betraft. Die Lebenslüge der deutschen Israel-Politik wird also nicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Es muss Tacheles mit diesem Staat geredet und Druck auf ihn ausgeübt werden. Was auch bedeutet, dass der Holocaust nicht mehr für Alles und Jedes - auch für die Rechtfertigung von Besatzung und Unterdrückung – instrumentalisiert werden darf, denn sein Vermächtnis ist klar und eindeutig: die Menschenrechte und das Völkerrecht ohne Einschränkung und ohne Rücksicht auf Israel zu wahren und durchzusetzen.
2.03.2023