70
Jahre Israel – 70 Jahre Siedlerkolonialismus und permanenter
Krieg gegen die Palästinenser
Der Staat,
der den Juden die Befreiung bringen sollte, ist zum inhumanen
Besatzungs- und Apartheidsystem geworden
Arn
Strohmeyer
Israel
feiert sich selbst anlässlich des 70. Geburtsages des Staates,
und die westlichen Staaten stimmen in den Jubelchor ein und
schicken hochrangige Regierungsdelegationen zu den
Feierlichkeiten der selbst ernannten „einzigen Demokratie im
Nahen Osten“, bei denen man die „gemeinsamen Werte“ beschwören
wird. Aber eigentlich gibt es keinen Anlass zu feiern, denn
dieser Staat verdankt seine Existenz der Vertreibung und
Unterdrückung eines anderen Volkes, dessen Land er sich
angeeignet hat. Das zionistische siedlerkolonialistische Israel
führt seit über 70 Jahren einen grausamen Krieg gegen die
Palästinenser, der ihn aber in eine ausweglose Lage gebracht
hat, an der das ganze zionistische Unternehmen nun zu scheitern
droht.
Die
israelische Politik, der die Ideologie des Zionismus zu Grunde
liegt, ist eigentlich nur mit dem Begriff des Tragischen zu
verstehen, wobei man in diesem Zusammenhang natürlich an die
griechische Tragödie denken muss. Sie thematisiert die
Verstrickung des Protagonisten, der sich in eine so ausweglose
Lage bringt, dass er das Verhängnis durch jedwedes Handeln nicht
mehr abwenden kann und schuldig werden muss. Sein Scheitern ist
unausweichlich. Die herannahende Katastrophe lässt sich nicht
mehr abwenden. Der Keim der Tragödie ist, dass der Protagonist
der Hybris – der Arroganz, dem Hochmut und der Selbstverblendung
– verfällt. Die Übereinstimmung mit der Situation Israels liegt
auf der Hand. Nur eines gibt es in der der israelisch-jüdischen
Tragödie nicht: Die griechische Tragödie sollte einen
Sinneswandel bei den Beteiligten hervorrufen – eine Reinigung
oder Katharsis. Das Durchleben von Jammer und Rührung, die das
Drama hervorrief, sollte zu einer seelischen und moralischen
Läuterung führen, davon kann in der israelisch-jüdischen
Tragödie keine Rede sein. Es gibt keinerlei Empathie.
Der Gedanke,
die Situation Israels, seine Geschichte und seine heutige
Politik mit einer Tragödie in Verbindung zu bringen, ist
keineswegs neu. In der Bildung eines jüdischen Nationalstaates
sah schon der jüdische Publizist Isaac Deutscher (1907 – 1967)
„eine weitere jüdische Tragödie.“ Der Schriftsteller Erich
Fried, ebenfalls ein Jude, hat immer wieder von der „Tragödie“
geschrieben, die Israel im Nahen Osten angerichtet habe. Und der
deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern (1926 - 2016), der in
den USA lebte und lehrte, sagte in dem längeren Gespräch, das er
mit Helmut Schmidt führte, auf die Frage des Ex-Kanzlers, was
die Israelis tun könnten: „Das ist eine ganz große Tragödie. Ich
mache mir große Sorgen um die Zukunft Israels, wenn ich an seine
Politik denke.“
Die tragische
Entwicklung nahm ihren Anfang, als sich der Zionismus dem
universalistischen Denken verweigerte, das aus der Aufklärung
kam und das intellektuelle Judentum lange Zeit geprägt hatte.
Man kann einwenden, dass der Zionismus gar nicht anders konnte,
als den universalistischen Weg zu verlassen. Denn wie sonst –
ohne Gewalt – hätte er sonst im Land eines anderen Volkes einen
Staat gründen können? Aber es gab die universalistische
Alternative: Die Zionisten hätten im Einvernehmen mit den dort
ansässigen Arabern einen Staat aller seiner Bürger/innen
anstreben können, statt sich als Staat einer einzigen Ethnie
beziehungsweise Religion bei völliger Negierung, ja Verachtung
der einheimischen Bevölkerung zu gründen. Die Zionisten
entschieden sich also für die partikularistische, stammesmäßige
und zunehmend auch religiös aufgeladene „Lösung“.
Am Anfang der
israelisch-jüdischen Tragödie stand also die Spaltung in
Partikularisten und Universalisten. Diese Teilung in
gegensätzliche Tendenzen war keineswegs neu, sie zieht sich
durch die gesamte Geschichte des Judentums. Es ist der Gegensatz
„zwischen Nationalismus und Universalismus, zwischen
Konservatismus und humanistischen Fortschrittsdenken, zwischen
Fanatismus und Toleranz.“ Die jeweiligen Zeitumstände
entschieden darüber, welche Richtung gerade die Oberhand hatte.
Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Erich Fromm, von dem diese
Unterscheidung stammt, sah die universalistische Richtung aber
klar im Vorteil: „Das radikale humanistische Denken
[kennzeichnet] die Hauptentwicklungsstufen der jüdischen
Überlieferung, während die konservativ-nationalistische Richtung
das relativ unveränderte Relikt aus älteren Zeiten ist und nie
an der progressiven Evolution des jüdischen Denkens und seinem
Beitrag zu den universalen menschlichen Werten einen Anteil
hatte.“
Es gibt
Parallelen zwischen der universalistischen jüdischen Ethik und
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren
Präambel sich auf alle Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft
bezieht, wobei die Anerkennung von deren Würde und gleichen
unveräußerlichen Rechten die Grundlage der Freiheit, der
Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet. Weiter heißt
es dort in Anspielung auf die Verbrechen der Nazis: „Da die
Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der
Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt
haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen frei
von Furcht und Not Rede- und Glaubensfreiheit zuteilwird, als
das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, (…)
verkündet die Generalversammlung [der UNO] die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte. “ Und in Artikel 1 heißt es:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten
geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen
einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
Die Zionisten
entschieden sich aber klar gegen den Universalismus und für die
konservativ-nationalistische Richtung, was aber auch Absonderung
und Isolation bedeutet. Nicht nur die Spaltung zwischen
Partikularisten und Universalisten aber ist uralt, sondern auch
die gewollte Trennung und Separation von den Nicht-Juden. Sie
zieht sich durch die ganze jüdische Geschichte. Der Begründer
des Zionismus. Theodor Herzl, erneuerte sie, indem er sich den
Judenstaat als endgültige Separation der Juden von den
Nicht-Juden als Antwort auf den Antisemitismus vorstellte, also
die radikale Abkehr der Juden von einer als für sie feindselig
begriffenen Welt und als Flucht in ein „Land ohne Volk“, wo sich
die Juden als eine abgesonderte und geschlossene
national-ethnische Gruppe entfalten können sollten. Eine solche
partikularistische Konzeption, die zum Wesen des Judentums
gehört, musste in der Form institutionalisierter staatlicher
Politik eine isolationalistische und isolierte Nation
hervorbringen, die zwischen der Angst vor den Anderen und
prahlerischer Krafthuberei schwankt. Es waren also im
Wesentlichen die ideologischen Ziele des Zionismus samt ihrer
Realisierung sowie die nationalistischen Folgerungen aus dem
Holocaust und die Gründung des Staates Israel, die die Abkehr
vom Universalismus bewirkten. Der französische Historiker Pierre
Birnbaum schrieb deshalb: „Eine lange Geschichte kommt
wahrscheinlich an ihr Ende: die des Zusammentreffens der Juden
und einer streng universalistisch verstandenen Aufklärung.“
Es verwundert
deshalb nicht, dass diese Absonderung und Isolation der
Zionisten von universalistischen Werten die Betonung einer
eigenen Moral zur Folge hatte, die eigene Werte propagierte,
auch wenn dies nicht immer so deutlich ausgesprochen wurde und
wird, um wenigstens den Schein zu wahren. So vertrat – wie schon
erwähnt – der führende Ideologe der zionistischen
Arbeiterbewegung Berl Katznelson (1887 – 1944) die Auffassung,
dass der Zionismus gegen den Strom agieren und gegen den Willen
der Mehrheit beziehungsweise gegen den Gang der Geschichte seine
Ziele erreichen müsse. Er unterliege daher anderen Maßstäben als
der „formalen Moralität“. Die eigene nationalstaatliche Existenz
wird somit vom Handeln nach „eigenen Regeln“, von eigenen
moralischen Maßstäben abhängig gemacht. Diese Existenz – in
diesem Zusammenhang ist von „maximalistischem Zionismus“ die
Rede – lasse sich letztlich nur durch Verdrängung des anderen
Kollektivs [der Palästinenser] aus dem Land und auch aus dem
Bewusstsein erreichen. Katznelson spricht von „Umsiedlung“, eine
harmlose Umschreibung für Vertreibung.
Gegen
den Universalismus
Angesichts
einer solchen ideologischen Tradition erstaunt es nicht, wenn
eine Ministerin aus dem Kabinett von Ministerpräsident Benjamin
Netanjahu ganz unumwunden zugibt, dass der Zionismus nichts mit
universalistischer Moral – also Menschenrechten und Völkerrecht
– im Sinn habe. Im August 2017 erklärte Israels Justizministerin
Ayelet Shaked (wie ober schon angeführt, aber man kann diese
Aussage nicht oft genug wiederholen!) auf einer Konferenz in Tel
Aviv wörtlich: „Der Zionismus darf sich nicht, und ich sage
hier, er wird sich nicht weiterhin dem System der individuellen
Rechte unterwerfen, das in einer universellen Weise
interpretiert wird, die sie von der Geschichte der Knesset und
der Geschichte der Gesetzgebung trennt, die wir alle kennen.“
Die FAZ übersetzte den Satz so: „Der Zionismus wird nicht weiter
seinen Kopf beugen vor einem universalen System der
individuellen Rechte.“
Der
israelische Journalist Gideon Levy bezeichnete Shaked daraufhin
in der Tageszeitung Haaretz als „Israels Wahrheitsministerin“.
Er schrieb: „Der Zionismus widerspricht den Menschenrechten, und
er ist tatsächlich eine ultranationalistische, kolonialistische
und vielleicht rassistische Bewegung. (…) Für Shaked und das
Recht ist die Debatte über Menschen- und zivile Rechte
antizionistisch, ja sogar antisemitisch. (…) Shaked hat uns
mitgeteilt: Der Zionismus ist nicht gerecht, er widerspricht der
Gerechtigkeit, doch sollen wir an ihm festhalten und ihn der
Gerechtigkeit vorziehen, weil er unsere Identität, unsere
Geschichte und unsere nationale Mission ist. Kein Pro-Aktivist
der BDS-Bewegung würde es schärfer ausdrücken. Doch keine Nation
hat das Recht, die universalen Prinzipien verächtlich
zurückzuweisen und ihre eigenen Prinzipien zu erfinden, die den
Tag Nacht nennen und die Besatzung gerecht und Diskriminierung
Gleichheit.“
Der Zionismus
hat also eine scharfe Trennungslinie zu den Werten der
Aufklärung und des Universalismus gezogen, die das Judentum zum
Teil selbst hervorgebracht hat. Man denke nur an den Satz des
Alten Testaments: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild,
als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Was ja nur heißen kann: Alle
Menschen sind ohne Ausnahme als Abbild oder Ebenbild Gottes
geschaffen worden – ohne Unterschied von Rasse oder Religion.
Ein wichtiger
Beleg für einen radikalen Humanismus ist auch die Talmud-Stelle,
in der es heißt: „Aus diesem Grund wurde der Mensch als
einzelner geschaffen, um Dich zu lehren, wer immer einen
einzigen Menschen von Israel tötet, nach der Schrift so schuldig
ist, als wenn er die ganze Welt vernichtet hätte. Und wer einen
einzigen Menschen rettet, dem wird das so angerechnet, als ob er
die ganze Welt gerettet hätte.“ Auch wenn Sätze wie diese sich
ursprünglich nur auf den Stamm Israel bezogen haben, haben sie
im Laufe der Zeit doch universalen Charakter angenommen.
Es ließen
sich noch viele Beispiele anführen. Es sei aber noch dieses
genannt: Ein Nicht-Jude kam zum Rabbi Hillel, der etwa um die
Zeitenwende lebte, und bat ihn, die Thora zu erklären: Hillel
sagte: „Tue anderen nicht an, was Du nicht möchtest, dass man es
Dir antut. Das ist das Wesentliche, und alles Übrige ist
Kommentar.“ Ein Satz, der schon den Kategoprischen Imperativ von
Kant vorwegnimmt.
Alle diese
zutiefst menschlichen Gebote, die mit den universalen Werten
Gleichheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe korrespondieren,
gelten im Zionismus ganz offensichtlich nicht, sodass sich die
Voraussage des israelischen Politologen Zeev Sternhell aus dem
Jahr 2014 inzwischen erfüllt hat: „Die Entwicklung in Israel
schreit zum Himmel. Israel ist geradezu ein Laboratorium für die
allmähliche Erosion der Werte der Aufklärung und besonders der
universalen Werte. Deren Missachtung hat an den Rändern schon
immer stattgefunden, dringt aber langsam vor und wird eines
Tages auch das Zentrum erreichen.“
Dabei enthält
die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 durchaus
universalistische Elemente. Da heißt es: „[Der israelische
Staat] wird allen seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion,
Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung
verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der
Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen
Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der
Vereinten Nationen treu bleiben.“ Diese universalistisch
formulierten Sätze stehen ganz in der Tradition westlichen
demokratischen Denkens, sind in Israel aber nie politische
Wirklichkeit geworden, die Palästinenser – und zum Teil auch die
orientalischen Juden – waren nie gleichberechtigte Staatsbürger
mit voller Chancengleichheit in der israelischen Gesellschaft.
Liberale
universalistische Werte gelten in Israel heute als Gefahr für
die Nation. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat es so
formuliert: „Es stimmt: Ein universaler Staatsbürgerstatus
bedroht den jüdischen Charakter des Landes, der die Ausgrenzung
und Diskriminierung der Araber impliziert.“ Und: „Das Wort
‚links‘ ist in der israelischen Politik zu einem Schimpfwort
verkommen, weil das Eintreten für die universellen
Menschenrechte allgemein als Hohn gegenüber der jüdischen
Identität und dem jüdischen Partikularismus empfunden wird.“
Der
Israelische Philosoph Omri Boehm hat all diese Fakten und
Aussagen mit einem sehr harten Urteil zusammengefasst, wobei er
besonders die Tragik betont, die der Zionismus geschaffen hat:
„Wir müssen uns fragen als Juden, als Menschen, ob wir eher
diesen [zionistischen] Werten oder eher den Werten der
Menschenrechte, der Gleichheit der Demokratie verbunden sind.
Ich glaube, als Menschen und vielleicht sogar als Juden sollten
wir das Letztere wählen. Vielleicht ist das eine Lehre, die wir
aus der jüdischen Geschichte ziehen sollten. Dieser Widerspruch
bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform,
die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben. Es gibt
keine Lösung, mit der wir uns in dieser Tragödie einrichten
können.“ Die Unfähigkeit der Juden in Israel, mit dieser
Tragödie umzugehen, bezeichnet Boehm als „Verbrechen“. Er
schließt seine Betrachtung mit dem Satz: „Zionismus ist nicht
vereinbar mit humanistischen Werten.“
Eine
grausame, siedlerkolonialistische Besatzungspolitik über ein
anderes Volk, deren Realität so aussieht: Totale Unterdrückung
und Kontrolle dieser Menschen in so gut wie jeder Beziehung,
Raub ihres Landes durch Enteignungen ihres Besitzes,
Häuserzerstörungen, Zerstörungen ihrer Lebensgrundlagen (Felder,
Olivenbäume und Brunnen), Einschränkung der Bewegungsfreiheit
durch feste und bewegliche Checkpoints, Verbannung in Reservate
oder Enklaven hinter Mauern und Zäunen, Plünderung ihrer
Ressourcen, bürokratische Schikanen, permanente Razzien und
Verhaftungen, jahrelange Administrativhaft ohne Prozess (rund
7000 Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, darunter
viele Kinder), Folter – mit einem Wort: hier herrscht die
Willkür von Kolonialherren über ein unterworfenes und wehrloses
Volk. Dazu kommen immer wieder Kriege gegen die Palästinenser,
die letzten Endes Kriege gegen die Zivilbevölkerung sind, weil
die Palästinenser über keine Armee verfügen. All das ist
innerhalb der zionistischen Moral möglich, die sich ja deutlich
von der westlichen Vorstellung der Menschenrechte distanziert.
Nicht nur der israelische Anthropologe Jeff Halper spricht
deshalb von „Staatsterrorismus“.
Vorwurf
des Staatsterrorismus
Er schreibt,
dass dieser viel furchtbarere Auswirkungen hat als der
Terrorismus der Unterworfenen: „Da die Palästinenser keine Armee
haben, standen Tod und Zerstörung, die die Bevölkerung infolge
dieser [israelischen] militärischen Operationen heimsuchten, in
einem derartigen Missverhältnis zu jeder echten
Sicherheitsbedrohung [Israels], dass diese Aktionen nur als
Staatsterrorismus bezeichnet werden können.“ Die Kriege gegen
den Gazastreifen 2008/2009, 2012 und 2014 und die seit 2007
verhängte vollständige Blockade Israels haben die Region in ein
Elendsquartier verwandelt.
Eine solche
Politik fügt nicht nur den Unterdrückten unendliches Leid zu,
sondern sie brutalisiert auch die Täter, in diesem Fall die
Angehörigen der Armee und große Teile der israelischen
Gesellschaft. Wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist,
soll an drei Beispielen demonstriert werden. Der Israeli Miko
Peled schreibt in seinem Buch Der Sohn des Generals (über
seinen Vater Matti Peled), dass ihm ein israelischer
Marineoffizier folgende Geschichte erzählt habe. Dieser sei mit
seiner Einheit und ihren Kriegsschiffen an der Küste des
Gazastreifens Patrouille gefahren. Dabei kamen sie immer an
Fischerbooten aus dem Streifen vorbei, und von Zeit zu Zeit
pickten sie sich ein bestimmtes Boot heraus, befahlen den
Fischern ins Wasser zu springen und sprengten das Boot in die
Luft. Dann befahlen sie den Fischern mit vorgehaltener Waffe,
von eins bis hundert zu zählen, und wenn sie damit fertig waren,
ließen sie sie noch einmal von vorn anfangen. Das machten sie
dann wieder und wieder, bis die Fischer sich einer nach dem
anderen nicht mehr halten konnten und ertranken. Der junge
israelische Offizier meinte, dies werde getan (so seine Worte),
um „ein Exempel zu statuieren und den Arabern zu zeigen, wer der
Chef ist.“ Miko Peled merkt dazu an: „Ich dachte, ich müsste
mich erbrechen, als ich das hörte, aber im Lauf der Jahre hörte
ich von israelischen Soldaten viele ähnliche Geschichten.“
Ein zweites
Beispiel: In Hebron haben israelisch Soldaten im Frühjahr 2016
einen jungen Palästinenser, der offenbar die Soldaten angreifen
wollte, angeschossen und wehrlos gemacht. Der Mann lag schwer
verwundet und blutend am Boden. Da trat der israelische Soldat
Elor Azaria vor und erledigte den Palästinenser kaltblütig mit
einem Schuss aus seiner Pistole. In zivilisierten Staaten nennt
man so etwas Lynchjustiz. Aber große Teile der israelischen
Öffentlichkeit und der Medien feierten den Mörder als Helden.
Gideon Levy sprach von schlimmen Rassismus und kommentierte:
„Damit hat der israelische Rassismus einen neuen Grad erreicht.
Dieser Mord und die Reaktion darauf sind tatsächlich wegweisend.
Bis dahin beruhte der israelische Rassismus auf dem arroganten
Selbstverständnis des auserwählten Volkes, dem alles erlaubt
ist, das das beste ist und alles besser als jeder andere weiß.
Man nutzte die Rolle des verfolgten Opfers, dämonisierte die
Araber, die uns nur vernichten wollen, man hat sie
entmenschlicht und damit ihr Leben entwertet. Anstiften, Lügen
und Abstreiten vor einem Hintergrund von überwältigender
militärischer Macht. Auf solchen Grundmauern haben wir eine
rassistische Gesellschaft geschaffen, wahrscheinlich die am
stärksten rassistische Gesellschaft in der gegenwärtigen Welt.“
Levy steigert
seine Anklage noch: „Und nun steigt das alles noch um einen Grad
nach oben, oder wenn man will nach unten. Denn jetzt können wir
dem Ganzen offenen Blutdurst hinzufügen, unverwässert, ungehemmt
und unverstellt. Diese Kombination von Rassismus und Blutdurst
ist nicht nur abstoßend, sie ist auch gefährlich und
unberechenbar. Rassismus gibt es in vielen Gesellschaften, im
allgemeinen marginal und verborgen. In Israel ist Rassismus zum
Standard geworden, möglicherweise der Gipfel gegenwärtiger
politischer Korrektheit. Ihn zu bekämpfen gilt als Hochverrat.“
Drittes
Beispiel: Ein junges 16jähriges palästinensisches Mädchen geht
im Juni 2017 auf einen Kontrollpunkt zu – so zeigt es ein Video.
Ein Messer oder Ähnliches ist bei dem Mädchen nicht zu sehen.
Dann dreht das Mädchen plötzlich um und läuft weg. Die Soldaten
schießen und verletzen es schwer. Sie umstehen dann das am Boden
liegende blutende Mädchen, das sich vor Schmerzen krümmt. Sie
wetteifern miteinander, wer das Mädchen mit noch gemeineren
Worten verhöhnen kann. Wieder meldet sich der Moralist Gideon
Levy zu Wort: „Das sind die Soldaten Israels, das ist ihre
Sprache, das sind ihre Werte und ihre Standards. Kein einziger
[der Soldaten] dachte daran, sich um ärztliche Hilfe für das
Mädchen zu kümmern; keiner dachte daran, den Ausbruch
verabscheuungswürdiger Obszönitäten, die um das verblutende
Mädchen flogen, zum Schweigen zu bringen.“ Gideon Levy schreibt,
dass sich beim Anschauen des Videos vor Wut und Empörung sein
Magen umgedreht habe. Er schlussfolgert: „50 Jahre Besatzung
haben uns so weit gebracht.“
Zionismus und Gewalt
In diesem
Zusammenhang ist die Frage nach dem Verhältnis Israels
beziehungsweise des Zionismus zur Gewalt zu stellen, die
automatisch auch die zionistische Sicht von Krieg und Frieden
beinhaltet. Der zionistische Staat Israel ist mit dem „Schwert“
geschaffen worden und deshalb ist die Gewalt eine Wesenselement
seiner Existenz. Wenn Israel heute ganz Palästina kontrolliert,
dann hat es rund 94 Prozent davon mit Gewalt erobert (die Juden
hatten bis 1948 nur 5,6 Prozent des Landes käuflich erworben,
nach dem Krieg von 1948 hatten sie 72 Prozent des Landes
gewaltsam in ihren Besitz gebracht, der Rest kam 1967 dazu.)
Diese Existenz kann – so hatte es schon Moshe Dayan 1956 in
einer berühmt gewordenen Rede hervorgehoben – nur „mit der Faust
und dem Schwert“ auf Dauer gesichert werden, womit die
permanente Notwendigkeit des Krieges für Israel angesprochen
ist.
Das
zionistische Verständnis von Gewalt ergibt sich aus dem
Verständnis des Konflikts mit den Arabern beziehungsweise den
Palästinensern. Die Ursachen des Konflikts werden nicht in der
eigenen Politik (Kriegs-, Siedlungs- , Eroberungs- oder
Vertreibungspolitik) gesehen, sondern ausschließlich in der
„Feindseligkeit“ und in der Mentalität der „Anderen“, denn den
Arabern wird ja eine „primitive“ Mentalität bescheinigt. In
ihnen sieht Israel keinen Partner auf Augenhöhe, mit dem die
Aushandlung von Kompromissen oder sogar eine Versöhnung möglich
wäre. Da die zionistische Ideologie die Araber grundsätzlich als
feindselig und nicht friedensfähig (feindliche Gojim)
einschätzt, kann Israel den Konflikt auf diese Weise
entpolitisieren und enthistorisieren, ihn als gegeben, ewig und
unveränderlich interpretieren und damit als unlösbar. Damit wird
der Konflikt aber aus seinem politischen und historischen
Kontext herausgelöst – er ist das Resultat ultimativer
Feindschaft. Mit anderen Worten: Israel schafft sich selbst
durch Dämonisierung ein Feindbild, erklärt sich selbst zum Opfer
und den „Anderen“ für friedensunfähig und enthebt sich so jeder
Notwendigkeit einer Konflikt-Lösung.
Daraus folgt,
dass erstens kriegerische Gewalt als völlig legitim angesehen
wird, und zweitens der Konflikt zu einem konstanten und
konstitutiven Faktor der israelischen Ordnung und somit des
israelischen Bewusstseins geworden ist. Krieg wird in diesem
Sinne positiv verstanden, weil er die Nationalstaatlichkeit
sichert. Die israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl schreibt:
„Das israelische Kollektiv ist sowohl institutionell (Politik,
Militär, Gesellschaft, Wirtschaft, Industrie und Rechtssystem)
als auch mental beziehungsweise politisch-kulturell auf Krieg
fixiert. In dialektischer Beziehung zur Auffassung, der Krieg
sei integraler Bestandteil der nahöstlichen Realität, etablierte
sich im Laufe der Jahre auch die Sicherheitsdoktrin der
Abschreckung.“
Das heißt:
Frieden ist nicht durch Kompromisse möglich, sondern nur
dadurch, dass Israel sich militärisch gegenüber seinen
arabischen Nachbarn Respekt verschafft, indem es sie davon
überzeugt, dass es militärisch eine Supermacht und unbesiegbar
ist. Ariel Sharon brachte das auf die Formel: „Sie [die Araber]
müssen Angst vor uns haben!“ Die Verträge von Oslo wurden in
diesem Sinne nicht als erster Schritt zum Frieden angesehen,
sondern „als Fortsetzung der Besatzung mit anderen Mitteln.“
Bei einer
solchen Sicht versteht es sich von selbst, dass eine Integration
Israels in die Region nicht möglich ist. Israel strebt sie aus
Verachtung für die angeblich rückständigen und gewalttätigen
Araber auch gar nicht an. Eine solche Herablassung und Arroganz,
mit denen die politische Elite Israels den Arabern in der Region
begegnet, verstärkt natürlich die Abgrenzung und Isolation
Israels, das als „Kreuzfahrerstaat“ wahrgenommen wird. Immer
wieder hat Israel aus seiner überlegenen militärischen Position
das Recht abgeleitet, sich in die inneren Angelegenheiten seiner
Nachbarn einzumischen, ja als Vormacht in der Region eine
Neustrukturierung des Nahen Ostens nach seinen Vorstellungen zu
verlangen, was die arabischen Antipathien gegen Israel natürlich
weiter vergrößert hat.
Israel ist
nicht der friedliche und von einer feindlichen Außenwelt
bedrohte Staat der Holocaust-Überlebenden, als der er sich
selbst gern darstellt und wie ihn viele Deutsche gern sehen
möchten. Israel als äußerst aggressiven siedlerkolonialistischen
Militärstaat zu sehen, kommt der Wahrheit viel näher. Seine
extrem inhumane, ja barbarisch kolonialistische Politik steht in
diametralem Gegensatz zu dem Anspruch, eine westliche Demokratie
zu sein und die Werte der westlichen politischen Kultur zu
vertreten. Genau dies ist ja der Kern der jüdischen Tragödie:
„Nicht nur Täter, sondern Opfer sind per se kognitiv und
emotional befangen. Sie widmen sich dem ihnen zugefügten Leid
als dem absoluten Bösen und sind damit unfähig, über dieses
Leiden hinauszugehen, sich für Versöhnung, Vergebung und
Solidarität einzusetzen. Eine Politik, die sich aus einer
Opferrolle heraus definiert, ist nicht nur engstirnig, sondern
auch gefährlich, weil sie Hass und Ressentiments legitimiert,
die Logik des ‚sie gegen uns‘ fortschreibt und leztlich nicht
dazu in der Lage ist, die Logik der Diskriminierung mittels
eines breiten, auf Gleichheit und Brüderlichkeit angelegten
Gesellschaftsvertrages zu überwinden.“ So hat der australische
Sozialwissenschaftler Roy F. Baumeister das Verhalten der
Israelis (ohne sie direkt beim Namen zu nennen) in seinem Buch
Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt
beschrieben.
Die Tragödie
Israels ist es, dass es die moralische Orientierung verloren
hat, dass es die Werte und Ideale der Aufklärung (Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit) verraten hat, für die gerade Juden
in den vergangenen 200 Jahren so leidenschaftlich gekämpft
haben. Juden haben sich in Europa für sich selbst und für andere
Gesellschaftsgruppen für die Verwirklichung von Gleichheit
eingesetzt, Juden verweigern nun in ihrem eigenen Staat
Nicht-Juden [den Palästinensern] eben dies. Eva Illouz folgert
daraus: „“Diese Geschichte [Israels und der Juden] ist
unvollendet, solange die politischen Institutionen und die
Kultur Israels nicht die universalistischen Gebote umfassen, die
die Geburt aller modernen Demokratien begleitet haben. Ein
jüdischer Staat, der nicht auf universeller Gerechtigkeit
aufbaut, wird nicht auf die zentrale Herausforderung geantwortet
haben, vor die die Moderne das jüdische Volk stellte, nämlich
ihre Existenz und ihre Identität unter Einbeziehung des
Universalismus neu zu definieren, statt diese von sich zu
weisen.“
Und: „Die
‚Sicherheit des Staates‘ und ‚die Sicherheit der Juden‘ können
nicht ewig als Ersatz für eine echte Politik und moralische
Positionen herhalten. Dies ist die eine Prämisse. (…) Was Juden
in ihren jeweiligen nichtjüdischen Ländern für sich selbst
gefordert haben und fordern, muss auch den arabischen und
entrechteten palästinensischen Bürgern zugestanden werden – ohne
Wenn und Aber.“
Aber nichts
deutet darauf hin, dass Israel diesen Weg gehen wird. Ganz im
Gegenteil, die extrem nationalistischen und religiösen Kräfte
und Tendenzen werden immer stärker und drohen den Staat ins
Verderben zu stürzen. Jede Kritik an diesem Kurs wird als
Antisemitismus abgeschmettert. Nicht Israels barbarische Politik
steht also am Pranger, sondern der Kritiker, der warnt und
Humanität einfordert. Der denunziatorische
Antisemitismus-Vorwurf ist die letzte ideologische Schutzmauer,
die dieser Staat neben der realen Mauer um sich baut, um einen
Zustand zu retten, der auf Dauer nicht zu retten ist.
Das
Problem der Vergangenheit
Zu einem Weg
der Umkehr, der zur Zeit wegen der herrschenden
Machtverhältnisse und der politischen Verblendung der
Bevölkerung undenkbar ist, würde zuerst die Aufarbeitung der
eigenen Vergangenheit, das heißt der eigenen Schuld gehören.
Moshe Zuckermann registriert eine zweifache unbewältigte Schuld
der Israelis: Zum einen die Schuld einer auf dem Rücken der
Palästinenser ausgetragenen Staatsgründung (und man muss
hinzufügen: die Schuld, die aus deren Unterdrückung und
Vertreibung bis heute entsteht). Zum anderen das Gefühl einer
eher vor- oder gar unbewussten Schuld, die mit der kulturellen
beziehungsweise psychologischen Negation (man kann auch sagen
Verachtung) des Diaspora-Judentums im Allgemeinen und der
Shoa-Überlebende im Besonderen zusammenhängt (siehe Kapitel II,
2).
Israel muss –
so Zuckermann – seinen Hass vor allem auf die Palästinenser
richten, wenn es mit sich selbst im Reinen und das Opfer bleiben
will: „Wenn das Selbstbild des Zionismus intakt bleiben soll,
darf es sich nicht durch historische Täterschaft besudeln
haben.“ Nur durch Verdrängung und manipulative Schuldabwehr kann
Israel sein Selbstbild retten. So gesehen muss der Zionismus die
Palästinenser als das konkret Böse („Terroristen“ oder „neue
Nazis“) dämonisieren, weil ihre Entdämonisierung zwangsläufig
auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – und
das heißt mit der gegen sie aufgeladenen Schuld – bedeuten.
Ganz ähnlich
argumentiert Ilan Pappe. Er konstatiert eine tiefsitzende Angst
der Israelis, sich mit der eigenen Vergangenheit
auseinanderzusetzen, besonders mit den Ereignissen von 1948,
also der ethnischen Säuberung Palästinas. Denn eine solche
Auseinandersetzung würde beunruhigende Fragen nach der
moralischen Legitimität des ganzen zionistischen Projekts
aufwerfen. Die Israelis brauchten deshalb einen starken
Verleumdungsmechanismus, der ihnen einerseits helfen soll,
Friedensverhandlungen mit den Palästinensern abzuwehren und
andererseits jede eingehende Debatte über den Charakter und die
moralischen Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.
Eine
Anerkennung der Palästinenser als Opfer israelischer Taten –
also das Stellen der Frage nach dem historischen Unrecht, das
Israel 1948 und danach begangen hat – würde den Gründungsmythen
des israelischen Staates den Boden entziehen. Außerdem würde die
Anerkennung der Palästinenser als Opfer den für die israelischen
Juden selbst beanspruchten Opferstatus beschädigen, was Israel
unter keinen Umständen zulassen will. Denn eine solche
Anerkennung der Palästinenser als Opfer würde „moralische und
existenzielle Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden
zeitigen: Sie müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild
ihres schlimmsten Alptraums geworden sind.“
Zu den
tragischen Aspekten des Zionismus und der israelischen Politik
gehört auch diese permanente Verdrängung der eigenen
Vergangenheit, die eine Verweigerung bedeutet, die Realität
wahrzunehmen – auch die gegenwärtige. So kommt dann eine völlig
verzerrte Sicht auf die Geschichte des eigenen Staates zustande:
dass es nie einen Landraub, nie einen Expansionsdrang auf
fremdes Territorium, nie eine Nakba von 1948, nie einen
Eroberungskrieg von 1967 gegeben hat und schließlich heute auch
gar keine Besatzung existiert. Es wird gern argumentiert, das
Land gehöre seit jeher den Juden und sein eigenes Land könne man
schließlich nicht erobern und besetzen. Das Ergebnis einer
solchen Realitätsverweigerung ist politische Stagnation und
Lähmung, die für die Zukunft des zionistischen Projekts
beziehungsweise des Staates Israel äußerst gefährlich sind.
Israel hat
sich auf diese Weise – wie oben schon angeführt – in eine
politische Sackgasse manövriert, aus der es kein Entkommen gibt.
Da die Zwei-Staaten-Lösung durch Israels Unnachgiebigkeit, das
Land zu teilen, und seine fortgesetzte Siedlungspolitik
unmöglich geworden ist, bleibt nur die Ein-Staaten-Lösung, bei
der die Palästinenser aber den größeren Bevölkerungsanteil
stellen würden. Das aber kann Israel nicht zulassen, was dann
aber zu der Bildung eines – vermutlich diktatorischen –
Apartheidstaates führen würde, der kaum die Anerkennung der
Staatengemeinschaft finden würde und wohl keine großen
Überlebenschancen hätte. Außerdem wäre er kein jüdischer Staat
mehr. Israels Zukunft sieht also auf Grund einer völlig
verfehlten Politik äußerst düster aus. Um dieser Lage zu
entkommen, stellen israelische Politiker auch immer wieder
Überlegungen an, die Palästinenser zu „transferieren“, das
heißt, sie endgültig aus dem Land zu vertreiben.
Es gibt nicht
wenige israelische Intellektuelle, die das zionistische Projekt
bereits als gescheitert ansehen. Einer von ihnen ist Jeff Halper,
er zieht folgende Bilanz: „Der politische Zionismus ist an sein
Ende gekommen. Er mag über die kühnsten Träume der zionistischen
‚Pioniere‘ hinaus erfolgreich gewesen sein, schließlich hat
Israel Millionen von Juden ‚eingesammelt‘, ist ein
prosperierender Staat, eine eindrucksvolle Militärmacht und –
trotz seiner düsteren Menschenrechtsbilanz – ein respektiertes
Mitglied der internationalen Gemeinschaft geworden. Aber es ist
ihm nicht gelungen, mit dem palästinensischen Volk
Verständigung, Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zu
erreichen. Das mag für die meisten Israelis nicht das wichtigste
Anliegen sein, aber es bedeutet endlosen Konflikt und, selbst
wenn wir jede Runde ‚gewinnen‘, wird Israel endgültig zu einem
Staat, der, wie der russisch-jüdische Philosoph Achad Ha’am
(1856 – 1927) befürchtet hat, nichts ‚Jüdisches‘ an sich hat,
ein Staat, der auf Unterdrückung beruht, auf Gewalt und
Nisbul. Der politische Zionismus musste moralisch und
systematisch scheitern, da er sich nicht mit dem anderen im Land
lebenden Volk auszusöhnen verstand. Er ist nicht in der Lage,
einen Weg aus diesem Konflikt zu weisen.“
Moshe
Zuckermann fragt: „Wie lässt sich erklären, dass Israels
offizielle Politik der letzten Jahrzehnte strukturell einen Weg
beschreitet, der nicht anders enden kann als mit dem
historischen Ende des zionistischen Staates?“ Und: „Wie lässt
sich erklären, dass die zionistische Bevölkerung Israels es
nicht schafft (letztlich wohl auch nicht schaffen will), den
historischen Weg zu beschreiten, der den längerfristigen
Fortbestand des von ihr getragenen historischen Projekts einzig
zu garantieren vermöchte? (…) Wollte Israel jemals den Frieden?
Wollte es wirklich längerfristig als zionistischer Judenstaat
existieren?“ In diesen Fragen kommt die ganze Tragödie Israels
zum Ausdruck.
Einer, für
den die Tragödie Israels schon Realität geworden war, war der
israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk. Als Vermächtnis
hinterließ er kurz vor seinem Tod die Worte: „Ich werde bald
sterben, und ich bin nicht traurig. (…) Ich verabschiede mich
gelassen von diesem Staat, den ich kannte in seinen schönsten
Jahren, die zur Hölle gingen. (…) Wir werden zu Grunde gehen mit
wenig Würde und gebrochenen Flügeln.“
(Dieser
Text stammt aus dem Buch von Arn Strohmeyer: Die israelische
jüdische Tragödie. Von Auschwitz zum Besatzungs- und
Apartheidstaat. Das Ende der Verklärung, Gabriele Schäfer Verlag
Herne, 2017)
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