Antisemitismus und Nahostkonflikt
Wie der antideutsche Autor Thomas Haury
„Aufklärung“ für Schulen betreibt
Arn Strohmeyer
Die Antideutschen haben Einzug in deutsche
Lehrerzimmer gehalten. Nun weiß vermutlich kaum
ein Lehrer, was sich hinter diesem Namen
verbirgt, darum sei hier für Aufklärung gesorgt:
Die Antideutschen sind eine politische Sekte ,
die sich aus linken Nach-68er-Gruppen (die
meisten aus dem KB) zu einer den Neoliberalismus
und seine Kriege bejahenden Bewegung entwickelt
haben. Am Anfang stand dabei nach der
Wiedervereinigung noch die nachvollziehbare
Angst im Vordergrund, dass Deutschland zu alter
Macht zurückkehren und in der Zukunft sogar ein
„Viertes Reich“ entstehen könnte, wogegen sie
sich mit Vehemenz wandten. Daher auch der Name
„Antideutsche“.
Die Antideutschen zogen aus der deutschen
Einheit aber noch radikalere Schlüsse. Man müsse
wegen des Holocaust „gegen Deutschland“ sein,
sie leiteten aus dem Mega-Verbrechen
Nazideutschlands dann aber die Hauptmaxime ihrer
ganzen Bewegung ab: eine bedingungslose
Solidarität, ja die totale Identifizierung mit
Juden bzw. Israel. Die Kette der
Schlussfolgerungen fand hier aber nicht ihr
Ende. Denn die nicht hinterfragbare Solidarität
mit Juden und Israel musste – nach ihrem
Verständnis des Nahost-Konflikts – zu einem
abgrundtiefen Hass auf die Palästinenser bzw.
alle Araber und Muslime führen, weil diese
Israel ja angeblich bedrohen.
Der Golfkrieg 1991 gegen den Irak Saddam
Husseins und der Anschlag auf das World Trade
Center in New York (9/11) und die anschließenden
„Anti-Terror-Kriege“ der USA fanden die volle
Unterstützung der Antideutschen, was wiederum
dazu führte, dass sie fanatische Anhänger der
führenden Weltmacht USA und ihres
kapitalistischen Wirtschaftssystems wurden. Was
wiederum zur Folge hatte, dass jede Kritik am
Kapitalismus und seines Finanzsystems als
„Antisemitismus“ verleumdet wurde. Da die Kritik
am Kapitalismus in erster Linie von der Linken
kommt, wurden die Vertreter dieser politischen
Richtung (einschließlich Menschenrechtlern und
Friedensbewegung) zum „antisemitischen“ Feind
erklärt.
Linke, wenn sie denn wirklich welche sind,
denken eigentlich universalistisch, also
internationalistisch und humanistisch und können
so gesehen – von Ausnahmen und Fehlentwicklungen
abgesehen – gar keine Antisemiten sein. Aber die
ideologischen Purzelbäume der Antideutschen
machten es möglich: Aus den ursprünglichen
Kritikern und Gegnern des Kapitalismus wurden
fanatische Verteidiger des Kapitalismus und
seiner neoliberalen Ausprägung. Ihr
Hauptaugenmerk galt und gilt also inzwischen der
Erhaltung dieser Wirtschaftsordnung, was
natürlich automatisch eine Delegitimierung jeder
Kritik am Neoliberalismus bedeutet, und damit
ein mit allen Mitteln – auch verleumderischen
und denunziatorischen – geführter Kampf gegen
die vermeintlichen „Antisemiten“ auf der linken
Seite des politischen Spektrums.
Ein Autor aus dieser ideologischen Richtung, der
promovierte Soziologe und Historiker Thomas
Haury (Freiburg) hat nun eine Broschüre mit dem
Titel Antisemitismus von links. Facetten der
Judenfeindschaft herausgebracht, die von der
Bundeskoordination Schule ohne Rassismus –
Schule mit Courage in der Trägerschaft der
Aktion Courage e.V. verantwortet und vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (Ministerin Franziska Giffey, SPD) im
Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben!
gefördert worden ist. Was in dieser Broschüre
über Antisemitismus und den Nahostkonflikt
ausgeführt wird, kann größtenteils nur als
hanebüchen bezeichnet werden und soll im
Folgenden auch an Hand vieler Originalzitate aus
diesem Bereich widerlegt werden.
Man kann davon ausgehen, dass es kein Zufall
ist, dass ein Ministerium Publikationen wie
diese fördert, in denen der auch offiziell in
der deutschen Politik vertretene
Antisemitismusbegriff propagiert wird. Denn die
von Haury und der Bundesregierung gebrauchten
Antisemitismus-Begriffe sind so gut wie
identisch. Außerdem ist die „Sicherheit Israels“
deutsche „Staatsräson“, was eine immer stärkere
politische, diplomatische, wirtschaftliche und
militärische Zusammenarbeit mit einem kolonialen
Apartheidstaat zur Folge hat sowie einen
wachsenden Einfluss Israels auf die deutsche
Innen- und Außenpolitik bedeutet. Damit ist dann
auch die antidemokratische Beschneidung von
berechtigter Kritik an Israels Politik gegenüber
den Palästinensern verbunden.
Haury behandelt sein Thema nach der von ihm
vertretenen antideutschen Ideologie mit
folgenden Vorgaben: Der heutige Antisemitismus
kommt vor allem von der Linken, wobei nicht ganz
klar wird, wen oder was dieser Begriff genau
meint. Er leugnet natürlich den alten
„klassischen Antisemitismus“ nicht, der in der
Gesellschaft weiter existiert, sich aber
offenbar nicht mehr virulent äußert. Die
Antisemitismus-Gefahr kommt eindeutig von links.
Um das zu belegen, bedient Haury sich, wie es in
der antideutschen Ideologie üblich ist, eines
einfachen, aber sehr wirksamen Tricks: Er trennt
nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel,
was umgekehrt heißt: zwischen Antisemitismus,
Antizionismus und Kritik an Israels Politik.
Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, sei hier
ein kurzer Definitionseinschub erlaubt. Judentum
ist eine kulturelle Gemeinschaft mit bestimmten
Vorgaben, von denen die Religion nur ein Teil
ist, denn es gibt auch viele säkulare und sogar
atheistische Juden. Der Zionismus ist eine
ursprünglich säkulare politische Ideologie (die
Staatsideologie Israels), die als Reaktion auf
den Antisemitismus und die sehr erfolgreiche
Assimilation der Juden im 19. Jahrhundert
entstanden ist und sich zum Ziel setzte, einen
jüdischen Nationalstaat in Palästina zu gründen,
obwohl dieses Land vollständig von Arabern
bewohnt war. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist
der heutige Staat Israel, dessen anhaltende
koloniale Expansion gegenüber den Palästinensern
insgesamt und strukturelle Diskriminierung der
israelischen Palästinenser weltweit auf Kritik
stößt. Diese Kritik wird von Israel selbst und
seinen Anhängern offiziell als „antisemitisch“
bezeichnet, was unverständlich ist, denn in
einer Demokratie, die Israel zu sein
beansprucht, dürfte es kein Tabu für eine solche
Diskussion geben.
Für Haury ist klar: Antizionismus ist
Antisemitismus
Ohne ein Begriffsklärung vorzunehmen, was
Judentum und Zionismus überhaupt sind, ja indem
er Judentum und Zionismus in unzulässiger Weise
miteinander vermengt, wirft er vor allem linken
Kritikern der israelischen Politik und damit
auch des Zionismus vor, in dieser Ideologie „das
durch und durch Böse“ zu sehen. Der linke
Antizionismus sei ein Weltbild, „das
komplizierte politische Konflikte nach einem
simplen Gut-Böse-Schema sortieren will, gepaart
mit dem nationalistischen Bedürfnis, sich mit
einem gegen das Böse kämpfenden ‚Volk‘ zu
identifizieren.“ Mit dem „Volk“ sind natürlich
die Palästinenser gemeint. Nun wird kaum ein
wirklich Linker an den Nahostkonflikt mit den
moralischen Begriffen „gut“ und „böse“
herangehen, sondern viel eher mit Kategorien wie
Siedlerkolonialismus, humanitäres Völkerrecht,
Menschenrechte oder UNO-Resolutionen, die
völkerrechtliche Gültigkeit haben. Aber darauf
geht Haury gar nicht ein. Für ihn steht
apodiktisch fest: Antizionismus ist
Antisemitismus.
Das zeugt nicht zuletzt von historischer
Unwissenheit. Denn seit dem Aufkommen des
Zionismus im 19. Jahrhundert haben Millionen von
Juden aus den verschiedensten Gründen
(religiösen, patriotischen oder
internationalistischen) den Zionismus, also die
Gründung eines jüdischen Staates in Palästina
abgelehnt. Wer also – wie Haury – behauptet,
Antizionismus sei mit Antisemitismus identisch,
behandelt Millionen antizionistischer Juden im
Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und
anderswo (darunter auch die Mehrheit der im
Holocaust umgebrachten Juden) als Antisemiten.
Durch eine solche Argumentation entsteht bei
Haury ein merkwürdig ahistorisches Bild vom
Zionismus und seinem Wirken in Palästina.
Politik besteht ja immer aus der Dialektik von
postulierten oder geschaffenen Fakten und der
Opposition, Auflehnung oder sogar Widerstand
dagegen. Haury übernimmt die völlig ahistorische
Sichtweise der Zionisten auf ihre Geschichte und
Gegenwart, die mythisch und mystifizierend ist.
Denn der offiziellen Geschichtsschreibung
Israels zufolge ist der „Judenstaat“ plötzlich
und einigermaßen unerwartet am 15. Mai 1948
entstanden und ist in der Folgezeit aus einer
Wüste durch die Pionierarbeit der Zionisten in
eine erfolgreiche Demokratie und in einen
blühenden Agrar- und Industriestaat verwandelt
worden.
Dass man, um diesen Staat zu schaffen, das Land
der einheimischen Palästinenser erst vorsichtig
und zurückhaltend besiedelte, es dann teilweise
aufkaufte und schließlich gewaltsam raubte (bei
der Nakba 1948 und im Krieg 1967), einen
Großteil der palästinensischen Bevölkerung ins
Exil trieb (1948 rund 800 000 Menschen, 1967
dann 300 000) und die restlichen Einheimischen
im Kern-Israel bis heute als Fremde einstuft,
bei Haury kommt all dies mit keinem Wort vor. So
kann man die Fakten bei einer Analyse des
Nahostkonflikts bequem umgehen. Bei ihm ist
immer wieder vom Zionismus die Rede, dem die
Linken mit ihrer völlig grundlosen Kritik
diffamieren.
Da die Geschichtsschreibung in Israel sich sehr
eng an die Vorgaben der Staatsideologie
Zionismus anlehnte und damit eher
„Geschichtsmythologie“ schuf (der israelische
Historiker Tom Segev), entstand in den 90er
Jahren in Israel unter den Historikern eine
Gegenbewegung, die sich die „neuen Historiker“
nannten. Sie gingen in die Archive und suchten
dort nach Belegen, was sich vor allem in dem
entscheidenden Jahr 1948 wirklich ereignet hat.
Zu dieser Gruppe gehören Simcha Flapan, Ben
Morris, Avi Shlaim, Ilan Pappe und Tom Segev,
aber auch der Psychoanalytiker Benjamin
Beit-Hallahmi muss als Vorläufer dazu gerechnet
werden.
Haury nimmt die Erkenntnisse dieser Gruppe, die
für die Geschichte des Zionismus von so großer
Bedeutung sind, überhaupt nicht zur Kenntnis,
sie passen eben nicht ins Weltbild. Um zu
demonstrieren, was Zionismus ist und was diese
Ideologie aus dem arabischen Palästina gemacht
hat, sollen hier zwei von den genannten
Historikern und zusätzlich der israelische
Soziologe Baruch Kimmerling zu Wort kommen.
„Die Palästinenser waren für die Zionisten gar
nicht vorhanden“
Benjamin Beit-Hallahmi beschreibt das Vorgehen
der Zionisten gegen die Palästinenser so: „Sie
waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für
die Zionisten eigentlich gar nicht vorhanden,
waren ‚unsichtbar‘ und kamen in den Visionen und
Plänen der Zionisten gar nicht vor. Die
einheimische Bevölkerung musste ausgesondert und
ausgeschieden (eliminated) werden (…) Der Krieg
gegen die Eingeborenen (natives) war schlicht
und einfach ein Teil der Umwandlung der Natur
des Landes, und sie waren ein anderes Element
der Natur, man musste sie [die Eingeborenen]
erobern und sie bekämpfen wie die Sümpfe, die
Hitze und die Malaria.“
In dieser frühen Zeit der Besiedlung Palästinas
erschienen die dort lebenden Araber den
Zionisten nicht einmal als eine Herausforderung,
sondern lediglich als ein Ärgernis, ein
Missstand. Wenn sie Widerstand gegen ihre
Verdrängung von ihrem Land leisteten, dann
betrachteten die Zionisten das schlicht als
„kriminelle Gewalt“. Dieser Widerstand war immer
„illegal“. Palästinensische Widerstandskämpfer
wurden als „Gangster, Räuber und Banditen“
bezeichnet. Oder man prangerte sie als
„Invasoren und Aggressoren“ an. Mit Blick auf
die Verfolgungen in der jüdischen Geschichte sah
man in palästinensischen Widerständlern auch
„heidnische Antisemiten“, die Pogrome gegen
friedliche Juden begingen, sogar der Vergleich
mit der spanischen Inquisition wurde benutzt.
(Original sins. Reflections on the History of
Zionism and Israel, London 1992; S. 63f, 130.)
Der Soziologe Baruch Kimmerling (Universität
Jerusalem, 2007 verstorben) führte für Israels
Politik den Begriff Politizid ein und
definierte ihn so: „Mit Politizid meine ich
einen Prozess, an dessen Ziel das Ende der
Existenz des palästinensischen Volkes als
soziale, politische und wirtschaftliche Größe
steht. Dieser Prozess kann auch eine teilweise
oder vollständige ethnische Säuberung des
‚Landes Israel‘ beinhalten. Diese Politik wird
das Wesen der israelischen Gesellschaft
unausweichlich zerstören und die moralische
Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten
untergraben. So gesehen wird das Ergebnis ein
doppelter Politizid sein – das Ende der
Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das
Ende der jüdischen Gemeinschaft. Die wichtigsten
Werkzeuge dafür [für den Politizid] sind Mord,
lokal begrenzte Massaker, Eliminierung der
Führung und der intellektuellen Elite, die
physische Vernichtung der Infrastruktur und der
Gebäude politischer Institutionen,
Kolonisierung, künstlich erzeugte Hungersnöte,
soziale und politische Isolation, Umerziehung
und gebietsweise ethnische Säuberungen.“
(Politizid, Kreuzlingen/ München 2003, S. 7f.)
Ilan Pappe bilanziert die „ethnische Säuberung
Palästinas“ folgendermaßen: „Im März 1948
treffen sich David Ben Gurion (später der erste
Ministerpräsident Israels) und elf führende
Vertreter der jüdischen Einwanderer in Tel Aviv;
sie beschließen die ethnische Säuberung
Palästinas. Noch während des britischen Mandats
beginnen die Angriffe, geführt von Moshe Dayan
(später Verteidigungs- und Außenminister),
Menachem Begin (später Ministerpräsident und
Außenminister) und Yitzhak Rabin (später
Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger).
Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer
werden zwangsgeräumt, viele dem Erdboden
gleichgemacht; 800 000 Menschen fliehen. Es
kommt zu Vergewaltigungen, zu Plünderungen und
Massakern auch an Frauen und Kindern. Heute
bedecken Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen
die einstigen Dörfer.“ (Die ethnische Säuberung
Palästinas, Frankfurt/ Main 2007, Abspann des
Buches)
Die Beispiele des unmenschlichen Vorgehens der
Zionisten gegen die Palästinenser ließen sich
beliebig verlängern. Zudem dauern die
Unterdrückung und Vertreibung dieses Volkes bis
heute an. Es fällt deshalb schwer zu verstehen,
dass Israel-freundliche, antideutsche Autoren
wie Haury die Realitäten Zionismus,
Siedlerkolonialismus und Besatzung überhaupt
nicht zur Kenntnis nehmen, sondern den Spieß
umdrehen und Kritiker dieses völlig inhumanen
Systems des Antisemitismus bezichtigt werden.
Sie müssen sich dann von einem Israeli, dem sehr
renommierten Philosophen Omri Boehm sagen
lassen, dass der Zionismus nicht mit
humanistischen Werten vereinbar sei. (Interview
DLF, 8.02.2015)
Man muss also fragen, warum Intellektuelle wie
Haury sich die Ideologie des Zionismus
vollständig zu eigen machen und jeder Empathie
und jedem Verständnis für die unterdrückten
Palästinenser eine Absage erteilen, das Leiden
dieses Volkes gar nicht sehen wollen. Man muss
dafür eine missglückte Verarbeitung der
deutschen Vergangenheit verantwortlich machen.
Es gab zwei Möglichkeiten der Reaktion auf die
Verbrechen der Nazis – die universalistische
„Das darf nie wieder passieren – keinem Menschen
auf dieser Welt!“ und die partikularistische
„Das darf uns – den Juden – nie wieder
passieren!“. Israel hat sich für die zweite
Version entschieden und die deutsche
Mainstream-Politik und Autoren wie Haury haben
sich dem weitgehend angepasst.
Vollständige Identifizierung mit Juden
Der israelische Soziologe und Philosoph Moshe
Zuckermann sieht als Grund für eine solche
völlige Identifizierung mit „Juden“ und Israel
(wie sie Haury und seine antideutschen
Mitstreiter betreiben) auch eine missglückte
Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Er
fragt, mit welchem Israel sich die Antideutschen
identifizieren und antwortet: Es ist ein
abstraktes, seiner Wirklichkeit quasi enthobenes
Israel, das man sich als ideologische
Zufluchtstätte zurechtkonstruiert hat, dabei
werden die Verbrechen Israels an den
Palästinensern aber völlig ausgeklammert. Die
Antideutschen nehmen also Israel in seiner
Realität gar nicht wahr, dieser Staat ist für
sie nur eine Projektionsfläche ideologisch
verformter deutscher Befindlichkeiten.
Zuckermann fragt: „Sollte sich etwa die
abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich
verkommenen und verbrecherischen Israel als eine
psycho-ideologisch motivierte Entlastung der
historischen Schuld der Deutschen erweisen? Man
misst diese Möglichkeit normalerweise der
deutschen Solidarität mit den Palästinensern
bei. Muss man nicht annehmen, dass sie sich viel
gravierender, wenngleich auch glänzend
kaschiert, in der überbordenden Solidarität mit
dem Judenstaat niedergeschlagen hat?“ Totale
Identifizierung mit Israel also, um das eigene
Schuldgefühl abzutragen. Zuckermann sieht in der
Überidentifizierung mit „Juden“ also eine
Schuldabtragung, eine selbst erteilte
Vergebung.: „Wenn man selbst Jude sein darf, ist
man nicht mehr ‚Täter‘, sondern ‚Opfer‘, hat
also etwas nagend Quälendes an sich selbst
‚wiedergutgemacht‘.“ (Der allgegenwärtige
Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der
Vergangenheit, Frankfurt/ Main 2018, S. 177f.)
Im Folgenden soll auf die wichtigsten Argumente
Haurys, die ja zugleich massive
Antisemitismus-Vorwürfe gegen „Linke“
darstellen, eingegangen werden. Zunächst der
Antisemitismus. Was Haury über den modernen
Antisemitismus (den vor Auschwitz) schreibt, ist
sicher richtig, aber auch längst Gemeingut: dass
die Juden in dieser Weltanschauung als absolute
Feinde und als Gegenbild zur Moderne gesehen
wurden, als „Ausbeuter“ und „Parasiten“, die
über Geld, Handel und Banken „raffendes Kapital“
schaffen würden, das im Gegensatz zum
„schaffenden Kapital“ der ehrlichen Arbeit eines
Volkes stehe. Dass man die Juden kollektiv
dämonisierte, weil sie angeblich (über
Plutokratie und/ Bolschewismus usw.) die
„Weltherrschaft“ anstrebten, dass sie hinter den
Kulissen überall die Fäden für ihre Interessen
ziehen würden, dass sie der Inbegriff alles
Bösen seien, weil sie eine „andere“ Rasse sein
sollten. Solche Verschwörungstheorien sind
hinlänglich bekannt. Das ist das antisemitische
Weltbild des 19. Jahrhunderts, das dann unter
Hitler seinen völkermörderischen Höhepunkt fand.
Was hat ein solcher ideologischer
Irrationalismus aber mit der ‚Linken‘ zu tun? Im
Wesentlichen erhebt Haury folgende Hauptvorwürfe
gegen die ‚Linke‘: Sie verkehre erstens die
Rollen von Tätern und Opfern – Juden würden von
unschuldigen Opfern zu Tätern umgedeutet, die
mit Nazis identisch seien. Das Vorgehen der
Israelis selbst rufe zudem Antisemitismus
hervor. Letzten Endes behaupte die ‚Linke‘ das,
um die Schuld der Täternation zu minimieren und
sich selbst von ihrer Geschichte zu entlasten.
Dann wird zweitens der Kritik der ‚Linken‘ am
Finanzsektor und am Kapitalismus eine
bedenkliche „Nähe“‘ zum Antisemitismus
unterstellt. Genannt werden ausdrücklich die
Kritik des damaligen SPD-Vorsitzenden Franz
Müntefering am Vorgehen der großen Hedgefonds,
die dieser als „Heuschrecken“ bezeichnet hatte,
weil sie Firmen und Industriebetriebe
aufkauften, sie in Teile zerlegten und dann mit
Profit verkauften, wobei sehr viele Menschen um
ihren Arbeitsplatz gebracht wurden. Für Haury
ist eine Kritik an solchen Methoden
Antisemitismus.
Auch die Kritik Gewerkschaften verdi und
der IG-Metall sowie der
occupy-Bewegung-Wall-Street an einem solchen
„Raubtierkapitalismus“ enthält für Haury eine
„deutliche strukturelle Nähe zur antisemitischen
Weltsicht“, vor allem wegen der Verwendung von
Tiermetaphern wie „Heuschrecken“, Raubtiere“ und
„Stechmücken mit langem Saugrüssel“. Drittens
stößt sich Haury an dem Begriff einer
„proisraelischen“ oder „zionistischen Lobby“,
auch das ist für ihn ein Beispiel für
Antisemitismus. Schließlich gehört hierhin
viertens auch noch der Komplex BDS.
Können Juden keine „Täter“ sein?
Zur Umdeutung der Rollen von Opfern und Tätern
hat der Israeli Moshe Zuckermann – wie oben
angeführt – eigentlich alles gesagt. Gerade der
Linken (wenn der Begriff weit gefasst ist und
damit auch die Kritiker der israelischen Politik
gemeint sind) kann man eine mangelnde
Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit nicht
vorwerfen. Wenn die NS-Verbrechen überhaupt
aufgearbeitet worden sind, dann von links, denn
auf der Rechten überwog immer das
Schlussstrich-Denken.
Zu der Behauptung, dass sich die jüdischen
Israelis nicht als Täter an den Palästinensern
versündigt hätten, kann man nur kommen, wenn man
die Geschichte des Zionismus leugnet und den
zionistischen Staat mit seiner völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Politik als Unschuldslamm
betrachtet, was Haury tut. Es waren zudem ja
auch nicht alle in Israel lebenden Juden Opfer
des Holocaust, sondern etwa zwei- bis
dreihunderttausend Überlebende aus den Lagern,
die aber in Israel wenig willkommen waren, weil
diese geschundenen und gebrochenen Menschen
nicht dem Ideal des „neuen Juden“ entsprachen,
eines jungen, tatkräftigen und wehrhaften
Pioniertyps, der den neuen Staat aufbauen
sollte. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina
(der Jischuw) vor der Staatsgründung hatte zudem
wenig oder gar kein Interesse am Holocaust
gezeigt, während dieser in Europa stattfand,
weil der Aufbau des Staates absoluten Vorrang
genoss und man durch den grassierenden
Antisemitismus in Deutschland und Europa
weiteren Zulauf von jüdischen Einwanderern
erhoffte. Tom Segev hat diese Fakten in seinem
Buch Die siebte Million (das sind die
Überlebenden) ausführlich beschrieben.
Zum Beleg, dass keineswegs alle Israelis sich
als Opfer fühlen oder den Opferstatus für sich
beanspruchen (was Haury offensichtlich glaubt),
ja diesen sogar als Gefahr ansehen, seien hier
kritische Stimmen angeführt. Abraham Burg,
ehemaliger Vorsitzender der Jewish Agency und
Sprecher des israelischen Parlaments (der
Knesset) sieht es als eine Fehlentwicklung
Israels an, dass es aus der Opferrolle eine
staatliche Ideologie gemacht hat und sieht für
Israel nur eine Zukunft, wenn es sich vom
Holocaust löst.
Er schreibt: „Die zionistische Reaktion [auf den
Holocaust, genau gesagt aber erst nach dem
Eichmann-Prozess 1961] erfolgte umgehend. Israel
erklärte sich zum Erben der Opfer, zu ihrem
alleinigen offiziellen Vertreter in der Welt und
ernannte sich zum Sprecher der ermordeten
Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote
ein. Das junge Israel, das als gesunde
Alternative zur kranken Diaspora gedacht war,
hielt den Holocaust-Opfern posthum vor: ‚Wir
haben es euch gesagt‘ und transplantierte ihre
abgetrennten Organe in seinen jungen Körper. Von
einer neuen Alternative zur Diaspora verwandelte
sich das junge bahnbrechende Israel in ein Land
mit der Mentalität einer alten jüdischen, für
immer verfolgten Kleinstadt.“ (Hitler besiegen.
Warum sich Israel endlich vom Holocaust lösen
muss, Frankfurt/ New York 2009, S.90.)
Der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard
sieht in der von seinem Staat vertretenen Rolle
des ewigen Opfers die Gefahr eines
Nicht-Wahrnehmen-Könnens der Realität: „Was
können wir aus Israels Pathologie lernen? Dass
es ein bestimmtes, tiefes, unterdrücktes Gefühl
gibt, über das wir zwar häufig reden, aber das
wir noch lange nicht aufgearbeitet haben, so
dass man uns immer noch zu unterdrückten
Handlungen drängt. Ich nenne das Gefühl unser
‚Schaudern‘, es ist unsere existentielle
Bedrohung. Dieses Schaudern gründet nicht nur
auf dem Wunsch der Araber, uns zu vernichten,
der ja teilweise noch existiert, sondern auch
auf unserer Vergangenheit: dem Holocaust und
zahlreichen Pogromen. Das Schaudern macht es uns
schwer, zwischen einer realen, die Existenz
bedrohenden Gefahr und unserer verzerrten
Wahrnehmung unterscheiden zu können. Wir weigern
uns, Dinge in einem anderen Licht zu sehen als
in dem unserer schwierigen Vergangenheit.“
(Israel auf der Couch. Zur Psychologie des
Nahostkonflikts, Düsseldorf 2001, S.107.)
Moshe Zuckermann sieht in der israelischen
Ideologie, ewig das Opfer sein zu wollen, sogar
einen Verrat an den Opfern des Holocaust:
„Zentral wirkt sich dabei die instrumentelle
Vereinnahmung der Opferkategorie aus: Man
basiert die Selbstviktimisierung [sich selbst
zum Opfer erklären] auf der paranoiden
Grundannahme, dass ‚alle Welt gegen uns‘ sei,
auf dem religiös begründeten Fundamentalglauben,
‚dass wir allein in der Welt‘ seien, mithin uns
‚in alle Ewigkeit auf Waffengewalt‘ werden
stützen müssen – ohne aber Rechenschaft darüber
ablegen zu wollen, welchen gravierenden Anteil
man an der Genese der beklagten Einsamkeit
selbst hat beziehungsweise wie blind man
mittlerweile gegenüber dem unabweisbaren
Kausalnexus zwischen der israelischen
Gewaltanwendung gegen die Palästinenser und der
weltweiten Verurteilung Israels angesichts
dieser verbrecherischen Okkupationspolitik
geworden ist.
Sich selbst als Opfer zu wähnen, während man
sich historisch zum Täter gewandelt hat, ist
letztlich nichts weiter als moralischer Verrat
an den historischen Opfern des eigenen
Kollektivs, deren (beziehungsweise deren
‚Andenken‘) man sich perverserweise bedient, um
die eigene, gewaltdurchwirkte, immer neue Opfer
erzeugende Politik zu rechtfertigen. Denn genau
das bedeutet ja, der Opfer im Stande ihres
Opferseins nicht gedenken zu wollen. Wer sich
selbst bewusst einmauert, darf sich nicht
wundern, wenn es ihm im eigenen Gemäuer einsam
werden mag, unter Umständen sogar
lebensbedrohlich einsam; wenn er diese
Einsamkeit zur Ideologie erhebt, mithin das
eigene falsche Bewusstsein mit der Erinnerung an
die Verfolgungsgeschichte des eigenen Kollektivs
verfestigend begründet, dann instrumentalisiert
er nicht nur das Andenken der Opfer nämlicher
Verfolgungsgeschichte, sondern pervertiert es
aus letztlich narzisstischen Beweggründen und
Bedürfnissen.“ (wie oben, S. 20f.)
Plädoyer für das Vergessen
Der Diskurs über die Umkehrung von Täter- und
Opferrolle (was ja nicht gleich eine
Gleichsetzung von Zionisten und Nazis bedeutet)
ist in Israel offenbar kein Tabu, ist in den
Augen von Haury und Vertretern seiner Richtung
reiner Antisemitismus. Angeregt wurde diese
Diskussion im Übrigen von Jehuda Elkana, einem
Auschwitz-Überlebenden, der 1988 einen Aufsatz
mit dem Titel Für das Vergessen (Haaretz
16.3.1988) vorlegt hatte, in dem er die Frage zu
beantworten versuchte, wie Israelis zu Tätern
werden könnten. Der Artikel erschien im Gefolge
mehrerer Presseberichte über Exzesse
israelischer Soldaten in den besetzten Gebieten.
Elkana fragte sich, was die israelischen
Soldaten zu ihren brutalen Taten veranlasst
habe, und kam zu dem Schluss, dass es nicht etwa
individuelle Frustration gewesen sei, sondern
eine tiefe existentielle Furcht, die von
bestimmten Interpretationen des Holocaust
genährt werde und auf dem Glauben basiere, dass
die ganze Welt gegen das jüdische Volk – dieses
ewige Opfer – eingestellt sei.
Er schrieb: „In diesem uralten Glauben, dem sich
viele Menschen auch heute verschreiben, sehe ich
Hitlers paradoxen und tragischen Sieg.“ Hätte
der Holocaust das Bewusstsein des Volkes nicht
so tief durchdrungen, hätte der Konflikt
zwischen den Juden und den Palästinensern nicht
zu so vielen „anormalen“ Reaktionen geführt und
wären die diplomatischen Bemühungen
wahrscheinlich nicht im Sande verlaufen.
Elkana geht dann auf die Gefahren des Erinnerns
ein: „Eine Atmosphäre, in der eine ganze Nation
ihre Beziehung zur Gegenwart und ihre Gestaltung
der Zukunft von den Lehren der Vergangenheit
abhängig macht, ist eine Gefahr für die Zukunft
einer jeden Gesellschaft, die wie in anderen
Ländern, in relativer Gelassenheit und relativer
Sicherheit leben will. (…) Sogar die Demokratie
selbst ist bedroht, wenn die Erinnerung der
Nazi-Opfer im politischen Prozess eine aktive
Rolle spielt. Alle faschistischen Regime mit
ihren Ideologien haben das sehr wohl verstanden.
(…) Wenn man vergangene Leiden als politisches
Argument gebraucht, ist das so, als erwecke man
die Toten zu Partnern im demokratischen Prozess
der Lebenden.“
Er sehe keine größere Gefahr für die Zukunft
Israels als die Tatsache, dass der Holocaust
tief und systematisch im Bewusstsein der
israelischen Öffentlichkeit eingepflanzt werde.
Er plädiere deshalb für das Vergessen. Es gelte,
sich für das Leben einzusetzen, die Herrschaft
der historischen Erinnerung dürfe nicht das
Leben der Menschen in Israel bestimmen, was aber
nicht Geschichtsvergessenheit bedeuten dürfe.
Natürlich stießen die Ausführungen Elkanas nicht
nur auf Zustimmung, sie zeigen aber, dass selbst
in diesem Staat ein kritischer Diskurs über die
Rolle von Tätern und Opfern möglich ist, der für
Haury reiner Antisemitismus wäre. Nur der
jüdische Publizist und Zionist Hendryk M. Broder
fällt da aus der Rolle, auf den sich Haury des
Öfteren positiv beruft. Denn er bekannte
zynisch: „Es stimmt, Israel ist heute mehr Täter
als Opfer. Das ist auch gut und richtig so,
nachdem es die Juden fast 2000 Jahre lang mit
der Rolle der ewigen Opfer versucht und dabei
nur schlechte Erfahrungen gemacht haben. Täter
haben meistens eine längere Lebenserwartung als
Opfer und es macht mehr Spaß, Täter als Opfer zu
sein.“ (Jüdische Allgemeine 17.03.2005, S.3.)
Ist Kritik am Kapitalismus antisemitisch?
Es ist ein antideutsches Credo und deshalb auch
für Haury, dass jede Kritik am Kapitalismus und
dem internationalen Finanzsektor leicht in
antisemitisches Fahrwasser geraten kann oder
sogar direkt antisemitisch ist. Hier wird im
Grunde behauptet, dass es auch Antisemitismus
geben kann, in dem der Begriff „Jude“ oder
„Juden“ gar nicht vorkommt, dass sich also der
Antisemitismus schon in gewissen Anspielungen
oder Codewörtern versteckt wie Kapitalismus,
Börse, internationales Finanzsystem oder
Wall-Street. Auch die Antideutschen und Anhänger
des israelischen Mainstreams haben also wie die
wirklichen Antisemiten ihre Stereotypen und
Verschwörungstheorien. Nun muss ja die Frage
erlaubt sein, warum das neoliberale
Wirtschaftssystem, das derzeit global
vorherrschend ist, und der Finanzsektor nicht
wie alle anderen politischen und ökonomischen
Tatbestände und Probleme einem öffentlichen
Diskurs unterliegen sollen.
Es ist kein Geheimnis, dass die neoliberale
Wirtschaftspolitik durch Privatisierung und
Deregulierung zum Abbau des Sozialstaats geführt
hat und den gesellschaftlichen Reichtum von
unten nach oben verteilt hat. Damit verbunden
ist eine deutliche Gefährdung demokratischer
Rechte. Die Finanzkrise des Jahres 2008, die
durch weltweite, zum Teil kriminelle
Spekulationen ausgelöst worden war und bei der
das globale Finanzsystem völlig aus der
Kontrolle geraten war, konnte nur durch
demokratisch nicht legitimierte, umfassende
finanzielle Hilfsmaßnahmen der Staaten
(„Rettungsschirme“) beigelegt werden, wodurch
viel Geld für andere Bereiche – Infrastruktur,
Gesundheit, Soziales, Bildung, Umwelt usw. –
verloren ging. Eine nie gekannte und anhaltende
Vermögenskonzentration, Steuerhinterziehung, die
schamlose Ausnutzung von Offshore oder
EU-internen Steuerparadiesen (Panama-Papers, Lux
Leaks und andere) gehören zu den Tatsachen.
Sozialwissenschaftler haben diesen Vorgang als
„kapitalistische Elitendemokratie“ bezeichnet
und kritisiert, dass diese Entwicklung
weitgehend unidentifizierbar und damit gleichsam
unsichtbar abgelaufen ist. Aber ist Kritik an
diesen Vorgängen antisemitisch, weil von dieser
Kritik vielleicht auch jüdische Profiteure und
Spekulanten betroffen sein könnten?
Unterstellungen in dieser Richtung sind absurd,
weil sie den öffentlichen Diskurs über die
Wirtschafts- und Finanzpolitik und auch die
Wissenschaftsfreiheit in Frage stellen. Die
Vermutung drängt sich auf, dass Leute wie Haury
sich eher abschirmend und schützend vor den
internationalen Markt- und Finanzradikalismus
stellen wollen und die Interessen der
Hauptakteure dort vertreten.
Gibt es eine zionistische Lobby?
Auch der Begriff einer „zionistischen“ oder
„jüdischen“ Lobby stößt Haury auf und wird von
ihm als antisemitisch angeprangert. Nun hat
heute so gut wie jeder Lebensbereich
(Wirtschaft, Industrie, Arbeitgeber,
Arbeitnehmer, Handwerk, Kirchen und kulturelle
Einrichtungen) seine Lobby. Im
EU-Transparenzregister in Brüssel waren am 6.
August 2020 insgesamt 11 900
Lobby-Organisationen aufgeführt (FAZ 13.08.
2019). Warum sollen das Judentum und die
Zionisten, die weltweit vernetzt sind, nicht
auch ihre Lobby und deren Vertreter haben? Was
wäre daran gleich antisemitisch? Der Lobbyismus
ist eine Realität und hängt eng mit dem
gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen
System zusammen. Dass die Zionisten schon immer
in den USA eine starke Lobby hatten und noch
haben, ist kein Geheimnis. In jeder Geschichte
des Zionismus ist das nachzulesen. Ohne eine
zionistische Lobby in den USA wäre es sicher
nicht zu dem für Israel so günstigen und für die
Araber so unvorteilhaften Teilungsbeschluss der
UNO 1947 gekommen und wahrscheinlich auch nicht
zur Gründung Israels.
Tom Segev beschreibt das sehr erfolgreiche
Wirken der zionistischen Lobby in Washington und
New York in seiner Ben Gurion-Biographie
ausführlich – und zwar das Wirken dieser Lobby
in vorstaatlicher Zeit und nach der
Staatsgründung 1948. Immer wenn die Zionisten
Geld brauchten – für den Staatsaufbau oder für
Waffen – schickten sie ihre Emissäre in die USA
(zumeist war es Ben Gurion selbst oder Golda
Meir) und trommelten dort wohlhabende Juden
zusammen, die dann auch reichlich spendeten. Bei
Segev heißt es zum Jahr 1948: „Das meiste Geld
stammte aus Amerika. Golda Meir war es gelungen,
bei den Juden dort eine für damalige
Verhältnisse beinahe fantastische Summe
lockerzumachen: an die 50 Millionen Dollar;
dreißig Millionen davon waren für Palästina
bestimmt. ‚Ohne dieses Geld weiß ich nicht, wie
wir den Unabhängigkeitskrieg überstanden
hätten‘, sagte sie.“
Ben Gurion sei bewusst gewesen, schreibt Segev,
„dass die zionistische Zukunft in hohem Maß vom
Geld der amerikanischen Juden abhängig war.“ Als
der Krieg gegen die Araber 1948/49 gewonnen war,
führte Ben Gurion zwei Gründe für den Sieg an:
erstens, dass die Araber „Trottel“ und
militärisch außerordentlich schwach gewesen
seien und zweitens die Unterstützung, die Israel
von den amerikanischen Juden erhalten habe –
Soldaten, Militärexperten und Geld.
An anderer Stelle schreibt Segev: „Er [Ben
Gurion] wusste auch, dass das zionistische
Aufbauwerk ohne den Einfluss, das Geld und die
Wählerstimmen der amerikanischen Juden nicht
vorankommen würde und dass viele amerikanische
Juden an ihren Wohnorten mehr ausrichten konnten
als in ihrer historischen Heimat. (…) Es lag
also im Interesse des historischen Aufbauwerks
in Erez Israel, dass Juden weltweit in ihren
Ländern stark und einflussreich waren. (…)
Ähnlich den jüdischen Unterstützern Israels, die
nicht selten unter Verstoß gegen amerikanische
Gesetze einen Teil des Unabhängigkeitskrieges
finanzierten, wurde später auch der Kernreaktor
in Dimona durch Spenden von Juden in aller Welt
mitfinanziert.“ (Tom Segev: David Ben Gurion.
Ein Staat um jeden Preis, München 2018, S. 155,
435, 472, 698f, 497f.)
Die AIPAC und der US-Kongress
Der amerikanisch-jüdische Historiker Peter
Novick von der Universität Chicago geht in
seinem viel gerühmten Werk Nach dem
Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord [in
den USA, muss man ergänzen] ausführlich auf die
jüdische Lobby dort ein. Zunächst fragt er,
warum Amerika stets hinter Israel gestanden
habe. Seine Antwort: Washington habe den
zionistischen Staat während des Kalten Krieges
unterstützt, weil man einen Verbündeten im Nahen
Osten gegen die Sowjetunion und ihre Vasallen
gebraucht habe. Später dann habe man Israel
unterstützt, um Frieden in der Region mittels
eines Gleichgewichts zu bewahren.
Zur Rolle der jüdischen Lobby in den USA merkt
Novick an: „Zusätzlich zu den geopolitischen
Erwägungen, die Entscheidungen in der Regierung
beeinflusst haben, kam noch die lautstarke
‚jüdische Lobby‘ hinzu, ausgehend vom
American Israel Public Affairs Committee.
AIPAC, das mit Hilfe Hunderter von politischen
Aktionskomitees operierte. Es hat diejenigen
Kongressmitglieder großzügig belohnt, die Israel
unterstützt hatten, und jene unbarmherzig
bestraft, die Israels Politik kritisch
gegenüberstanden. Der spektakulärste Sieg der
AIPAC, aber bei weitem nicht der einzige, war
die Niederlage des Senators Charles Percy,
Vorsitzender der Foreign Relations Committee
(des Auswärtigen Ausschusses), der sich einmal
zu oft zugunsten der Palästinenser ausgesprochen
hatte. ‚Alle Juden in Amerika, von der einen
Küste zu anderen, haben sich verbündet, um Percy
des Amtes zu entheben‘, prahlte AIPAC-Direktor
Tom Dine. ‚Und Amerikas Politiker haben
verstanden.‘“
Für Haury ist es auch ein Kriterium für
Antisemitismus, wenn behauptet wird, Juden
spielten in den Medien der USA eine
entscheidende Rolle. Für Novick ist das
überhaupt kein Problem. Er stellt die Frage,
warum die amerikanische Regierung es den Bürgern
des Landes zur Pflicht gemacht habe, sich den
Film Schindlers Liste anzusehen. Er
schreibt: „Ein Gutteil der Antwort ist in der
Tatsache zu suchen – die dadurch nicht weniger
eine Tatsache wird, dass Antisemiten sie zu
einem Ärgernis erklären – , dass die Juden eine
wichtige und einflussreiche Rolle in Hollywood,
in der Fernsehindustrie sowie beim Verlegen von
Zeitungen, Zeitschriften und Büchern spielen.
Jeder, der die große Aufmerksamkeit erklären
möchte, die dem Holocaust während der letzten
Jahre in diesen Medien zuteil wurde, ohne diese
Tatsache einzubeziehen, wäre naiv oder
unaufrichtig. Dieser Teil der Antwort hat
natürlich nichts mit einer jüdischen
Verschwörung zu tun – die Juden in den Medien
tanzen nicht nach der Pfeife der ‚Ältesten von
Zion‘.“
Während des Krieges von 1967, den Israel gegen
die arabischen Staaten führte, wuchs in den USA
unter der jüdischen Bevölkerung die Angst um das
Überleben von Israel. Es gab eine Unmenge von
Kundgebungen und Spendenveranstaltungen. Um die
Rolle der jüdischen Lobby in diesem Zusammenhang
deutlich zu machen, zitiert Novick den
Funktionär der jüdischen Anti-Defamation-League
(ADL) Oscar Cohen, der an einen Freund schrieb,
dass das organisierte amerikanische Judentum
eine Agentur der israelischen Regierung sei,
deren „Instruktionen es von Tag zu Tag befolgt“.
Novick fährt fort: „Das allgemeine jüdische
Verhalten erfuhr eine gründliche
‚Israelisierung‘. Zum Kennzeichen des guten
Juden oder der guten Jüdin wurde die Tiefe
seiner oder ihrer Bindung an Israel. Das
Versäumnis, religiöse Pflichten wahrzunehmen und
eine fast vollständige Unkenntnis des Judaismus
waren erlaubt; das Fehlen der Begeisterung für
die israelische Sache (ganz zu schweigen von
öffentlicher Kritik an Israel) wurde
unverzeihlich.“ (S. 198, 222f, 267f.)
Mearsheimers und Walts aufsehenerregendes Buch
über die Israel-Lobby
Den besten Beleg für die Existenz einer sehr
einflussreichen jüdischen Lobby in den USA haben
die beiden Politikwissenschaftler John J.
Mearsheimer (Universität von Chikago) und
Stephen M. Walt (Harvard Universität) mit ihrem
Buch Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische
Außenpolitik beeinflusst wird (Frankfurt/
Main 2007) geliefert. Sie demonstrieren ihre
Thesen im Detail unter anderem anhand der
US-Politik gegenüber Syrien, dem Irak und Iran.
Aufschlussreich ist in diesem Buch das Kapitel:
Die Lobby gegen die Palästinenser. Der damalige
US-Präsident George W. Bush vertrat im Konflikt
Israels mit den Palästinensern zunächst eine
gemäßigte Linie und setzte sich für die Bildung
eines palästinensischen Staates ein. Er hatte
offenbar begriffen, dass es im nationalen
Interesse der Amerikas lag, den
arabisch-israelischen Konflikt so schnell wie
möglich zu lösen.
Israels damaliger Ministerpräsident Ariel Sharon
und die Israel-Lobby in den USA lehnten eine
solche Lösung aber ab und setzten unter Berufung
auf den Anschlag von 9/11 in New York voll auf
den „Krieg gegen den Terrorismus“, wobei man
diesen Krieg mit Israels „Krieg gegen den
Terror“ (das heißt gegen die Palästinenser)
gleichsetzte und den Präsidenten der
palästinensischen Autonomiebehörde, PLO-Chef
Jassir Arafat, als den Hauptakteur des Terrors
ausmachte. Er sei das größte Hindernis für eine
Beilegung des israelisch-palästinensischen
Konflikts.
Sharon und die Lobby setzten sich gegen Bush
durch: „Sharon und die Israel-Lobby hatten es
mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und
seinem Außenminister Colin Powell aufgenommen
und den Sieg davongetragen.“ Die beiden Autoren
zitieren die führende spanische Zeitung El País,
die zu der Niederlage Bushs anmerkte: „Wenn das
Gewicht eines Landes am Grad seines Einflusses
auf Ereignisse gemessen wird, dann ist nicht
Amerika, sondern Israel die Supermacht.“ Und
Walt und Mearsheimer ergänzen: „Es waren die
proisraelischen Kräfte in den USA und nicht
Sharon oder Israel, die die Hauptrolle spielten,
und Bushs Anstrengungen, eine gerechtere,
fairere Politik zu betreiben, zunichtemachten.“
Die Existenz einer jüdischen Lobby zu leugnen
und jede gegenteilige und gut belegte Behauptung
gleich des Antisemitismus zu zeihen, wie Haury
das tut, führt sich selbst ad absurdum.
Mearsheimer und Walt haben das natürlich gesehen
und antworten darauf: „Die gegenwärtigen
Verhältnisse im Nahen Osten stellen für die
Hardliner der Israel-Lobby natürlich ein
ernsthaftes Dilemma dar. Statt einen schwachen,
von Feinden umringten Staat zu verteidigen, der
nach einer großen historischen Katastrophe [dem
Holocaust] geschaffen wurde, müssen sie heute
einen mächtigen, modernen und prosperierenden
Staat verteidigen, der seine überlegene Stärke
benutzt, um Palästinensern Land wegzunehmen,
ihnen umfassende politische Rechte zu verwehren
und mit Problemen belasteten Nachbarstaaten wie
dem Libanon hart zuzusetzen.“
Und weiter: „Wenn dieses Vorgehen bei
vernünftigen, gemäßigten Kreisen Kritik auslöst,
sehen sich diese Gruppen gezwungen, Menschen zu
verunglimpfen und zu marginalisieren, die
offenkundig weder Extremisten noch Antisemiten
sind. Neonazis und Holocaustleugner zu
verurteilen ist durchaus sinnvoll. (…) Je mehr
die Hardliner der Lobby sämtliche Kritiker
unterschiedslos angreifen, desto mehr offenbaren
sie, dass sie sich von der allgemeinen
amerikanischen Verpflichtung auf freie
Meinungsäußerung und offene Diskussion
verbschiedet haben. Und wenn praktisch jede
Kritik an Israel mit Antisemitismus
gleichgesetzt wird, läuft dieser Vorwurf Gefahr,
jeden Sinn zu verlieren.“ (S. 286f, 295, 484f.)
Diese letzten Sätze der beiden Politologen sind
zwar auf amerikanische Verhältnisse bezogen,
sind aber auf die gegenwärtige Situation in
Deutschland gut anwendbar. Haury und die
Anhänger Israels tun alles, ihre Sicht auf den
Nahostkonflikt mit allen Mitteln durchzusetzen.
Die Vertreter der universalistischen Richtung,
die sich für die Einhaltung des Völkerrechts und
der Menschenrechte – gerade auch für die
Palästinenser – einsetzen, haben kaum noch eine
Chance, Säle für ihre Veranstaltungen zu
bekommen oder in den wichtigen und
einflussreichen Medien zu Wort zu kommen. Diese
Entwicklung ist durch die BDS-Resolution, die
der Bundestag beschlossen hat, noch verstärkt
worden. Die Meinungsfreiheit, eine der
elementarsten Rechte in jeder Demokratie, ist
dadurch in ernsthafte Gefahr geraten.
BDS: Auch friedlicher Widerstand gegen Unrecht
soll antisemitisch sein
Der vierte Punkt, den Haury als antisemitisch
ausmacht, ist die aus der palästinensischen
Zivilgesellschaft kommende BDS-Bewegung –
Boykott, Disvestment, Sanktionen. Haury kann
sich da auf die Resolution des Bundestages vom
17. Mai 2019 beziehen, die BDS auch als
antisemitisch verurteilte. Er muss aber
zugestehen, dass sogar israelische
Intellektuelle gegen diesen Beschluss
protestierten und BDS nicht als antisemitisch
ansehen. Der israelische Journalist Gideon Levy
von der Tageszeitung Haaretz schrieb zu
der Bundestagsresolution: Deutschland solle sich
schämen, es sei nun zum Handlanger der
israelischen Politik geworden. Es mag in der
BDS-Bewegung vielleicht auch ein paar
Antisemiten geben, fuhr er fort, aber die
Mehrheit der BDS-Anhänger seien Personen mit
Gewissen, die glaubten, dass ein Apartheidstaat
es verdient habe, boykottiert zu werden. „Was
ist daran antisemitisch?“ fragt er.
Zur Vorgeschichte von BDS: Im Jahr 2004 hatte
der Internationale Gerichtshof in Den Haag in
einem Gutachten Israels Mauerbau als
völkerrechtswidrig verurteilt, soweit er auf
palästinensischem Boden stattfinde (die
Trennmauer umfasste bereits 2015 680 Kilometer,
obwohl die völkerrechtlich anerkannte „grüne
Linie“ von 1967 nur 320 Kilometer lang ist). Die
Staatengemeinschaft wurde aufgefordert, die
illegale Situation, also die Ergebnisse des
Mauerbaus nicht anzuerkennen und keine Hilfe
dabei zu leisten, die Situation
aufrechtzuerhalten, die durch den Bau der Mauer
entstanden sei. Doch als die Staatengemeinschaft
auf das Gutachten nicht reagierte, riefen 170
Organisationen der palästinensischen
Zivilgesellschaft zu BDS auf. In dem Aufruf
heißt es: „Die gewaltlosen Strafmaßnahmen müssen
so lange aufrechterhalten werden, bis Israel
seiner Verpflichtung nachkommt, den
Palästinensern das unveräußerliche Recht der
Selbstbestimmung zuzugestehen, das zur Gänze den
Maßstäben des internationalen Rechts
entspricht.“
Was sind außerdem die Ziele von BDS? Sie will
erstens die Besetzung allen arabischen Landes
beenden und die Mauer abreißen, die die
Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv
einschränkt. (Hier hätten die Initiatoren
allerdings etwas präziser definieren müssen, was
unter „arabischem Land“ zu verstehen ist, was
später aber erfolgt ist.) Die Bewegung strebt
zweitens an, dass das Grundrecht der
arabisch-palästinensischen Bürger/innen auf
völlige Gleichheit anerkannt wird. Diese
Bevölkerungsgruppe ist durch das neue
israelische Nationalstaatsgesetz sogar offiziell
zu Bürgern zweiter Klasse geworden. Drittens
sollen die Rechte der palästinensischen
Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem
Eigentum zurückzukehren, wie es in der
UNO-Resolution vereinbart wurde, respektiert,
geschützt und gefördert werden.
Es ist nicht zu erkennen, was an diesen
Forderungen antisemitisch sein soll. Sie berufen
sich alle auf das internationale Recht. Man kann
den Vorwurf nur so erklären: Wenn die
Palästinenser Gewalt anwenden, um ihre Rechte
durchzusetzen, sind sie „Terroristen“, obwohl
das Völkerrecht jedem unterdrückten Volk ein –
auch gewaltsames – Widerstandsrecht zu gesteht,
wenn die Gewalt nicht gegen Zivilisten ausgeübt
wird. Fordern die Palästinenser aber ihre Rechte
mit friedlichen und juristischen Mitteln wie BDS
ein, sind sie Antisemiten. Auch die Behauptung,
BDS käme der Nazi-Parole „Kauft nicht bei
Juden!“ gleich, ist unsinnig. Denn sie bedeutete
damals, dass ein Terrorstaat die Bevölkerung
dazu aufrief, gegen eine Minderheit in der
Bevölkerung vorzugehen. Im Fall von BDS versucht
ein unterdrücktes Volk seine elementarsten
Bürger- und Menschenrechte einzufordern, die ihm
von einem Unterdrückerstaat verwehrt werden. Das
ist etwas ganz Anderes. Es kann aber nicht
antisemitisch sein, von Israel die Einhaltung
des Völkerrechts und der universellen Prinzipien
der Menschenrechte einzufordern, wenn man nicht
völlig sinnenstellend argumentiert.
Vor Gericht gehört deshalb nicht BDS, sondern
ein System, das der israelische Filmemacher Eyal
Sivan zusammen mit seiner französischen
Partnerin, der Dokumentarfilmerin Arnelle
Laborie so beschreibt: „Die israelische
Demokratie befindet sich seit der Geburt des
Staates quasi permanent in einem
Ausnahmezustand. Das Land untersteht einer Fülle
von Gesetzen und Verordnungen, die von der Armee
oder der Regierung im Rahmen eines
vorübergehenden Notstands beschlossen wurden,
der jedes Jahr von einer absoluten Mehrheit im
israelischen Parlament verlängert wird. Diese
auf einen Teil der Bevölkerung angewandte,
permanent gewordene vorübergehende Situation
erlaubt einem nicht-demokratischen Regime also,
im Namen der Demokratie fortzubestehen.“
Und weiter: „Trennmauer, Kontrollposten,
Militarisierung der Polizei, bewaffnete
Patrouillen in den Straßen, Gesichtsprofil und
Gesichtskontrollen, Überwachung und Einteilung
der Bevölkerung gemäß ihrer vermuteten
Gefährlichkeit, unverhältnismäßige Vollmachten
der Geheimdienste, exzessive Expertenpräsenz in
den Medien und Verehrung des Gottes Sicherheit
sind integrale Bestandteile dieser Demokratie im
Ausnahmezustand. Kontrolle sozialer Netzwerke,
militärische Zensur, Inländervorrang,
ausgewählte Immigration,
Aufenthaltsbewilligungen und Passierscheine,
nächtliche Hausdurchsuchungen, Hausarreste,
Aberkennung der Nationalität oder des
Aufenthaltsrechts, Administrativhaft, parallele
Gesetzgebungen und Justizinstitutionen, Auffang-
und Abschiebezentren für Flüchtlinge, die
Ausschaltung von Verdächtigen und
außergerichtliche Tötungen sind in der
israelischen Demokratie Alltag.“ Man muss
hinzufügen, dass sich alle die hier aufgeführten
Maßnahmen (mit Ausnahme der Abschiebezentren für
Flüchtlinge, womit vor allem Afrikaner gemeint
sind) nur auf Palästinenser beziehen und nicht
auf jüdische Bürger Israels, wodurch der
Apartheidsvorwurf seine Berechtigung erhält.
(Eyal Sivan/ Arnelle Laborie: Legitimer Protest.
Plädoyer für einen kulturellen und akademischen
Boykott Israels, Wien 2018, S. 143f.)
War auch die DDR – ein Hort von „Antisemiten“
Es ist unmöglich, auf alle Punkte einzugehen,
die Haury als „antisemitisch“ anprangert. Es
soll aber noch auf folgende Behauptungen
entgegnet werden: der angebliche Antisemitismus
der 68er, der DDR insgesamt und der Hamas.
Außerdem ist auf den Vorwurf, die ‚Linke‘
verweigere Israel die Anerkennung des
Existenzrechts, einzugehen. Übergangen werden
soll der Antisemitismus-Vorwurf gegen die
sogenannten K-Gruppen oder „neue Linke“,
Gruppen, die in den 70er und 80er Jahren in der
Nachfolge der 68er standen, großenteils aber
eine ganz andere Entwicklung genommen und in der
deutschen Gesellschaft nur eine sehr marginale
Bedeutung gespielt haben.
Dem spätstalinistischen Antizionismus der DDR
widmet Haury fast zehn Seiten seiner Broschüre
(von insgesamt 60 Textseiten), dieser
Themenbereich erscheint ihm also als besonders
bedeutsam. Nun ist es nicht schwer, der
DDR-Politik Antisemitismus zu unterstellen, wenn
man Judentum und Zionismus nicht
auseinanderhält, also auch Antizionismus und
Antisemitismus nicht voneinander trennt. Bei der
Unterstellung des antisemitischen Weltbildes der
DDR beruft Haury sich auf die Abhängigkeit
dieses Staates von der sowjetischen Vormacht in
Moskau.
Dass es in der Sowjetunion und damit im gesamten
Ostblock Antisemitismus gegeben hat, ist durch
die Schauprozesse gegen Juden zu Beginn der 50er
Jahre in Moskau, den Slansky-Prozess in Prag und
die Verurteilung Paul Merkers in der DDR belegt.
Die Vorwürfe gegen die Beschuldigten, die
zumeist Juden waren (Paul Merker aber nicht),
lauteten immer: Sabotage und zu große Nähe zum
Zionismus. Auch in späteren Jahren war die
Politik der Sowjetunion und der DDR
antizionistisch, so unterhielt die DDR keine
Beziehungen zu Israel, wohl aber sehr enge
Kontakte zu den Palästinensern und speziell zu
Arafats PLO. Aber war diese Politik deshalb auch
antisemitisch?
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die
Sowjetunion aktiv an der Gründung Israels 1948
beteiligt war und auch 1947 in der UNO für die
Teilung Palästinas in zwei Staaten – einen
jüdischen und einen palästinensischen – gestimmt
hat. Erst als man in Moskau wahrnahm, dass sich
Israel nicht als sowjetischer Brückenkopf im
Nahen Osten aufbauen ließ, konzentrierte sich
die Politik der Sowjetunion mehr auf die
arabischen Staaten. Haury verschweigt diese
Tatsachen, die ja besagen, dass die
Nahostpolitik Moskaus keineswegs von Anfang an
antizionistisch = antisemitisch war.
Die Politologin Angelika Timm, die das
Standardwerk über das Verhältnis der DDR zum
Judentum, Zionismus und Israel geschrieben hat,
kommt zu einem anderen, etwas differenzierterem
Ergebnis als Haury. Sie hat diesen Komplex so
zusammengefasst: „Die Staatspolitik und die
öffentliche Meinung waren – mit Ausnahme
antijüdischer Repressionen im Gefolge des
Slansky-Prozesses – nicht antisemitisch im
engeren Sinne; Juden wurden in der DDR weder
verfolgt noch diskriminiert nur aufgrund der
Tatsache, dass sie Juden waren. Dennoch war das
Verhältnis des Staates zu den jüdischen
Gemeinden des Landes durch Unwissenheit,
Ignoranz und zum Teil auch bewusste politische
Instrumentalisierung gekennzeichnet. Juden
litten wie andere DDR-Bürger unter mangelnder
Demokratie, Ungerechtigkeiten, Einschränkungen
des realen Sozialismus. Diese Situation war
nicht Ergebnis einer antisemitischen Politik,
sondern entsprang dem politischen System bzw.
war Ausdruck einer allgemeinen
gesellschaftlichen Realität.
Auch die proarabische und antiisraelische
Positionierung der Führung des ostdeutschen
Staates im Nahostkonflikt ist nicht auf eine
antijüdische Grundeinstellung zurückzuführen;
sie ergab sich vielmehr aus systemorientierter
Parteinahme und realpolitischen Interessen
gegenüber den sich mit Israel im Kriegszustand
befindlichen arabischen Ländern. Das Versäumnis,
politische Beziehungen zu Israel herzustellen
und Verständnis für die Bürger des jüdischen
Staates, deren Interessen, Hoffnungen und
Ängste, aufzubringen, ist als ernstes
historisches Versäumnis zu werten, das harsche
Kritik, jedoch nicht das Attribut
‚antisemitisch‘ verdient. (…)
Archivstudien und Zeitzeugenbefragungen belegen,
dass es in der DDR – offensichtlich quer durch
die Bevölkerung – Antisemitismus gab. Dennoch
kann der Einschätzung, der Antizionismus der
Realsozialisten sei in Wahrheit Antisemitismus
gewesen, in ihrer Verallgemeinerung nicht
gefolgt werden. Die Ablehnung des Zionismus
entsprang nicht primär antijüdischem Vorbehalt;
sie war Teil der kommunistischen Weltsicht, die
Nationalismus nur bedingt für progressiv hielt
und ihm den Internationalismus entgegensetzte.
Sie stand zum anderen in engem Zusammenhang mit
der Außenpolitik der DDR bzw. ihren
Nahostinteressen. Israel wurde nicht wegen
seines Selbstverständnisses als jüdischer Staat,
sondern ob seiner Regionalpolitik und
außenpolitischen Bündnisbeziehungen abgelehnt.
Das antizionistische Verdikt galt zudem primär
der politischen Elite [Israels] und nicht den
Bürgern des Landes.“
Das klingt etwas anders und sehr viel
differenzierter als Haurys sehr einseitige
Polemik gegen die DDR, der diesem Staat pauschal
Antisemitismus unterstellt. Er führt im
Literaturverzeichnis Helga Timms Buch auch an
und zitiert aus ihm, aber wohl nur die Passagen,
die seine Thesen stützen. Die hier zitierten
Abschnitte kommen bei Haury nicht vor. (Hammer.
Zirkel. Davidstern. Das gestörte Verhältnis der
DDR zum Zionismus und dem Staat Israel, Bonn
1997, S. 397f.)
Waren die 68er Antisemiten?
Haury bringt auch die Studenten der
68er-Bewegung in Antisemitismus-Verdacht, was
schon deshalb widersinnig ist, denn 68 war der
Aufstand der Söhne und Töchter gegen ihre Väter,
die die NS-Verbrechen – vor allem den Holocaust
– begangen und zu verantworten hatten. Bei
Antisemitismus-Vorwürfen gegen diese Studenten
muss dann vor allem Dieter Kunzelmann herhalten,
der in der Tat einige ungute Äußerungen von sich
gegeben und Aktionen inszeniert hat, die man als
judenfeindlich auslegen kann. Aber Kunzelmann
war kein Vordenker der Bewegung, sondern eher
ein APO-Clown. Man darf daran erinnern, dass die
Bewegung ganz maßgeblich von jüdischen Denkern
und Intellektuellen als Vorbildern getragen
wurde – von Karl Marx, Sigmund Freud, Wilhelm
Reich, Theodor Adorno, Max Horkheimer bis zu
Herbert Marcuse. Das passt wenig zu dem
Antisemitismus-Vorwurf Haurys. Von den überaus
populären jüdischen Vertretern der Jugendkultur
und neuer musikalischer Richtungen ganz zu
schweigen.
Die 68er haben Israel aber zu Recht als
nach-kolonialen Staat angesehen, denn der
Zionismus war von Anfang an eine
siedlerkolonialistische Bewegung. Die
Politologin Petra Wild hat den
Siedlerkolonialismus folgendermaßen definiert:
„Der reine Siedlerkolonialismus, für den Israel
ein Beispiel ist, strebt danach, die
einheimische Bevölkerung durch eine
eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu
ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter nach
vorne verschoben und die einheimische
Bevölkerung wird auf stets kleiner werdenden
Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre
Ressourcen für die Siedlerbevölkerung
freizumachen. Charakteristisch für
siedlerkolonialistische Gebilde sind neben
territorialer Expansion ein ausgeprägter
Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die
Behauptung, das Land sei menschenleer gewesen,
als die Siedler kamen.“ (Die Siedlerparole im
Zionismus hieß: „Ein Volk ohne Land für ein Land
ohne Volk!“)
Die Definition Petra Wilds ist eine realistische
Beschreibung dessen, was in Palästina seit über
hundert Jahren bis heute geschieht. Könnten die
Palästinenser aus dem Westjordanland und dem
Gazastreifen einen eigenen Staat bilden, was
durch die Siedlungen auf dem Westjordanland
inzwischen unmöglich geworden ist, besäßen sie
noch 22 Prozent ihres einstigen Landes. Durch
den „Friedensplan“ von US-Präsident Trump sollen
sie zusätzlich 60 Prozent des Westjordanlandes
an Israel verlieren, was heißt, dass die
palästinensische Bevölkerung keinen eigenen
souveränen Staat bekommen soll, sondern in nicht
zusammenhängende Reservate oder Bantustans
abgedrängt werden soll, die – da sie keine
eigenen Außengrenzen haben – vollständig unter
israelischer Kontrolle stehen würden.
Der Siedlerkolonialismus ist heute ein eigenes
Forschungsgebiet, auf dem besonders
australische, amerikanische und südafrikanische
Wissenschaftler arbeiten, weil auch diese
Staaten und Gesellschaften aus
siedlerkolonialistischen Bewegungen
hervorgegangen sind. Der britische
Sozialwissenschaftler Martin Shaw sieht die
ethnische Säuberung Palästinas 1948 sogar als
Beginn eines genozidalen Prozesses an, der bis
heute andauere und dessen Hauptelemente der
Siedlungsbau und die geographische Kontrolle
seien. Die 68er lagen also nicht ganz falsch mit
ihrer These, dass Israel ein
nachkolonialistischer Staat sei, wofür ja auch
spricht, dass er von imperialistischen
Großmächten geschaffen und unterstützt worden
ist. Aber wenn man wie Haury zwischen
Antizionismus und Antisemitismus nicht trennt,
dann kann man natürlich auch die 68er in diesen
Ruf bringen. (Petra Wild: Apartheid und
ethnische Säuberung in Palästina. Der
zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und
Tat, Wien 2013, S. 9, 205.)
Ist die Hamas antizionistisch und antisemitisch?
Natürlich ist für Haury auch die Hamas eine
antisemitische Bewegung, weil es in ihrer Charta
aus den 80 Jahren einige Sätze gibt, die man so
deuten kann. Ihr wird unterstellt, dass sie
Israel vernichten will. Dass Israel diese
Organisation in den frühen 80er Jahren massiv
unterstützt hat, weil es sie als Konkurrenz zur
Arafats PLO aufbauen wollte; dass diese
Organisation sich längst von ihrer Charta
distanziert hat; dass sie im palästinensischen
Wahlkampf 2006 offen für die Schaffung eines
palästinensischen Staates im Westjordanland und
im Gazastreifen eingetreten ist, wenn die
palästinensische Bevölkerung einer solchen
Lösung in einem Referendum zustimmen würde und
sich so mit 22 Prozent Palästinas zufrieden
gegeben hätte; dass sie die „wirklich freien
Wahlen“ (US-Präsident Jimmy Carter) in den
besetzten Gebieten überlegen gewonnen hat; dass
Israel und der Westen das Wahlergebnis nicht
anerkannten, weil in ihren Augen die falsche
Partei gewonnen hatte; dass Israel dann die frei
gewählten Hamas-Abgeordneten sofort verhaftet
hat; dass eine von Israel und den USA
ausgebildete palästinensische Truppe die Hamas
im Gazastreifen stürzen wollte, was aber
misslang; dass die Hamas Israel immer wieder
auch langfristige Waffenstillstände angeboten
hat – darüber findet man bei Haury kein Wort.
Das passt eben nicht ins Weltbild.
Zudem ist es absurd, jede arabische Feindschaft
gegenüber Israel auf Antisemitismus
zurückzuführen, also gegen den „kollektiven
Juden“ Israel. Eine solche Argumentation leugnet
die gewaltsame Entstehungsgeschichte Israels auf
Kosten eines arabischen Volkes – der
Palästinenser, also den siedlerkolonialistischen
Charakter des zionistischen Staates und dessen
Unterdrückungs- und Okkupationspolitik bis
heute. Dazu liefert u.a. Gilbert Achcar in
seinem Buch Die Araber und der Holocaust
wichtige Analysen und Argumente.
Der Arabist Alexander Flores hat erläutert, wie
die Feindschaft der Araber gegenüber Israel zu
erklären ist und dass sie keineswegs einfach mit
dem europäischen Antisemitismus gleichzusetzen
ist, wenn sie sich auch oft in antisemitischen
Formen äußern mag. Als Hauptgründe nennt Flores:
die Verheerungen, die das Vorgehen der Zionisten
in Palästina angerichtet hat: Landraub,
Vertreibungen, Unterdrückung usw. Dazu kommt der
ständig und vehement vorgetragene Anspruch
Israels, für alle Juden weltweit zu sprechen und
zu handeln. Dadurch wird der Unterschied
zwischen Zionismus und Judentum in der
Öffentlichkeit weitgehend verwischt. Da der
Westen noch die schlimmsten israelischen
Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen
kritiklos hinnimmt, ja sogar billigt, können
sich viele Araber eine solche Haltung nur als
große Weltverschwörung gegen sie vorstellen,
Flores resümiert: Die Entstehung eines modernen
Antisemitismus in der arabischen Welt kann
angemessen nur verstanden werden als Transfer
entsprechender Ideen aus Europa, und zwar im
Kontext des Umbruchs der arabischen Welt zur
Moderne unter europäischer Dominanz sowie unter
Einfluss des Palästina-Konfliktes. (Alexander
Flores: Arabischer Antisemitismus in westlicher
Perspektive, in: John Bunzl/ Alexandra Senfft
(Hg.): Zwischen Antisemitismus und Islamophobie.
Vorurteile und Projektionen in Europa und
Nahost, Hamburg 2008, S 152f.)
Der Israeli Moshe Zuckermann fügt dem hinzu, wie
die Auseinandersetzung Israels mit der Hamas und
der Hisbollah geopolitisch einzuordnen sind:
„Israel führt einen erbitterten Kampf gegen
Hamas und Hisbollah; dieser hat seinen
historischen Ursprung sowie seine aktuelle
Begründung in der nahöstlichen Geopolitik und im
israelisch-palästinensischen Konflikt, nicht im
Antisemitismus als solchen; schon gar nicht in
einem dem abendländischen vergleichbaren
Antisemitismus. Traditionell war der
Antisemitismus primär Erbteil rechter
politischer und sozialer Gesinnung; es gab ihn
zwar auch in der Linken, aber in keinem mit dem,
was er im Nationalsozialismus an Verbrechen
gezeitigt hat, annäherndem Ausmaß.“ (Moshe
Zuckermann: Von Interessen und Befindlichkeiten.
Anmerkungen zu den deutsch-israelischen
Beziehungen, in: Wider den Zeitgeist. Aufsätze
und Gespräche über Juden, Deutschland, den
Nahostkonflikt uns Antisemitismus, Hamburg 2012,
S. 74.)
Muss man Israels Existenzrecht anerkennen?
Haury bezichtigt die Linke (wer auch immer das
ist) auch, das Existenzrecht Israels zu leugnen,
was natürlich ein zusätzlicher Beleg für
Antisemitismus sein soll. Dabei greift er auch
den Verfasser dieser Zeilen an, der die
Anerkennung des Existenzrechts Israels in
Artikeln öfters als „Hirngespinst“ bezeichnet
hat. Und das aus gutem Grund. Die Gründe und den
Kontext, die ich dabei angeführt habe, lässt
Haury natürlich weg, und das sind: Im
Völkerrecht gibt es den Begriff des
Existenzrechts überhaupt nicht. Wenn ein Staat
einen anderen Staat anerkennt, erkennt er
automatisch auch dessen Existenzrecht an.
Zudem: Wenn man die Existenz eines Staates
anerkennen soll, muss man die geographischen
Grenzen kennen, in denen dieser seine Herrschaft
ausübt. Israel ist aber wegen seiner
Expansionspolitik der einzige Staat auf der
Welt, der keine festen Grenzen hat. Und: Wenn
Israel die Palästinenser auffordert, seine
Existenz anzuerkennen, würde der Vollzug die
vollständige Anerkennung aller völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Fakten bedeuten, die
Israel geschaffen hat und die heute
Apartheidscharakter haben. Die Palästinenser
würden ihre vollständige Kapitulation
unterschreiben, wenn sie die Existenz Israels in
dessen Sinne anerkennen würden. Den Staat Israel
haben die Palästinenser im Übrigen (und damit
auch die Existenz Israels) längst anerkannt – in
den Oslo-Verträgen von 1993.
Es ist aufschlussreich, dass Haury überhaupt
nicht darauf eingeht, wie die Politik Israels
vom Völkerrecht, dem internationalen Recht und
der UNO-Menschenrechtscharta her zu beurteilen
ist. Es gibt Hunderte von Analysen von
Völkerrechts- und Menschenrechtsexperten sowie
UNO-Resolutionen, die das Vorgehen des
zionistischen Staates gegen die Palästinenser
verurteilen. Aber so wie Haury die Verbrechen
Israels so gut wie nicht erwähnt, sondern mit
dem Zusatz „angeblich“ versieht, kommen auch die
völkerrechtlichen und menschenrechtlichen
Aspekte des Palästina-Konflikts in seinen
Ausführungen überhaupt nicht vor.
Haury unterschlägt eine wichtige Studie zum
Antisemitismus
Aufschlussreich, aber auch verständlich ist,
dass Haury die Studie des Konstanzer Professors
Wilhelm Kempf mit keinem Wort erwähnt. Die breit
angelegte Feldstudie suchte Antworten auf Fragen
wie: Worauf gründet sich der
Antisemitismus-Vorwurf gegen die Kritiker
Israels [in Deutschland] überhaupt? Ist das
rechte Spektrum tatsächlich vernachlässigbar?
Ist es wirklich das linke Spektrum, von dem die
Gefahr einer Wiedergeburt des Antisemitismus
droht? Die Einzelheiten der Studie können hier
nicht aufgeführt werden, können aber im Internet
nachgelesen werden.
Das Fazit der Studie Kempfs lautet: „Das
antisemitische Potenzial in Deutschland ist
besorgniserregend. Nicht nur wegen seines
Ausmaßes, sondern auch, weil es in der Mitte der
Gesellschaft fest verankert ist. Dort und am
rechten Rand finden sich nicht nur die
antisemitischen Israelkritiker, sondern auch
eine Gruppe von Befragten, die sich zum
israelisch-palästinensischen Konflikt überhaupt
nicht positionieren und des latenten
Antisemitismus verdächtig sind.
Unter den aktiven Israelkritikern waren diese
Muster dagegen nicht zu finden. Die aktiven
Israelkritiker und mit ihnen die überwältigende
Mehrheit der Deutschen, die sich zugunsten der
Palästinenser positionieren, teilen keinerlei
antisemitische Vorurteile, sondern kritisieren
die israelische Politik in Folge ihres
Menschenrechtsengagements und Pazifismus.
Während die aktiven Kritiker dazu neigen, sich
trotz ihres ausgeprägten Pazifismus in einem
pro-palästinensischen War-fame zu positionieren,
sind diese radikalen Spielarten der
Israel-Kritik in der allgemeinen Bevölkerung
eher selten. Diese radikalen Kritiker wählen die
Die Linke oder Bündnis 90/ Die Grünen, und in
der Mitte der Gesellschaft (bei den Wählern von
CDU, SPD und FDP) finden sie sich überhaupt
nicht.
Dass gerade sie es sind, die so oft des
Antisemitismus bezichtigt werden, muss zu denken
geben. Zum einen entsteht der Verdacht, dass es
bei den erhobenen Antisemitismusvorwürfen gar
nicht um die Bekämpfung des Antisemitismus geht,
sondern darum, vom tatsächlichen Antisemitismus
in Deutschland abzulenken. Zum anderen muss man
sich fragen, welche Konsequenzen diese Hexenjagd
für die Reanimation antisemitischer Vorurteile
haben kann. Wenn man hinreichend naiv ist, fällt
es nur allzu leicht, dahinter eine jüdische
Weltverschwörung zu sehen. Dass auch
ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte
Israel-Kritik Gefahr läuft, in die
Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile
abzugleiten, lässt sich angesichts unserer
Befunde daher nicht von der Hand weisen.“
Die Feldstudie belegt ziemlich das Gegenteil von
dem, was Haury behauptet: Antisemitische
Einstellungen sind gerade bei eher politisch
links eingestellten Personen geringer als bei
Personen in der politischen Mitte oder auf der
rechten Seite des Spektrums. (Studie:
„Israelkritik, Umgang mit der deutschen
Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen
Antisemitismus“ der Universität Konstanz unter
Leitung von Professor Wilhelm Kempf)
„Eine historische Revolution im Verständnis des
Antisemitismus“
Es gibt eine Interpretation des Antisemitismus,
die genauso wenig in Haurys Argumentation passt
wie die Kempf-Studie. Sie stammt von dem
israelischen Historiker Daniel Blatman von der
Universität Jerusalem. Sein Schwerpunktthema ist
die Erforschung des Holocaust, er ist auch
Chefhistoriker des Ghetto-Museums in Warschau.
Batman leugnet nicht die Existenz von
Antisemitismus in den westlichen Gesellschaften,
schiebt aber der ultrarechten Regierung des
Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die
ursächliche Verbreitung von Antisemitismus zu,
was natürlich auf den ersten Blick befremden
mag, aber seine Sicht hat viel für sich. Er
knüpft in seiner Argumentation sehr kritisch an
den Beschluss des Bundestages zu BDS an.
Er schreibt: „Der traditionelle, vertraute
Antisemitismus war gekennzeichnet durch eine
vielfältige Feindseligkeit gegenüber Juden und
Judentum, die Dämonisierung der Juden, die
Beschäftigung mit ihren kollektiven
Eigenschaften und ihren Geschäftsbeziehungen
sowie Mythen und Stereotypen, die den Juden als
inkarnierten Teufel darstellten. Der neue
Antisemitismus der heutigen europäischen
nationalistischen Populisten, deren Definition
Deutschland übernommen hat, könnte als
funktionaler Antisemitismus definiert werden. Er
basiert auf dem Prinzip, dass jeder, den
bestimmte Juden als antisemitisch definieren
wollen, als solcher definiert wird.
Mit anderen Worten, es handelt sich nicht mehr
um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und
Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur,
Nationalität oder Rasse unterscheidet, sondern
um einen, der zwischen Antisemiten und
Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien,
die von der israelischen Regierung und von Juden
und Nichtjuden, die ihn unterstützen, in
Deutschland und anderen Ländern aufgestellt
werden.
Was hier geschieht, ist nicht weniger als eine
historische Revolution im Verständnis des
Antisemitismus: Antisemitische Deutsche
definieren nicht mehr, wer Jude ist, der aus der
Gesellschaft verbannt werden muss, sondern
bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit
oder ein Philosemit ist, und die Deutschen
nehmen ihre Meinung an. Funktionaler
Antisemitismus definiert Juden und Nichtjuden
gleichermaßen als Antisemiten, basierend auf
einer Reihe von Eigenschaften, die dem aktuellen
Nationalismus Israels entsprechen.“
Blatman spricht von „Hexenjagd“ in Deutschland
auf Kritiker der israelischen Politik und
schließt seine Ausführungen mit einer wenig
schmeichelhaften Feststellung über die deutsche
Politik in Bezug auf Israel: „Es gibt eine
bittere historische Ironie, jeden in
Deutschland, der die gegenwärtige Politik
Israels kritisiert, unterschiedslos als
antisemitisch zu bezeichnen. So dient
Deutschland dem brutalen rassistischen Konzept
des Zionismus im heutigen Israel, so wie
Deutschland früher [in der NS-Zeit] den
Bedürfnissen des Zionismus diente, um den
jüdischen Isolationismus zu fördern und zugleich
so weit wie möglich auch die jüdische
Auswanderung. [Er meint hier das
Ha‘awara-Abkommen, das die Nazis 1933 mit den
Zionisten geschlossen haben. Es sah vor, dass
Juden, die auswandern wollten, ihr Vermögen zum
Teil mitnehmen konnten.] Die Abgeordneten des
Bundestages sind offenbar blind für den
gewaltigen Unterschied zwischen der
verzweifelten Situation der deutschen Juden in
den 1930er Jahren und dem heutigen jüdischen
Staat Israel.“ (Daniel Blatman: Vielleicht
existiert, wenn es um Antisemitismus geht, kein
anderes Deutschland? erschienen im
Palästina-Portal am 3.07.2019)
Damit ist klar, was Haury sowohl unter
Antisemitismus als auch unter „links“ versteht.
Er ist ein engagierter Verfechter des
funktionalen Antisemitismus, so wie ihn Blatman
versteht – eines Antisemitismusbegriffs also,
der ganz einseitig und parteiisch die nationalen
Interessen Israels vertritt. Die Identifikation
mit den Interessen dieses Staates ist darin
total. Zweck und Ziel dieser Identifikation
liegen auf der Hand: Israels inhumane, weil
äußerst brutale Politik gegenüber den
Palästinensern soll vor Kritik und Angriffen
abgeschirmt und geschützt werden. Wer es dennoch
wagt sie zu kritisieren, wird als Antisemit
verleugnet, diffamiert und an den öffentlichen
Pranger gestellt – mit allen verheerenden
Folgen, die das für den Einzelnen haben kann.
Hier wird dann auch der Holocaust
instrumentalisiert, weil Antisemitismus seit
diesem Mega-Verbrechen zu Recht tabuisiert ist.
Wer heute als Antisemit attackiert wird, wird
dann ja sofort assoziativ mit den übelsten
Nazi-Schergen in Verbindung gebracht.
Rufmord und Hexenjagd (von der auch Blatman
spricht) sind fest eingeplante Methoden des
infamen Spiels. Und die „Linken“, denen Haury
seinen ganzen Text widmet, sind eben alle
Kritiker der israelischen Politik – seien es die
Mitglieder oder Sympathisanten der Partei Die
Linke oder der Grünen oder Vertreter und
Aktivisten von Friedens-, Palästina- und
Menschenrechtsgruppen. Das Feindbild hat klare
Konturen.
Man kann das Problem auch noch weiter fassen.
Das Judentum ist gegenwärtig tief in zwei
ideologische Richtungen gespalten: in den
Gegensatz zwischen zionistischem, extrem
völkischem Nationalismus und den Vertretern der
universellen Prinzipien von Völkerrecht und
Menschenrechten. Haury ist ein radikaler
Exponent des zionistischen Partikularismus. Wie
gefährlich eine solche Entwicklung gerade auch
für Israel und das Judentum selbst ist, hat die
israelische Soziologin Eva Illouz dargelegt.
Sie schreibt: „Wenn die israelische Politik
tagtäglich das Völkerrecht und die
Menschenrechte missachtet, dann kann die
ontologische Unsicherheit, die Juden rund um den
Erdball verspüren, nicht länger als moralische
Rechtfertigung für die systematische Blindheit
gegenüber der massiven Erosion der Demokratie in
Israel und gegenüber der moralisch wie politisch
unverantwortlichen Unterdrückung entrechteter
Palästinenser dienen. Zweifellos ist die Furcht
der organisierten jüdischen Gemeinden vor dem
Antisemitismus berechtigt, doch darf diese
Furcht nicht deren offizielle Politik sein und
als Rechtfertigung für den systematischen
Angriff auf diejenigen benutzt werden, die sich
um die Rechtstaatlichkeit, die Menschenrechte
und die Moralität des Staates sorgen.“
Und weiter: „Wenn jemand, dem die Menschenrechte
wichtig sind, damit zum Verräter an Israel und
den Juden wird (wie es dieser Tage in Israel und
den weltweiten jüdischen Gemeinden so häufig zu
hören ist), würde dies den moralischen Bankrott
des organisierten Judentums und Israels
bedeuten. Die Menschenrechte sind der
Mindeststandard, an dem jede Innenpolitik und
jede internationale Politik gemessen werden muss
– ohne Wenn und Aber. Die Tatsache, dass viele
Israelis und Nichtisraelis, die die
Menschenrechte in Israel verteidigen, regelmäßig
verleumdet und geächtet werden, spricht dafür,
dass sich sowohl die jüdischen
Diasporagemeinschaften als auch Israel von
internationalen Moralnormen abwenden, gerade
weil diese Normen an und für sich
universalistisch sind.“ (Eva Illouz: Israel.
Soziologische Essays, Frankfurt/ Main 2015, S.
9f.) Direkten Ausdruck hat diese gegen den
Universalismus gerichtete Einstellung in einer
Äußerung der ehemaligen israelischen
Justizministerin Ajeled Shaked gefunden, die
bekannte, dass der Zionismus nichts mit den
individuellen Rechten [also den Menschenrechten
und dem Völkerrecht] zu tun habe, da er über
seine eigenen Gesetze verfüge. (FAZ 31.08.2017)
Haurys Text dürfte also auch in aufgeklärten
jüdischen bzw. israelischen Kreisen auf großen
Widerstand stoßen. Seine Ausführungen sind eine
„Verzerrung“ des Antisemitismus-Problems (wie
Blatman es bezeichnen würde). Sie prangern das
Feindbild von „Antisemiten“ an, die gar keine
sind und enthalten so keinen emanzipatorischen
Ansatz zur Bekämpfung des Antisemitismus als
einer schlimmen Form des Rassismus. Da Haury
primär mit der Verdrehung und dem Weglassen von
relevanten Fakten und Zusammenhängen arbeitet,
ist es ein Skandal, Schulen – ob Lehrern oder
Schülern – einen solchen Text als Lehr- und
Lernmaterial anzubieten. Denn durch seine
Methoden behandelt er seine Leser wie unmündige
Kinder, die die Wahrheit nicht wissen sollen
oder dürfen. Dennoch ist diese Broschüre
unbedingt zur Lektüre zu empfehlen, da sie als
schlechtes und abstoßendes Beispiel dazu dient
zu zeigen, wohin eine missglückte Verarbeitung
der deutschen Geschichte führen kann.
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