Nur Druck auf Israel
kann die Situation der Palästinenser verändern / Ein
neues Buch gibt Auskunft über Hintergründe,
Voraussetzungen und Methoden von BDS
Arn Strohmeyer
Über die Boykottaktionen
gegen israelische Waren bzw. die aus den von Israel
besetzten Gebieten oder gegen Israel selbst ist in der
letzten Zeit in Deutschland heftig gestritten worden.
Wer dieses Thema anschneidet oder sogar in seinem Sinne
aktiv wird, wird schnell des Antisemitismus bezichtigt -
der letzten Waffe zur intellektuellen Einschüchterung
und zum An-den-Pranger-Stellen, über die die
Israel-Verteidiger mangels sonstigen Argumenten noch
verfügen. Da kann man hundert Mal versichern, dass der
Aufruf zum Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS)
sich nicht gegen die jüdischen Israelis in ihrer
Eigenschaft als Juden richtet, sondern gegen die Politik
des Staates Israel, die unter Bruch des Völkerrechts und
unter Verletzung der Menschenrechte ein ganzes Volk
unterdrückt und ihm sein Existenzrecht bestreitet -
Israel steht nach Meinung dieser Leute über jedem
Gesetz, es ist so etwas wie ein unanfechtbarer,
tabuisierter religiöser Glaube. Völkerrecht,
Menschenrechte und UNO-Resolutionen interessieren die
Israel-Verteidiger nicht. Aus der Geschichte haben sie
offenbar nichts gelernt.
Da ist es ausgesprochen
verdienstvoll, dass der Zambon-Verlag in Frankfurt/ Main
jetzt ein Buch mit dem Titel „BDS - Boykott,
Desinvestition, Sanktionen. Gewaltloser Kampf gegen die
Israel-Apartheid“ herausgebracht hat. Autoren sind die
beiden Italiener Diana Carminati und Alfredo Tradardi,
denn auch in Italien gewinnt die Boykott-Bewegung an
Stärke. Dieses Buch schafft Klarheit in einem
Politik-Bereich, in dem Transparenz mehr als nötig ist.
Zunächst einmal klärt es die Begriffe. Boykott
ist die Mobilisierung einer Personen-Gemeinschaft, die
auf verschiedenen Gebieten (politischen,
wirtschaftlichen oder kulturellen) schädliche bzw.
kriminelle Handlungsweisen oder Verbrechen von
Unternehmen oder Regierungen zu verhindern sucht. Der
Boykott ist für eine unterdrückte Gruppe oder ihre
Helfer eine Art des Widerstandes, eine Taktik zur
Herausforderung des Unterdrückers.
Sanktionen
sind eine Antwort auf diejenigen, die internationales
Recht missachten. Sie können gegen Staaten, Regierungen
und politische Bewegungen ausgesprochen werden, die das
Völkerrecht verletzt oder vereinbarte Gesetze oder
Verträge nicht eingehalten haben. An dieser Stelle
bemerken die beiden Autoren zu Recht, dass die
internationale Gemeinschaft bisher keine Sanktionen
gegen den permanenten Rechtsverletzer Israel verhängt
hat, sehr wohl aber gegen die Palästinenser, weil das
Ergebnis der 2006 durchgeführten und absolut regulären
und demokratischen Wahlen den Interessen der
internationalen Machthaber und Israels nicht entsprach.
Ein klarer Verstoß gegen die eigenen und immer wieder
propagierten Werte.
Desinvestition
ist die Rücknahme von Wirtschaftsinvestitionen als
Protest und Druckmittel. Sie ist die Entscheidung von
Einzelnen, Gruppen, Institutionen oder Staaten, in Sach-
oder Finanzwerte investierte Geldbeträge (Wertpapiere
oder Aktien) in liquide Form umzuwandeln und aus
Unternehmen abzuziehen, um Druck auf
Entscheidungsgruppen in Politik und Wirtschaft
auszuüben.
Die Autoren stellen dann
die Frage, warum gerade Israel boykottiert werden muss
und beantworten sie so: „Wir müssen die Geschichte
Palästinas studieren, wir müssen den Zusammenhang sehen
zwischen den Bombardierungen und der Vertreibung der
Palästinenser 1948 und den Bombardierungen und der
ethnischen Säuberung 2008/09. Die gleiche Strategie, die
gleiche Methodologie verbinden beide, bloß sind die
Waffen tödlicher und moderner geworden. 1948 wurden die
meisten Massaker begangen, weil die israelische Armee
den Palästinensern keine Möglichkeit ließ, ihre Dörfer
und Städte zu verlassen. Der Gazastreifen ist heute wie
ein riesiges palästinensisches Dorf von 1948, in dem die
Leute nicht wissen, wohin sie gehen sollen, wohin sie
sich retten sollen, wo die Menschen verzweifelt einen
ungleichen Kampf führen, ohne Überlebensmöglichkeit.“
Und weiter schreiben die
beiden Autoren: „Wir müssen auch die zionistische
Ideologie betrachten. Wenn wir die Verbindung zwischen
zionistischer Ideologie und den in Gaza begangenen
Verbrechen nicht analysieren, wird es uns nicht
gelingen, zu verstehen, warum die Israelis so handeln,
wie sie handeln, und wir werden auch den nächsten
Völkermord oder das nächste Massaker nicht verhindern
können. Die Ideologie ist eine dynamische Erscheinung in
der Geschichte, die sich den jeweils veränderten
Umständen anpasst. Aus diesem Grund hat sich der
ursprüngliche zionistische Gedanke der nationalen
Identität, der jüdischen Selbstbestimmung und Sicherheit
gewandelt, als aus dem zionistischen Projekt das
kolonialistische Besetzungsprojekt wurde. Der Zionismus
entstand nicht mit dieser Intention, er wurde aber zur
rassistischen Ideologie, welche die Palästinenser als
einzelne Personen und als Gemeinschaft entmenschlicht -
aus der tiefen Überzeugung und dem zentralen Gedanken
der zionistischen Bewegung heraus, dass, solange
Palästinenser in dem Gebiet leben, das einmal Palästina
war, es weder Sicherheit noch Gedeihen für das jüdische
Volk gibt, das den israelischen Staat gegründet hat und
im Staat Israel lebt.“
Die Autoren führen
weiterhin - im Einzelnen detailliert dargestellte -
Gründe für einen Boykott an: die Beschlagnahme
palästinensischen Landes und Besitzes von 1948 an, das
zionistische Projekt der Besetzung und Annexion bis
heute, die rassistische Diskriminierung von Nicht-Juden
in Israel selbst, den „Genozid“ in Gaza 2008/2009, den
völkerrechtswidrigen Bau der Mauer auf palästinensischen
Gebiet, das Anlegen von umzäunten Enklaven, in denen
„überschüssige Menschen“ bzw. „widerständige
Bevölkerungsteile“, die als „Feinde bzw. Unpersonen“
eingestuft werden und zum bloßen Überleben verurteilt
sind, weggeschlossen werden - bis hin zur Erschöpfung,
Unterernährung, dem Verlust der Würde, ein Weg zur
Entmenschlichung und zum Tode.
Zu diesem langen Katalog
der Ungesetzlichkeiten und Unmenschlichkeiten zählen die
Autoren auch die - auf den ersten Blick so harmlos
klingende - Forderung Israels nach „Anerkennung seines
Existenzrechts“. Einmal abgesehen davon, dass es eine
solche Begrifflichkeit im internationalen Recht gar
nicht gibt, werden einige Fakten aufgezählt: Die Fatah
hat die Losung „zwei Völker - zwei Staaten“ bereits 1974
akzeptiert und damit implizite die Grenzen des
Waffenstillstandes von 1949 und folglich auch den Staat
Israel anerkannt. Die PLO vollzog in den neunziger
Jahren diese Anerkennung endgültig. Israel hat aber
niemals die Palästinenser als Volk, das ein Recht hat,
in Palästina zu leben, anerkannt, sondern lediglich die
PLO als politische Vertretung der Palästinenser. Israel
hat zudem seine Grenzen bis heute nicht festgelegt.
„Existenzrecht“ innerhalb welcher tatsächlichen und
legalen Grenzen also? muss man fragen.
Und außerdem: Das Gesetz
von 1950 über die Rückkehr der Juden aus aller Welt und
das Gesetz über das Verbot der Rückkehr der
palästinensischen Flüchtlinge von 1948 haben die
ethnische Diskriminierung in Israel festgelegt. Wie
können die Palästinenser einen Staat anerkennen, fragen
die Autoren, der seine Bewohner ethnisch und religiös
diskriminiert? Dies wäre gegen die Rechtsgrundlagen der
EU und der Vereinten Nationen, die auf den Grundpfeilern
der Wahrung der Menschenrechte beruhen. Und wie sollen
die Palästinenser in Israel diesen Staat als „Staat des
jüdischen Volkes“ anerkennen, deren erste Folge die
Aberkennung ihrer eigenen Staatsbürgerschaft wäre? Und
nicht zuletzt führen die Autoren als Grund zum Boykott
an: die brutale Unterdrückung der Palästinenser in den
besetzten Gebieten, die Israel kolonisiert und obendrein
wirtschaftlich so ausbeutet, als seien sie sein
Staatsgebiet.
Sind dies nicht alles
hinreichende Gründe für BDS-Aktionen? Die Autoren zeigen
Methoden und Strategien auf, wie solche Aktionen
erfolgreich gestaltet werden können und welche
Voraussetzungen dazu unbedingt erfüllt sein müssen. Und
sie verweisen immer wieder auf das Beispiel Südafrika,
wo die BDS neben dem inneren revolutionären Widerstand,
der pragmatischen Haltung des ANC, globalen Ereignissen
(Zusammenruch des Kommunismus) und dem Einfluss der
neoliberalen Kräfte (nach deren Meinung die Apartheid
der Weißen den Markt erstickte) das System zu Fall
brachten. Und es war der südafrikanische Politiker
Ronnie Kasrils, der gesagt hat, dass die Architektur der
Rassentrennung, die er bei seinem Besuch im
Westjordanland und im Gazastreifen gesehen habe,
„unendlich schlimmer als die Apartheid [in Südafrika]“
sei.
Südafrika macht also
Hoffnung - nicht Israel abzuschaffen, aber dort Zustände
auch für die Palästinenser zu schaffen, die mit dem
Völkerrecht, den Menschenrechten und UNO-Resolutionen im
Einklang sind. Denn ein Frieden ohne eine solche
Gerechtigkeit bedeutet die Institutionalisierung der
Ungerechtigkeit. Das ist nicht hinnehmbar. Der
Koordinationskreis Palästina - Israel (KOPI) schreibt im
Vorwort des Buches, warum eine solche Ungerechtigkeit
gerade für die Deutschen nicht hinnehmbar ist: „Wenn
heute jedoch seitens der deutschen Politik
wirtschaftlicher und politischer Druck auf Israel
unterbleibt und dabei auf die nationalsozialistischen
Verbrechen an Jüdinnen und Juden verwiesen wird, so
werden damit die Besatzung Palästinas und die Verstöße
gegen Völkerrecht und Menschenrechte mitgetragen. Und
wir werden erneut verantwortlich für das Leid
unschuldiger Menschen.“ Man kann es auch noch schärfer
formulieren: Wir machen uns der Mittäterschaft schuldig.
Und wenn dann bei
BDS-Aktionen doch der Vorwurf des Antisemitismus kommt?
Die Autoren empfehlen, dann einen Satz des französischen
Philosophen Etienne Balibar zu zitieren und auf seine
Umsetzung zu pochen. Er schrieb: „Es sollte Israel nicht
gestattet werden, den Völkermord an den europäischen
Juden dazu zu nutzen, sich über die Gesetze der Nationen
hinwegzusetzen.“ Dazu schreiben die Autoren ergänzend:
„Indem so getan wird, als sähe man die israelische
Unterdrückung nicht, perpetuiert der Westen -
insbesondere die USA und Europa - die Armut, das
menschliche Elend und die Ungerechtigkeiten, die auf den
Holocaust zurückgehen.“
Diana
Carminati/ Alfredo Trardari: BDS.
Boykott, Desinvestition,
Sanktionen. Gewaltloser Kampf gegen die Israel-Apartheid,
Zambon Verlag Frankfurt am Main, 8 Euro, ISBN 978 3
88975 1331