Wenn Wissenschaftler als „Verräter“,
„Antisemiten“, „Holocaustleugner“ und
„Nazi-Kollaborateure“ verunglimpft werden
Ilan
Pappe schildert in seinem neuen Buch „Die Idee Israel“
Aufstieg und Untergang der postzionistischen Bewegung,
die die Mythen des jüdischen Staates radikal in Frage
stellte / Weiterleben im Exil
Arn
Strohmeyer
Das
Aussprechen der Wahrheit ist sehr oft eine Provokation,
wenn nicht riskant und sogar gefährlich. Diese Erfahrung
mussten auch die sogenannten Postzionisten in Israel
machen – eine Bewegung von Historikern, Soziologen,
Geografen, Philosophen und Publizisten, die Zweifel am
Zionismus anmeldeten und es sich zur Aufgabe gemacht
hatten, Kernaussagen dieser Ideologie zu hinterfragen,
also letzten Endes die Idee, auf der der Staat Israel
basiert. Den Aufstieg und den Untergang dieser
wissenschaftlichen Bewegung beschreibt Ilan Pappe in
seinem neues Buch „Die Idee Israel. Mythen des
Zionismus“. Wobei anzumerken ist, dass es für dieses
Thema keinen berufeneren Autor geben kann, denn er hat
mit seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas
1948“ eins der Standardwerke des postzionistischen
Aufbruchs geschrieben und musste nach dem Ende der
Bewegung ins Exil in England gehen, weil für ihn in
Israel die berufliche und persönliche Situation
unerträglich geworden war.
Die
wissenschaftliche Methode des postzionistischen
Vorgehens beschreibt Pappe so: „Jedes Medium, durch
welches das zionistische Geschichtsbild und das Wesen
Israels als Idee verbreitet worden war, wurde untersucht
und dekonstruiert und als Text entlarvt, der die
anderen, wer immer sie auch sein mochten, ignorierte,
verzerrt darstellte und unterdrückte. Ebenso wie ihre
Kollegen im Westen, die auf ähnlich kritische Weise ihr
eigenes nationales Ethos hinterfragten, versuchten die
Postzionisten, die verborgenen oder unterdrückten
Stimmen in der israelischen Gesellschaft vor dem
Vergessen zu bewahren. Kritische Theorien zum
Nationalismus, relativistische Geschichtsphilosophien,
postmoderne hermeneutische Techniken und dekonstruktive
Methodologien, sie alle kamen zur Anwendung, um zu
verstehen, wie die zionistische Interpretation der
Realität das Leben aller beeinflusste, die in Israel
oder Palästina lebten oder früher dort gelebt hatten.“
Ein sehr
anspruchsvolles Unternehmen also. Dass dabei das Jahr
1948 – das Jahr der Nakba, der Gründung des Staates
Israel und des Krieges – ganz besonders in den Focus
geriet, kann nicht verwundern, denn dieser Zeitabschnitt
ist das Fundament der Idee Israels. In diesem Jahr
vollendete sich nach zionistischer Darstellung das
heroische „Wunder“ des modernen Israel – seine
„Wiedergeburt“ und „Erlösung“ in seinem „Heimatland“
nach 2000 Jahren der Gefahr und Verfolgung. Zur Idee des
zionistischen Israel, zu seinem Gründungsmythos, gehörte
vor allem auch die Darstellung seiner linientreuen
Historiker, dass die Palästinenser 1947/48 „freiwillig“
das Land verlassen hätten. Das Leid, das man diesem Volk
mit der Vertreibung (der Nakba) angetan hat, wurde
vollständig geleugnet. Dem Widerspruch, was denn an dem
Jahr 1948 so „heroisch“ gewesen sein soll, wenn die
Palästinenser kampflos geflohen waren, konnte sich die
zionistische Geschichtsdarstellung nur dadurch
entziehen, indem sie die palästinensische Seite gar
nicht erwähnte, die Fakten also einfach leugnete. Der
Zionismus erhob sich zudem selbst in den Status einer
Befreiungsbewegung der Dritten Welt, um so den Eindruck
zu vermeiden, man habe einen Krieg gegen die
Palästinenser geführt.
Die
Geschichte des Jahres 1948 ist auch noch aus einem
anderen Grund wichtig. Durch den Zusammenhang mit Krieg
und Frieden sowie den Beziehungen zu den Palästinensern
stellte sie die Weichen auch zur israelischen Politik
von heute. Nicht wenige israelische Politiker und
Militärs haben immer wieder betont, dass 1948 noch nicht
vollendet sei – was ja bedeutet, dass man die
Palästinenser vollständig hätte vertreiben müssen und
dass dieser „Transfer“ noch eine Aufgabe für die Zukunft
sei. Die postzionistischen Historiker, die sich „Neue
Historiker“ nannten, legitimierten in gewisser Hinsicht
das Geschichtsbild der Palästinenser und deckten durch
ihre Forschungsarbeiten die falschen Annahmen und
historischen Fälschungen der zionistischen
Geschichtsdarstellung auf, damit untergruben sie aber
die Idee und den Gründungsmythos dieses Staates.
Möglich
geworden war das „kurze glückliche Jahrzehnt“ (Pappe)
des Postzionismus in Israel, weil auch in der
Gesellschaft Zweifel an der zionistischen Identität des
Landes aufgetaucht waren. Der Autor schreibt: „Die
politischen Forderungen der ärmeren Bevölkerungsgruppen,
die Besatzung der Westbank und im Gazastreifen und die
eingefrorenen Friedensabkommen, das alles trug dazu bei,
den Zionismus entweder zum Anachronismus oder zum
Konzept einer aggressiven Politik wie der der Siedler zu
machen. Dieser Prozess begann 1977, als die Hegemonie
der Aschkenasi-Elite in Frage gestellt wurde. Er setzte
sich mit dem Libanonkrieg von 1982 und der ersten
Intifada fort und erreichte seinen Höhepunkt mit der
Ermordung Yitzhak Rabins und den Wahlen von 1996, durch
die eine aggressivere Form des Zionismus – die Version
des Likud – an die Macht kam.“
Die
Oslo-Verträge mit den Palästinensern hatten eine
politische Atmosphäre geschaffen, in der plötzlich
Frieden mit dem bisherigen Feind und damit auch Kritik
und Pluralismus in der israelischen Politik und der
Wissenschaft möglich wurden. Es taten sich Wege auf, die
es erlaubten, die Realität nicht mehr nur zionistisch
interpretieren zu müssen. Die israelische Gesellschaft
befand sich infolgedessen in dieser Zeit in einer
schweren Identitätskrise, denn Frieden mit dem früheren
Todfeind zu schließen, hätte auch bedeutet, dass man den
natürlichen zionistischen Konsens hätte untergraben
müssen, der auf der Abwehr der Bedrohung durch eben
diesen Feind beruhte. Da verwundert es nicht, dass sich
Widerstand regte.
Als dann
die zweite Intifada ausbrach, deren Initiierung man dem
palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat anlastete,
und der Gipfel im Jahr 2000 in Camp David scheiterte,
auf dem der damalige israelische Ministerpräsident Ehud
Barak die „endgültige Lösung der Palästina-Frage“
erreichen wollte, gab das offizielle Israel den
Palästinensern die Schuld für das Misslingen des
Annäherungsprozesses. Die politische Elite und die
israelische Gesellschaft gaben an, alles
Menschenmögliche für einen Friedensschluss getan zu
haben, man sei bei den Palästinensern aber nur auf
Extremismus und Unnachgiebigkeit gestoßen, weshalb sich
die Regierung nun gezwungen gesehen habe, Krieg statt
Frieden zu machen. Dass gerade die Vorschläge Israels in
Camp David für die Palästinenser unannehmbar waren,
wurde natürlich verschwiegen. Konkrete Einzelheiten dazu
wurden nie offiziell veröffentlicht.
Die
politischen Ereignisse hatten eine vernichtende Wirkung
auf die postzionistische Kritik und sie läuteten das
Ende des postzionistischen Jahrzehnts ein. Pappe nennt
es nachträglich den „glücklichen Moment in der
Geschichte des Staates Israel“. Die Stimmung schlug
vollständig um. Nach dem Oktober 2000 kehrte der
öffentliche Diskurs innerhalb weniger Wochen zum
allgemeinen Konsens zurück. Viele Wissenschaftler, die
der postzionistischen Bewegung angehört hatten, legten
opportunistisch Reuebekenntnisse ab und versicherten
ihre Treue zum Zionismus und zur Gegnerschaft zu den
Palästinensern. Gegen die Anhänger des Postzionismus,
die nicht reumütig abschwörten, wurde eine Hetzkampagne
geführt: sie wurden als „Verräter“, „Antisemiten“,
„Holocaustleugner“ und sogar als „Nazi-Kollaborateure“
diffamiert. Pappe schreibt über das Ende der Bewegung:
„Seit 2000 war keine Spur der vorher so beeindruckenden
Präsenz postzionistischer Sichtweisen mehr zu finden. An
ihre Stelle war die neue konsensuelle Interpretation des
Zionismus getreten. Dieser neue Konsens stand in
Konkurrenz zu einer noch unversöhnlicheren und noch
weniger kompromissbereiten Version des Zionismus, die
ich als Neozionismus bezeichnen möchte.“
Diese
Richtung definiert Pappe so: „Die Taktik der
Neozionisten bestand darin, vorzugeben, sie hätten den
Schlüssel zur Vereinigung der desintegrierten und
polarisierten israelischen Gesellschaft. Dieser
Schlüssel sollte die kristallklare Version des Judaismus
als nationale Bewegung sein, wie sie die Intellektuellen
des Labourzionismus niemals hatten formulieren können.
Die Neozionisten stellten sich als einigende Kraft dar,
die das breite Spektrum einander widersprechender
Interpretationen des Judaismus sowohl als Religion als
auch als nationale Bewegung vereinigen könne.“
Die
Folgen des Endes des Postzionismus und der Rückkehr zum
Konsens waren auch politisch unmittelbar sichtbar. Der
Pluralismus der politischen Ansichten verschwand aus dem
Diskurs der Gesellschaft, was bedeutete: Die
Unterschiede zwischen den Parteien verwischten sich fast
vollständig. Von Frieden war nirgendwo mehr die Rede.
Die Zukunft des Staates wurde so definiert: Israel
annektiert 40 Prozent des Westjordanlandes, die
Palästinenser dürfen in 60 Prozent dieses Gebietes und
im Gazastreifen eine autonome Zone bilden, also ein Art
Bantustan. „Frieden“ in diesem israelischen Sinne
bedeutet also völlige Unterordnung der Palästinenser
unter den politischen Willen Israels. Sie bleiben in
ihren Großgefängnissen hinter der Mauer eingesperrt.
Verhandlungen über einen Kompromiss gibt es nicht,
Israel entscheidet allein.
Eine
Veränderung hatte die postzionistische
Geschichtsschreibung aber doch bewirkt: Es werden gerade
in Bezug auf das Jahr 1948 nicht mehr alle Fakten
geleugnet. Selbst systematische Vertreibungen werden
zugegeben, gleichzeitig aber politisch und moralisch
gerechtfertigt. So heißt es jetzt, dass ohne die
Beseitigung der Palästinenser kein jüdischer Staat hätte
entstehen können. Für den Historiker Benny Morris, der
einer der Initiatoren der postzionistischen Bewegung
gewesen war, dann aber abgeschworen hatte und ins
zionistische Lager zurückgekehrt war, war die ethnische
Säuberung 1948 ein „Akt der Selbstverteidigung“, eine
Wahl zwischen „vernichten und vernichtet werden“. Der
Krieg von 1948 sei einer jener „Umstände in der
Geschichte“ gewesen, die eine „ethnische Säuberung
rechtfertigen“. Entsprechend dem wachsenden Einfluss der
Religion auf die israelische Gesellschaft argumentiert
etwa der neozionistische Historiker Alon Kadish
theologisch und bezeichnet das Ergebnis des Krieges von
1948 als „Sieg der Gerechten über die Ungerechten“,
durch den ein zweiter Holocaust verhindert worden sei.
Die neue neozionistische Richtung der Historiker sieht
die Inbesitznahme ganz Palästinas – angetrieben von dem
Wunsch nach messianischer Erfüllung und aus Furcht vor
einer existentiellen Bedrohung – als legitim an. Den
Palästinensern wird selbst die Schuld an ihrem Schicksal
gegeben.
Pappe
resümiert: „Die postzionistische Kritik am Verhalten
Israels in Vergangenheit und Gegenwart, die teilweise so
weit ging, dass sie die Legitimität und moralische
Legalität der zionistischen Ideologie in Frage stellte,
wurde durch einen neozionistischen Standpunkt ersetzt,
der sich nun strikt an die Grundsätze der klassischen
zionistischen Ideologie hält. “Politisch, so fürchtet
er, wird es in Zukunft auf die Entstehung eines
Apartheidregimes hinauslaufen, das er in großen Teilen
schon realisiert sieht.
Der
Postzionismus ist dennoch nicht tot. Abgesehen davon,
dass er sich eines Tages auch in Israel in welcher Form
auch immer wieder zu Wort melden wird, denn Wahrheit hat
immer das Bestreben, ans Licht zu kommen, wirkt er nun
außerhalb Israels weiter. Tom Segev, der auch zu den
„neuen Historikern gehörte, hat die optimistische
Hoffnung geäußert, dass der Postzionismus „im Exil“ noch
seine volle Wirkung entfalten werde. Diese Hoffnung hat
sich erfüllt. Jeder Historiker, Publizist und Aktivist,
der sich kritisch mit der israelischen Geschichte und
Politik auseinandersetzt, profitiert direkt von den
Forschungsergebnissen der Postzionisten, ja ihre
Arbeiten sind für sie unumgänglich und eine Leitschnur.
Ilan Pappes hier besprochenes Buch und alle seine
anderen Werke sind das beste Beispiel für die große
Nachwirkung der Postzionisten „im Exil“. Sein Buch über
diese bedeutende Bewegung und seine Kritik an der „Idee
Israel“ sollte eine Pflichtlektüre für alle
Nahost-Interessierten sein.
Pappe,
Ilan: Die Idee Israel. Mythen des Zionismus, Laika
Verlag Hamburg, 21 Euro - ISBN: 978-3-944233-40-6
28.09.2015