Die inszenierte Hysterie
Die erregte Debatte in Deutschland über angeblich zunehmenden
Antisemitismus belegt, wie wenig die Deutschen ihre
Vergangenheit aufgearbeitet haben und wie tabuisiert und
unehrlich das Verhältnis zu Israel ist
Arn Strohmeyer
Deutschland hat politisch offenbar nur noch ein wirklich
wichtiges Problem: Antisemitismus. Da reichen ein paar unschöne,
aber doch eher marginale Vorfälle aus, dass Politik und Medien
gemeinsam eine Stimmung erzeugen, als hätten schwere Pogrome
stattgefunden und als bestehe die Gefahr eines neuen Holocaust.
Um dieses aufgeheizte Klima zu verstehen, muss man einen Begriff
aus der Psychologie heranziehen, den der Hysterie. Er bezeichnet
in der Umgangssprache eine übertriebene krankhafte
Aufgeregtheit, die dazu führt, dass man die Realität nicht mehr
wahrnehmen kann. Realitätsverlust, das ist die eigentliche
Gefahr, der Politik und Medien hierzulande unterliegen, und das
ist eine höchst bedenkliche Entwicklung.
Was in Deutschland (und auch in einigen anderen Ländern Europas)
geschieht, ist: dass der Nahost-Konflikt – genau gesagt der
Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern – auch auf
deutschem Boden ausgetragen wird. Und das hat wenig oder nichts
mit einer neuen Welle von Antisemitismus zu tun, wie sie etwa
die Nazis nach ihrer Machtübernahme 1933 in Gang gesetzt haben.
Das Phänomen ist ja nicht neu, auch Türken und Kurden und andere
Volksgruppen haben hierzulande schon Gewalt gegeneinander
angewendet. Auf Grund der furchtbaren NS-Verbrechen ist das
deutsche Verhältnis zu Juden beziehungsweise Israel
verständlicherweise aber besonders sensibel, ja brisant, sodass
in diesem Fall ganz andere Maßstäbe angelegt werden.
Aber die Krux ist, dass diese Maßstäbe ganz offensichtlich nicht
viel mit der politischen und historischen Realität zu tun haben,
sondern inhaltlich ganz anders ausgelegt werden, was dann zu den
oben angeführten hysterischen Reaktionen führt. Ein
Teufelskreis, aus dem die deutsche Politik und die meisten
Medien nicht herauskommen. Und so dreht man sich immer um sich
selbst herum, ohne dem angestrebten und immer wieder laut
verkündeten Ziel einer erfolgreichen Bekämpfung des
Antisemitismus auch nur einen Schritt näherzukommen. Denn da
müsste man ein paar Wahrheiten anerkennen, was aber auf Grund
der zum Dogma verfestigten deutschen Position in dieser
Problematik, die vollständig von Tabus und Verdrängung geprägt
ist, gar nicht möglich ist.
Zunächst einmal muss geklärt werden, was Antisemitismus ist und
was er nicht ist, denn mit falschen Definitionen wird schon viel
Missbrauch zum Zweck politischer Instrumentalisierung getrieben.
Es gab den christlich-religiösen Antisemitismus, der den Juden
vorwarf, Jesus getötet zu haben. Aus ihm ging der
pseudowissenschaftliche „rassisch“ orientierte Antisemitismus
hervor, der den Juden unterstellte, dass sie aufgrund einer
bestimmten DNA unabänderliche negative Eigenschaften besäßen.
Dies war etwa die Definition der NS-Ideologie. Nach der Gründung
des Staates Israel kam ein „neuer“ Antisemitismus-Begriff auf.
Da dieser Staat mit nicht sehr koscheren Mitteln zustande kam
und auch danach nur mit Gewaltmitteln aufrechterhalten und
ausgeweitet werden konnte, wurde nun als „Antisemit“ bezeichnet,
wer es wagte, die Politik dieses Staates zu kritisieren. Der
jüdische Autor Hajo G. Meyer (ein Auschwitz-Überlebender)
brachte das auf die kurze Formel: „Früher war ein Antisemit
jemand, der Juden nicht mochte, heute ist ein Antisemit jemand,
den bestimmte Juden nicht mögen“, eben weil er die Politik
Israels kritisiert.
Man kann sich aber nicht mit der israelischen Politik
auseinandersetzen, ohne auf die Ideologie dieses Staates
einzugehen, denn sie bestimmt sein politisches Vorgehen. Der
Zionismus ist definitorisch vom Judentum zu trennen. Während
letzteres nicht nur eine Religion, sondern eine kulturelle oder
Identitätsgemeinschaft im weitesten Sinne ist, ist der Zionismus
eine nationale (man kann auch sagen nationalistische) säkulare
Ideologie, deren Ziel es war und ist, auf dem Boden Palästinas
einen homogenen, also ethnisch „reinen“ jüdischen Nationalstaat
zu etablieren – möglichst ohne Palästinenser.
Diese wichtige Unterscheidung zwischen Judentum und Zionismus
nicht zu treffen, muss zu verhängnisvollen politischen
Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen, was in der
deutschen Politik und den Mainstream-Medien auch der Fall ist.
Denn damit erfährt der Antisemitismus-Begriff einen einseitigen
Bedeutungswandel, er meint so gesehen nur noch Kritik an Israels
äußerst inhumaner Politik gegenüber den Palästinensern. Er ist
deshalb so infam, weil an diesem Vorwurf das Gift von Auschwitz
klebt, und diese Anschuldigung kann heute existenzbedrohend
sein. Hajo G- Meyer bemerkt dazu: „Diese neue Machtposition
bedeutet so eine radikale Änderung, ja, in gewissem Maße eine
Umkehrung des traditionellen Begriffes ‚Antisemitismus‘“.
Dazu kommt ein anderes Faktum, das das Gesagte noch
unterstreicht. Die zionistische Ideologie sieht die Ursache des
Konflikts mit den Palästinensern nicht in den eigenen
siedlerkolonialistischen Verbrechen an diesem Volk – Landraub,
Vertreibung, Enteignung, Zerstörung ihrer Gesellschaft,
Besatzung, Unterdrückung usw. – , sondern vermischt den
Holocaust mit der Palästina-Frage. Die Schuldigen an dem
Konflikt sind nach zionistischer Auffassung die Palästinenser,
die als „antisemitische“ Angreifer und als die „neuen Nazis“
dämonisiert werden, die die Juden vernichten und „ins Meer
treiben wollen“. Damit wird die nahöstliche Wirklichkeit aber
völlig auf den Kopf gestellt, weil diese offizielle israelische
Position auf diese Weise die kolonialen Ursprünge und
Verlaufsformen der Gewalt leugnet und den territorialen Konflikt
um Palästina als Fortsetzung der Verfolgungsgeschichte der Juden
deutet, obwohl die Palästinenser mit den Verbrechen der Nazis
gar nichts zu tun hatten. Diese Argumentation hat für die
Israelis aber den Vorteil, dass sie jeder Auseinandersetzung mit
der eigenen Schuld aus dem Weg gehen können.
Obwohl diese zionistische Position weder historisch noch
moralisch aufrechtzuerhalten ist, haben die deutsche Politik und
die Mainstream-Medien sie sich nicht nur zu eigen gemacht,
sondern ganz offensichtlich aus dem deutschen Schuldgefühl
gegenüber Juden heraus zutiefst verinnerlicht und sich damit
identifiziert, was wohl als der Hauptgrund für das höchst
unaufrichtige, um nicht zusagen neurotische Verhältnis zu Juden
und Israel angesehen werden muss. Der deutsche Völkerrechtler
Norman Paech bezeichnet die Beziehungen zu Israel denn auch als
„vollkommen verkrampft, erzwungen und verlogen – sie sind
geradezu von mafiotischer Struktur.“ Er fährt fort: „Wie anders
kann man die Beziehungen werten, in denen der eine Partner mit
dem Stiefel auf dem Nacken eines Volkes dessen Vertreibung aus
der Heimat betreibt, ohne sich um die einfachsten Regeln des
Völkerrechts zu kümmern – und der andere Staat ihm die Hand
reicht und die angerichteten Schäden zu beheben versucht? Das
sind keine normalen Beziehungen, die sich allein aus den
Verbrechen der Vergangenheit rechtfertigen lassen. Sie nehmen
die wachsende Kriminalität der [israelischen] Staatsführung und
ihre Isolierung in der Staatenwelt in Kauf. Normal werden diese
Beziehungen erst dann, wenn es Frieden mit dem palästinensischen
Volk gibt, indem es ungehindert und ohne Lebensgefahr auf dem
Landweg, aus der Luft und über See erreicht werden kann. Doch
wird dies nach all den Jahrzehnten des Scheiterns nur mit dem
Druck der Staaten und eines von der Zivilgesellschaft
unterstützen Boykotts möglich sein.“
Man kommt nicht umhin, die deutsch-israelische Problematik auf
die Formel zu bringen: Die Deutschen (oder zumindest ein sehr
großer Teil von ihnen) hat immer noch nicht in einer
angemessenen rationalen Weise die Schuld für die Verbrechen des
Nationalsozialismus aufgearbeitet und versucht nun mit einem
übertriebenen und überspannten Philosemitismus Sühne zu tun und
sich von der Last der Schuld zu befreien, indem es Israel
bedingungslos unterstützt, einen Staat, der sich selbst
schwerster Verbrechen gegen das Völkerrecht und die
Menschenrechte schuldig gemacht hat und immer noch macht.
Dieses monströse Unrecht sieht die deutsche Politik aber gar
nicht, will es nicht sehen, verleugnet und verdrängt es und
schafft sich so ein ideales Wunschbild von diesem Staat, mit dem
man sich in einer „Wertegemeinschaft“ wähnt. Wer dieses
Lügengebäude der Unaufrichtigkeit kritisiert, wird eben als
„Antisemit“ diffamiert. Das ist die deutsche Realität in dieser
Hinsicht. Es ist der common sense, an dem keine Partei zu rühren
wagt. Und eine mächtige Lobby steht bereit, die permanenten
Druck ausübt, dass dies auch so bleibt.
Wenn die deutsche Politik immer wieder betont, dem Völkerrecht
und den Menschenrechten verpflichtet zu sein, so drückt sie in
Bezug auf Israel und seine Politik gegenüber den Palästinensern
ganz fest beide Augen zu. (Es gibt natürlich noch andere
Beispiele, die belegen, dass dieser Anspruch nur bloße Rhetorik
ist.) Die Frage ist aber, wie die zionistische Bewegung selbst,
deren Ziel ursprünglich die Befreiung und Emanzipation der Juden
war, sich so entwickeln konnte, dass Israel heute ein brutaler
Besatzungsstaat ist, der sich auf dem besten Wege befindet, ein
diktatorischer Apartheidstaat zu werden.
Man muss ein wenig in die Geschichte zurückgehen, um diesen
Entwicklungsprozess zu verstehen. In der Geschichte des
Judentums gab es immer die beiden gegensätzlichen Tendenzen
zwischen einer stammesmäßigen Abschottung beziehungsweise
Isolierung (Partikularismus) und weltoffenem humanistischen
Universalismus. Im Alten Testament heißt es: Die Juden sind das
Volk, das abseits der anderen Völker lebt. Universalistische
Auffassungen lassen sich vor allem bei den Propheten finden. Der
Universalismus gewann mit dem Aufkommen der Aufklärung an
Bedeutung, zu der sich das intellektuelle Judentum fast
ausnahmslos bekannte.
Der Holocaust und die Gründung des Staates Israel rückten aber
die partikularen Interessen und Anforderungen in den
Vordergrund, die durch die sich sehr stark abgrenzende Ideologie
des Zionismus noch verstärkt wurden. Der französische Historiker
Pierre Birnbaum merkte zu dieser Entwicklung bedauernd an: „Eine
lange Geschichte kommt wahrscheinlich zu ihrem Ende: die des
Zusammentreffens der Juden mit einer streng universalistisch
verstandenen Aufklärung.“
An dem Konflikt mit den Palästinensern und damit an der Frage
der Menschenrechte wird diese ideologische Spaltung zwischen
ethnischer, israelisch-jüdischer Abschottung auf der einen Seite
und universalistischem Humanismus auf der anderen Seite
besonders deutlich. Sie ist so radikal, dass der
britisch-jüdische Philosoph Brian Klug meint, dass sie auf ein
Entweder-Oder hinauslaufe. Er spricht von einer Krise im
Judentum, bei der sich Israel als der Fels herausstellen könne,
an dem das Judentum zerbrechen könne.
Wie sehr sich die Situation in Israel in dieser Hinsicht
zugespitzt hat, machen Äußerungen der Justizministern Ayelet
Shaked deutlich, die öffentlich bekennt, dass der Zionismus
(also die Politik dieses Staates) nichts mit Völkerrecht und
Menschenrechten zu tun habe, der Zionismus habe seine eigenen
Gesetze und seine eigene Moral. Außerdem war auf ihrer Webseite
die Aufforderung zu lesen, palästinensische Mütter zu töten und
ihre Häuser zu zerstören, weil sie darin „kleine Schlangen“
(soll heißen palästinensische „Terroristen“) großzögen. Wenn
Menschenrechtsaktivisten, Universalisten und Linke in Israel
inzwischen als „Verräter“ denunziert werden, sagt das viel über
den Zustand dieser angeblich „einzigen Demokratie im Nahen
Osten“ aus.
Die israelische Soziologin Eva Illouz von der Universität
Jerusalem schreibt über diese besorgniserregende Entwicklung:
„Wenn jemand, dem die Menschenrechte wichtig sind, damit zum
Verräter an Israel und den Juden wird (wie es dieser Tage in
Israel und den weltweiten jüdischen Gemeinden so häufig zu hören
ist), würde dies den moralischen Bankrott des organisierten
Judentums und Israels bedeuten. Die Menschenrechte sind der
Mindeststandard, an dem jede Innenpolitik und jede
internationale Politik gemessen werden muss – ohne Wenn und
Aber. Die Tatsache, dass viele Israelis und Nichtisraelis, die
die Menschenrechte in Israel verteidigen, regelmäßig verleumdet
und geächtet werden, spricht dafür, dass sich sowohl die
jüdischen Diasporagemeinschaften als auch Israel von
internationalen Moralnormen abwenden, gerade weil diese Normen
an und für sich universalistisch sind.“
Das Paradoxe ist, dass Israel trotz seiner gewaltigen
militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit und trotz
seiner eklatanten Verstöße gegen Völkerrecht und Menschenrechte
immer noch behauptet, selbst das Opfer zu sein, was auf
paranoide Züge in der israelischen Seelenlage schließen lässt.
Darauf weisen auch viele israelische Autoren hin. So
charakterisiert Moshe Zuckermann den Staat Israel als schwankend
zwischen einem vor „selbstgewisser Arroganz der Stärke
strotzendem Militarismus bei gleichzeitig zelebrierter
Kollektivparanoia und larmoyanter Selbstviktimierung [sich
selbst zum Opfer erklären].“ Eva Illouz spricht angesichts der
israelischen Haltung, die Welt sauber in Gute und Böse
aufzuteilen, von einer „paranoiden Denkweise, deren einziges
Ziel es ist, Feinde auszumachen und sie zu vernichten.“
Alternativen oder Kompromisse lasse ein solches Denken nicht zu.
Vermutlich ist das der Grund, warum der Palästina-Konflikt
unlösbar ist.
Und Abraham Burg fragt mit besorgtem Blick auf die Zukunft
Israels: „Wir nähern uns mit schnellen Schritten einem
Scheideweg, an dem wir entscheiden müssen, wer wir sind und
welche Richtung wir einschlagen. Gehen wir in die Vergangenheit,
an der wir uns immer orientiert haben, oder entscheiden wir uns
zum ersten Mal seit Generationen für die Zukunft? Entscheiden
wir uns für eine bessere Welt, deren Basis Hoffnung, nicht ein
Trauma, Vertrauen in die Menschheit, nicht misstrauischer
Isolationismus und Paranoia sind?“
Der paranoiden Seelenlage der Israelis entspricht auf deutscher
Seite die der Hysterie, also die übertriebene und krankhafte
Aufgeregtheit in Bezug auf alles, was Israel betrifft.
Realitätsverleugnung ist die notwendige Folge. So wenig der
deutsche common sense das reale Israel wahrnimmt und weiter die
„gemeinsamen Werte“ hervorhebt, um sich das ideale Wunschbild
von diesem Staat zu bewahren, so sehr weigert er sich auch, die
Realität „Antisemitismus“ differenziert zur Kenntnis zu nehmen.
Natürlich gibt es noch unbelehrbare Vertreter des „klassischen“
Antisemitismus, Umfragen haben es immer wieder belegt.
Es gibt aber auch den politisch und ideologisch manipulierten
Antisemitismus-Vorwurf, der allein die Funktion hat, jede Kritik
von der israelischen Politik abzuwenden. Dieser Vorwurf ist
besonders infam, weil er sich vor allem gegen die Vertreter des
Universalismus – also des Völkerrechts, der Menschenrechte und
des Humanismus richtet – als „Antisemiten“ denunziert und ihnen
damit das Gift von Auschwitz anhängt. Was aber angesichts der
oben geschilderten Haltung, die der zionistische Staat zum
Völkerrecht und den Menschenrechten einnimmt, auch nicht
verwundert.
Und es gibt angeblich einen neuen „muslimischen Antisemitismus“,
den vor allem die Flüchtlinge mitgebracht haben sollen. Er ist,
um es klar zu sagen, ein Produkt der Verdrängung in deutschen
Politikerköpfen. Denn die weigern sich schlicht und einfach zur
Kenntnis zu nehmen, dass der Zionismus (übrigens mit starker
westlicher Hilfe, auch der Deutschlands) mit all seinen
Verheerungen, die er im Nahen Osten angerichtet hat, erst den
Konflikt geschaffen hat, der nun schon seit Jahrzehnten besteht
und immer wieder furchtbare Eruptionen hervorbringt. Oder anders
gesagt: Die zionistischen Ansprüche auf ein arabisches Palästina
und die sich daraus ergebenden kolonialen Konsequenzen machen
auch heute noch den Kern des Nahost-Konfliktes aus.
Und weil das so ist, ist der Hass zwischen Israelis und
Palästinensern so groß, befinden sie sich in einem permanenten,
wenn auch durch Israels Überlegenheit sehr asymmetrischen
Kriegszustand. Nicht der islamische Kulturbereich, sondern das
christliche Europa hat den Antisemitismus hervorgebracht und ihn
mit dem Zionisten, die vor ihm geflohen sind, in den Nahen Ost
exportiert. Dass Muslime nach all dem, was sie mit der
zionistischen Eroberung erlebt haben und noch erleben, ihren
Hass in antisemitische Stereotypen ausdrücken, ist sicher
schlimm und dumm (dumm, weil sie letzten Endes wieder gegen sie
instrumentalisiert werden können), aber zumindest
nachvollziehbar.
Aber man sollte es ernst nehmen, wenn der Auschwitz-Überlebende
Hajo G. Meyer schreibt: „Die Verwendung dieser antisemitischen
Stereotypen hat mit einem traditionellen Antisemitismus im
eigentlichen Sinn nichts zu tun. Es ist ein Missbrauch der alten
Stereotypen für andere Zwecke, die mit der kriegsähnlichen
Situation zusammenhängen. In einer solchen Situation ist es
einfach die Regel, dass die beiden Parteien sich gegenseitig
dämonisieren.“
Die zum „Antisemitismus“ hoch geputschten Vorfälle der letzten
Zeit sollten unter diesem Blickwinkel gesehen werden, und nicht
unter dem, dass die Juden nun wieder einer neuen Verfolgung
ausgesetzt seien, diesmal von den „antisemitischen“
Palästinensern und anderen Muslimen. Das ist eine verfälschende
Darstellung der Geschichte und der politischen
Gegenwartssituation. Um den „Antisemitismus“ zu bekämpfen, wie
ihn der common sense in Deutschland versteht, bedarf es keiner
Exkursionen von Muslimen in die KZ’s und Vernichtungslager der
Nazis, keines Antisemitismus-Beauftragten und keiner
„Aufklärung“ in den Schulen, wobei eine richtige und
wahrheitsgemäße Aufklärung natürlich immer gut ist.
Worauf es ankäme, wäre, nicht nur die jüdische Seite, sondern
auch die Seite der Muslime anzuhören und sie ihre politische
Wirklichkeit – und dazu gehören auch die Gründe für ihren Hass
auf Israel– berichten zu lassen. Erst dann könnte man wirklich
verstehen und vermitteln. Aber davor stehen zu viele deutsche
Tabus, die zu durchbrechen offenbar unmöglich ist. Das hieße
nämlich zu verstehen, dass das öffentliche Verbrennen einer
selbstgefertigten Israel-Fahne durch Palästinenser kein
„antisemitisches“ Vergehen gegen Juden oder das Judentum ist,
sondern Ausdruck eines berechtigten Widerstandes gegen einen
Staat, der ihnen unendlich viel Leid zugefügt hat. Siehe zuletzt
die friedlichen Demonstranten an der Grenze zum von Israel
völlig abgeriegelten Gazastreifen, die nur ihr berechtigtes
Anliegen für Freiheit und menschliche Würde vorbringen wollen
und von Scharfschützen der israelischen Armee „abgeknallt wurden
wie die Hasen“, so der israelische Publizist Uri Avnery. 39 Tote
hat dieses Massaker bisher gefordert und über 3000 Verletzte,
bei null israelischen Verlusten.
Wenn Juden uns darüber informieren, dass die Kippa von
Angehörigen dieser Religion gar nicht auf der Straße getragen
wird, sondern nur im Haus, und draußen ein Hut darüber
aufgesetzt wird und dass heute die Kippa vor allem das Symbol
der nationalreligiösen, äußerst aggressiven und gewalttätigen
Siedler im besetzten Westjordanland ist, dann sollte man seine
Sympathie für Juden vielleicht doch auf andere Weise ausdrücken
als mit einem demonstrativen, öffentlichen Schaulaufen mit
dieser Kopfbedeckung, die eben bei Muslimen ganz andere
Assoziationen weckt. Hier entsteht in Deutschland ein sehr
gefährlicher projüdischer antiarabischer Rassismus, der sehr
schlimme Folgen für die deutsche Demokratie haben kann –
angefangen bei einer sehr massiven Einschränkung der
Meinungsfreiheit, wie sie es jetzt schon gibt.
Das deutsche Problem ist nicht das Aufkommen eines neuen
Antisemitismus, dazu sind die Vorfälle viel zu marginal. Zudem
wird Antisemitismus immer erst dann wirklich gefährlich, wenn er
sich mit einer Staatsmacht verbindet wie im zaristischen
Russland, im NS-Staat oder etwa im Südafrika der Apartheid.
Problematisch ist das Schweigen der deutschen Politik und der
meisten Medien zu Israels Politik und das Schweigen über die
Gründe, warum junge Araber in Deutschland gegen Israel oder
jüdische Bürger aufbegehren. Das Schweigen über diese
Realitäten, die Deutschland in den Verdacht einer
Komplizenschaft bringen und das inzwischen nicht mehr
überhörbare Raunen in der Bevölkerung, dass Juden hierzulande
eine Sonderstellung genießen und „alles dürfen“, facht den
Antisemitismus an. Und natürlich die brutale israelische
Politik. So lange man dazu schweigt und die Realitäten nicht
ehrlich und aufrichtig beim Namen nennt und diskutiert, kann man
wie Sisyphus den Stein immer wieder den Berg hinaufwälzen, er
wird doch immer wieder hinabrollen. Das heißt, der Kampf gegen
den Antisemitismus wird vergeblich sein.
Aber das deutsche Schweigen ist nicht neu. Der deutsche
Soziologe Walter Hollstein stellte in seinem 1972 (also vor fast
50 Jahren!) erschienenen Buch „Kein Frieden um Israel. Zur
Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts“ fest: „Die
ungeschichtlichen Erklärungsmuster des Nahost-Konflikts nützen
Israel wie auch dem Abendland. Das erstere lässt dergestalt
vergessen, dass der Zionismus mit seinem Machtanspruch überhaupt
erst die Auseinandersetzung mit der arabischen Welt
herausforderte; das letztere kaschiert erleichtert, dass sein
Antisemitismus am Ursprung des Zionismus stand und also die
andauernde Auseinandersetzung im Nahen Osten wesentlich
mitbedingte. So umgeht man bequem die wirklichen Ursachen des
Nahost-Konflikts und akzeptiert das Gesetz des Schweigens über
die schreiendsten Wahrheiten der Geschichte, die vornehmlich so
unerfreuliche Phänomene wie Kolonialismus, Imperialismus und
Flüchtlingselend betreffen.“
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