Wenn Zionisten
anderen vorschreiben, wie sie sich an den Holocaust zu erinnern haben
Warum eine Debatte um
das neue Buch von Charlotte Wiedemann über den Schmerz der Anderen
in Tel Aviv nicht stattfinden durfte
Arn Strohmeyer -
16.08.2022
Das Goethe-Institut und
die Rosa-Luxemburg-Stiftung wollten am 9. November – dem deutschen
Schicksalstag – in Tel Aviv eine Podiumsdiskussion zu Charlotte
Wiedemanns Buch Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und
Weltgedächtnis durchführen. Aber ein Sturm der Entrüstung in Israels
„weltoffenster Stadt“ zwang die Veranstalter, die Debatte abzusagen.
Ausschlaggebend dafür war wohl der Untertitel Holocaust, Nakba und
die deutsche Erinnerungskultur. Das israelische Außenministerium
sprach von „Erschütterung und Abscheu angesichts der dreisten
Trivialisierung des Holocaust und unterstellte „eine zynische und
manipulative Absicht, eine Verbindung zwischen Holocaust und Nakba
herzustellen. Der israelische Botschafter in Berlin nannte die geplante
Diskussion schlicht eine „Unverschämtheit“
Verständnis äußerte
dagegen der israelische Historiker Amos Goldberg. Er betonte, dass es
bei der Veranstaltung gar nicht um einen Vergleich mit dem Holocaust
gehen sollte, sondern um die Frage, „wie es möglich ist, katastrophale
Erinnerungen an Ereignisse zu verarbeiten, die sich in einer Situation
des Konflikts, der Besatzung und der Apartheid stark voneinander
unterscheiden, und wie die Arbeit der gemeinsamen Erinnerung uns
vielleicht auch einer politischen Lösung näherbringen könnte.
Charlotte Wiedemann
hatte in ihrem Buch eigentlich nichts behauptet, woran man Anstoß nehmen
könnte. Sie geht der Frage nach, wie eine deutsche Erinnerungskultur den
Holocaust im Zentrum behalten kann, sich aber gleichzeitig entwickeln
und an die Erinnerung für andere Menschenrechtsverbrechen öffnen kann,
etwa an die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika vor 1914.
Aber das ist für
Zionisten schon eine Zumutung. Die Einzigartigkeit des Holocaust darf
nicht angetastet werden – was Charlotte Wiedemann ja auch gar nicht
getan hat. Empathie darf es in zionistischer Sicht nur für Juden geben.
Was zu dem Paradox führt, dass Israel anderen vorschreibt, wie sie sich
zu erinnern haben, sich selbst aber weigert, die eigene Geschichte
aufzuarbeiten – die Nakba und das gesamte Unrecht, das sie den
Palästinensern angetan hat und noch täglich antut.
Was hat Charlotte
Wiedemann in ihrem Buch nun eigentlich geschrieben?
Palästinenser dürfen in
der deutschen Erinnerungspolitik nicht vorkommen
Anmerkungen zu Charlotte
Widemanns Buch Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und
Weltgedächtnis
Arn Strohmeyer
Die deutsche
Erinnerungskultur ist ins Gerede gekommen und bedarf einer dringenden
Korrektur. Die Publizistin Charlotte Wiedemann hat ein wichtiges Buch
zum Thema geschrieben, das aufzeigt, in welche Richtung das Gedenken –
vor allem an die Opfer des Holocaust, aber auch die des Kolonialismus –
nehmen muss, wenn es nicht in Routine und dem „Nachsprechen
einschlägiger Floskeln“ erstarren soll. Das gilt vor allem für die
staatliche Erinnerungspolitik, der als Preis ihres Erfolges – denkt man
etwa an das gemeinsame Gedenken mit Israel – eine „erstickende Umarmung“
drohe.
Die Autorin treibt vor
allem die Frage um, warum es so schwer ist, den „Schmerz der Anderen zu
begreifen“ – so auch der Titel des Buches. In Deutschland steht das
Gedenken an den Holocaust mit Staatsräson-Charakter im Zentrum der
Erinnerungskultur, was aber zugleich die automatische Abwertung anderer
Leiden bedeutet. Die weitgereiste Autorin hat in vielen Ländern der Welt
festgestellt, dass dort aus ganz verschiedenen Perspektiven auf die
Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis geblickt wird und
damit auch auf Israel. Das gilt etwa für die früher von europäischen
Mächten kolonisierten Staaten Afrikas und Asiens, in denen die Sicht auf
die eigenen Leiden im Vordergrund steht und nicht der Holocaust.
Die Autorin führt viele
Beispiele für diesen Tatbestand an: Algerien, China, Indonesien,
Kambodscha und Malaysia und Südafrika, geht aber auch ausführlich auf
die Sklaverei und die rassistische Behandlung der Schwarzen in den USA
ein. Auf die Frage, warum es eine Spaltung der Empathie den Leidenden
gegenüber gibt, zieht die Autorin eine psychologische Erklärung heran:
Empathie kann nur stattfinden, wenn eine minimale kulturelle Ähnlichkeit
oder Gleichartigkeit mit den Opfern empfunden werden kann. Mit den
jüdischen Opfern des Holocaust ist so gesehen eine Empathie möglich,
kaum aber mit den Sinti und Roma, deren Volk im Holocaust auch
furchtbare Verluste hinnehmen musste – über die Hälfte seines Bestandes.
Ein gutes Beispiel für
Empathie sind auch die großen Sympathien für die durch Putins Krieg
bedrängten Ukrainer, die aus der europäischen Kultur kommen: christlich,
weiß und zumeist blauäugig, ganz im Gegenteil zu den durch Israels
brutale Politik genauso bedrängten Palästinensern, für die sich nur
wenige Menschen engagieren. Die Nicht-Empathie gilt auch für die
millionenfachen Opfer des Kolonialismus, sodass man von einer Hierarchie
der Empathiervergabe sprechen kann: Große Anteilnahme für die Einen,
Nichtbeachtung und Vergessen der Anderen.
Wenn das so ist, gelten
offenbar nur jüdische Opfer als gleichwertig, denen gegenüber man Schuld
empfinden kann, nicht aber gegenüber Sinti und Roma, Schwarzen sowie
Arabern. Die Autorin merkt dazu an: „Richtungen, in die Empathie fließen
kann, werden eingeübt, und es gibt andere Richtungen, wo der Fluss
blockiert ist und sich allenfalls Rinnsale den Weg suchen.“ Die
amerikanische Philosophin Judith Butler hat für Menschen, denen keine
Empathie entgegengebracht wird, den Begriff der Betrauerbarkeit
eingeführt. Ein Leben, das nicht betrauert wird, hat so gesehen quasi
nie existiert, hat als Leben nie wirklich gezählt. Menschen dieser
Kategorie führen ein fragliches, fragwürdiges von Beginn an prekäres
Leben: als hätten sie nie existiert, und keine Lobby setzt sich für sie
ein. Diesen Menschen wird von ihren Unterdrückern bzw. Kolonisten sogar
ihr historische Gedächtnis genommen, sie werden aus ihrer eignen
Geschichte sozusagen exiliert.
Genau das macht Israel
mit den Palästinensern. Der zionistische Staat versucht, sie aus der
Gemeinschaft der Menschen herauszudrängen, ihnen ihre Identität zu
nehmen, ihr historisches Gedächtnis zu zerstören. Alles, um den
homogenen jüdischen Staat auf dem Land Erez Israel durchzusetzen, auf
dem es möglichst keine Anderen (eben Palästinenser) mehr geben soll.
Dieses Volk, das nichts mit dem Holocaust zu tun hatte, hat durch den
Verlust seines Landes und seiner Kultur den höchsten Preis für dieses
von Europäern verübte Verbrechen gezahlt. Und seine Leiden unter der
gewaltsamen israelischen Herrschaft dauern weiter an. Deshalb fällt es
den Palästinensern schwer, Empathie für die jüdischen Leiden – etwa im
Holocaust erlittene – aufzubringen. Sie dürfen nicht einmal das Narrativ
ihrer Leiden in Israel oder Deutschland vorbringen. Die Zionisten haben
es mit ihrer Propaganda (Hasbara) geschafft, dass alles Palästinensische
mit „antisemitisch“ gleichgesetzt wird.
Die Autorin nennt die
den zionistischen Staat betreffenden Fakten – Vertreibung, Besatzung,
Unterdrückung, Landraub, Segregation, eben Apartheid – sehr deutlich
beim Namen. Und sie kritisiert auch sehr scharf die deutsche
Erinnerungspolitik, die eng mit der Akzeptanz von Israels Politik
zusammenhängt: „In der offiziellen Erinnerungskultur gibt es für diese
Biografien [von palästinensischen Flüchtlingen vor den Zionisten] keinen
Ort, solange Deutschland für die israelische Staatsgründung ein
Passepartout benutzt, in dem nur die Shoa Platz hat. Die Vertreibung der
Palästinenser ist ein historischer Kollateralschaden, außerhalb unserer
Zuständigkeit, jenseits unseres Mitgefühls. Logisch ist das nicht:
Gerade wenn der Holocaust als die alles andere überschattende Ursache
der Staatsgründung betrachtet wird, wäre die Nakba [die
Vertreibung der Palästinenser durch die Zionisten 1948] auch ein Teil
unserer Geschichte, Teil einer gemeinsamen Geschichte. Doch steht
dagegen ein Bedürfnis, das erstaunlicherweise mit der Zeit eher größer
wird als kleiner: nämlich das Verhältnis zu Israel als exklusive
Zweierbeziehung zu sehen, als ein deutsch-jüdisches Wunder der
Versöhnung.“
Diese sehr berechtigte
Kritik am deutschen Gedenken ordnet sich in das Gesamtkonzept des Buches
ein: Immer wieder betont die Autorin ihr Ziel: einen Beitrag zu leisten
zu einer pluralen Erinnerungskultur, die keine Hierarchien der Leiden
kennt, also ein „Plädoyer für die prinzipielle Gleichrangigkeit“
historischer Leiderfahrungen und für ein an Inklusion und Solidarität
orientiertes Weltgedächtnis, wobei die Autorin die zentrale Stellung des
Holocaust gar nicht aufgehoben wissen will.
Das ist human gedacht
und entspricht Bestrebungen von Historikern in anderen Staaten. Die
Autorin leuchtet aber den Hintergrund gerade des offiziellen
Holocaust-Erinnerns nicht vollständig aus. Denn Israel hat ein sehr
spezielles Verhältnis zu dem Genozid an den europäischen Juden: Es hat
ihn von Anfang an für seine politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Zwecke instrumentalisiert. Schon die Toten des Holocaust
mussten sich, obwohl sie keineswegs alle Zionisten waren, gefallen
lassen, als die eigentlichen Begründer des Staates Israel angesehen zu
werden. Der Staat hatte und hat also Vorrang vor dem Holocaust, der
Holocaust ist also lediglich Mittel zum Zweck, um Vorteile jeder Art
daraus zu ziehen. Selbst die brutale Politik gegenüber den
Palästinensern wird mit dem Holocaust gerechtfertigt. („Wir haben den
Holocaust durchgemacht, uns ist deshalb alles erlaubt!“) Das ist keine
böse antisemitische Kritik an der Politik dieses Staates von außen,
sondern ist nachzulesen bei israelischen Autoren wie Abraham Burg,
Yehuda Elkana, Gideon Levy, Ilan Pappe, Shlomo Sand, Tom Segev, Avi
Shlaim und anderen.
Erinnern an den Holocaust ist nur dann authentisch, wenn es
zweck- und absichtsfrei, also keine instrumentalisierenden Ziele
verfolgt. Moshe Zuckermann hat es so definiert: „Erinnerung kann nur
dann als legitim bezeichnet werden, wenn sie Opfer im Stande ihres
Opfer-Seins und die Täter im Stande ihres Täter-Seins erinnert. Das
bedeutet aber, jene historischen Zusammenhänge zu ergründen, welche
Menschen letztlich Täter bzw. Opfer hat werden lassen.“ Genau das ist
das israelische Gedenken aber nicht, weil es immer zweckgebunden,
nationalistisch-zionistisch, also partikularistisch und eben nicht
universalistisch ist, d.h. eben nicht die Opfer aller Genozide mit
einbezieht.
Auf der Basis der äußerst engen deutsch-israelischen
politischen Verflechtung, die deutscherseits auf der Vorstellung beruht,
durch die totale Identifizierung mit Israel Erlösung von der durch den
Holocaust verursachten Schuld zu erlangen, hat das deutsche Erinnern
genau die Parameter des zionistischen Erinnerns übernommen und zu einem
Staatsdogma erhoben.
Der deutsch-jüdische Publizist Alfred Grosser hat einmal
geschrieben, man dürfe Auschwitz nur gedenken, wenn man gleichzeitig für
die Gleichheit aller Menschen überall auf der Welt eintrete. Das ist die
zwingende Konsequenz aus dem Holocaust, die Israel mit seiner
rassistischen Verachtung und Unterdrückung der Palästinenser aber in
keiner Weise erfüllt. Deshalb ist das zionistische Erinnern an den
Holocaust so fragwürdig – und das deutsche Gedenken ebenso, weil es mit
dem zionistischen völlig identisch ist. Die offizielle deutsche
Erinnerungspolitik mit ihrem Festhalten an der Einzigartigkeit dieses
Mega-Verbrechens ist das Fundament der deutschen Politik, aber sie ist
wegen des völligen Ausschlusses der Palästinenser mit ihren
völkerrechtlich abgesicherten Ansprüchen auf Freiheit und
Selbstbestimmung genauso partikularistisch wie die zionistische, auch
wenn sie behauptet, universalistisch zu sein.
Da die deutsche Politik alle völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Verbrechen Israels mitträgt, ist auch ihr
Holocaust-Gedenken in eine tiefe Krise geraten. Der israelische
Historiker Ilan Pappe merkte kürzlich an, dass Deutschland so gut wie
alle internationalen Verträge unterzeichnet habe, die es zur Einhaltung
von Völkerrecht und Menschenrechten verpflichte, durch die enge
symbiotische Allianz mit Israel sei es mit seiner Nahostpolitik aber
immer tiefer auf den abschüssigen Weg des moralischen Verfalls auf die
falsche Seite der Geschichte gerutscht. Für das deutsche
Holocaust-Gedenken hat das fatale Folgen: Es ist keine freie Erinnerung
auf dem Feld der Kultur, sondern ein Erinnerungsdiktat, das mit der
Macht des Staates durchgesetzt wird (Norman Paech). Widerspruch und
Abweichungen vom Dogma werden inquisitorisch als „antisemitisch“
stigmatisiert. Damit wird der politischen Kultur in Deutschland
(Stichworte: Meinungs-, Informations-, Versammlungs- und Kunstfreiheit)
schwerer Schaden zugefügt und dem wirklichen Kampf gegen den
Antisemitismus ein Bärendienst erwiesen.
Charlotte Wiedemann spricht diese desaströse Entwicklung so
nicht an, sie glaubt aber daran, dass Deutsche zu beidem fähig sein
könnten: zur Pflege einer Erinnerungskultur über den Holocaust, die die
Palästinenser miteinbezieht, und gleichzeitig zu einer kritischen
Haltung gegenüber Handlungen Israels findet. Das setzt aber voraus, muss
man hinzufügen, dass die deutsche Politik sich von ihrem
Erinnerungsdogma befreit, was auch eine eigenständige, souveräne Politik
gegenüber dem zionistischen Siedlerstaat voraussetzt. Bisher gibt es
aber für eine solche Entwicklung keinerlei Anzeichen.
Trotz dieser Kritik soll das Buch von Charlotte Widemann in
keiner Weise abgewertet werden. Es arbeitet klar und unmissverständlich
die Defizite der westlichen und speziell der deutschen Erinnerungskultur
heraus und zeigt dem Titel entsprechende Wege auf, wie wir den
Schmerz der Anderen [besser] begreifen können. Eine humanere
Welt kann es ohne ein Mehr an Empathie nicht geben. Ihr Buch ist ein
wichtiger Beitrag dazu, uns an dieses unumstößliche Faktum zu erinnern
und uns für die Schaffung eines globalen Zustandes einzusetzen, der
heute noch eine Utopie ist, von dessen Realisierung aber ganz wesentlich
die globale Zukunft abhängt.
Charlotte Wiedemann
Den
Schmerz der Anderen begreifen.
Holocaust und Weltgedächtnis
Propyläen Verlag, Berlin
ISBN 978-3-549-10049-3, 22 Euro
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