TRANSLATE
In der Falle der
Stammesideologie
Der israelische
Anthropologe und Friedensaktivist Jeff Halper sieht den
Zionismus als gescheitert an und prophezeit seinem Land eine
düstere Zukunft
(Ein Israeli in Palästina: Widerstand gegen Vertreibung und
Enteignung - Israel vom Kolonialismus erlösen, AphorismA
Verlag Berlin 2010, 15 Euro)
Arn Strohmeyer
Der Israeli Jeff Halper war von Beruf Professor für
Anthropologie an der Universität von Jerusalem. Nach dem
Ausscheiden aus dem Dienst übernahm er den Vorsitz der
israelischen Friedensorganisation ICADH, die gegen die
Zerstörungen palästinensischer Häuser vorgeht. Er geht in
seinem Buch über das Nahost-Problem einmal ganz anders an
den israelisch-palästinensischen Konflikt heran als sonstige
Darstellungen - eben anthropologisch. Er schildert die
„normale“ Situation des Menschen im Allgemeinen. Und die
sieht für ihn so aus: Sie sind eingesperrt in „Boxen“,
Kästen also. Diese bestehen aus tief verwurzelten sozialen
und kulturellen Identitäten, Narrativen, Normen, Erfahrungen
und Interessen. Ihnen fest verhaftet zu sein, ist das, was
man in der Gesellschaft als „normal“ bezeichnet. Die
„Normalität“ ist aber keineswegs so „normal“, wie man meint,
sondern meistens sehr beschränkt, von Vorurteilen und
Dummheiten bestimmt, die jeder Vernunft widersprechen.
Nun gibt es aber kritische Menschen, die sich nicht an die
vorgeschriebenen Muster halten, sondern Löcher in die Box
schlagen, sozusagen Fenster zur „Realität“ und zur Vernunft
öffnen, was aber wiederum die „Wächter“ auf den Plan ruft,
die die Box errichtet haben. Sie wollen die Menschen darin
festhalten und die aufgestoßenen Fenster zur Realität
schnell wieder schließen. Denn die Eingeschlossenen sollen
die Realität draußen gar nicht sehen. Tun sie es dennoch,
werden sie verteufelt und dämonisiert und die Wächter drohen
mit Sanktionen und hohen Strafen. Außerdem setzen sie über
die Medien eine Propaganda-Kampagne in Gang und vermitteln
so die Botschaft: Es gibt gar keine Box - alles ist völlig
„normal“. Aber die Box ist Realität und die Propaganda hat
nur die Funktion, die Menschen „dumm“ zu halten. Sie sollen
die Realität draußen unter keinen Umständen „verstehen“.
Was hat dieses Gleichnis, das an Kafka erinnert, mit dem
Nahost-Konflikt zu tun? Die Israelis sitzen - so Halper - in
der „Box“ der Ideologie einer „jüdisch-nationalen
Ethnokratie, d.h. einem archaischen Stammesdenken, das
Palästina „exklusiv“ für Juden beansprucht. Die Ursprünge
dieses „organisch-völkischen Nationalismus“ ortet Halper in
Osteuropa, wo der Zionismus entstand und dann mit der
jüdischen Auswanderung Palästina exportiert wurde. Aus dem
exklusiven Anspruch auf das Land ergibt sich automatisch die
Entweder-oder-Gleichung: „wir oder sie“, d.h. das Land
bleibt arabisch oder es wird jüdisch, ein Kompromiss ist
nicht möglich.
Halper belegt diese zionistische Position mit vielen
Beispielen, etwa auch einem Zitat des Zionistenführers und
ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion, der
schon 1919 schrieb: „Jeder sieht die Probleme zwischen Juden
und Arabern. Aber nicht jeder sieht ein, dass es keine
Lösung dafür gibt. Es gibt keine Lösung! Der Konflikt
zwischen den Interessen der Juden und den Interessen der
Araber in Palästina kann nicht durch Spitzfindigkeiten
gelöst werden. Ich kenne keinen Araber, der zustimmen würde,
dass Palästina uns gehört - selbst wenn wir arabisch lernen.
Und ich habe kein Bedürfnis, die arabische Sprache zu
lernen. Wehe uns, wenn wir unser Leben im Arabischen führen
müssten! Andererseits sehe ich auch nicht ein, dass
‚Mustafa‘ hebräisch lernen sollte. Es handelt sich hier um
eine nationale Frage. Wir wollen, dass das Land uns gehört.
Die Araber wollen, dass das Land ihnen gehört.“
Daraus ergeben sich - als zionistisches Narrativ - noch
einige Schlussfolgerungen, die wie die Sätze Ben Gurions
noch heute unumschränkt gültig sind. Halper formuliert sie
so: „Das Land [vom Mittelmeer zum Jordan] gehört
ausschließlich dem jüdischen Volk. Es gib kein anderes Volk
mit stichhaltigen nationalen Rechten oder Ansprüchen auf das
Land. Obwohl ‚Araber‘ im Lande Israel leben, stellen sie
kein Kollektiv dar, das den jüdischen Exklusivanspruch in
irgendeiner Weise in Frage stellen könnte. Da das Land den
Juden gehört, verfügen allein sie über das Vorrecht, sein
Schicksal zu bestimmen. Jede politische Lösung des
gegenwärtigen Konflikts, selbst eine, die einen
palästinensischen Staat hervorbringen würde, wird
ausschließlich von den israelischen Juden bestimmt. Die
Araber mögen konsultiert werden, aber echte Verhandlungen,
die auf der Vorstellung beruhen, dass die Palästinenser im
Land Israel ein Recht auf Selbstbestimmung haben, kommen
nicht in Frage.“
Das ist - so Halper - der Kern des Konflikts von Anfang an
(der Beginn der zionistischen Besiedlung Palästinas begann
um 1880) bis heute. Und wenn es eine Konstante in der
Politik israelischer Regierungen gab, dann die der völligen
Missachtung der Existenz und der Rechte der Palästinenser,
zusammen mit den Bemühungen, diese zu umgehen und das Land
Palästina allein für die Juden zu sichern. Die Vorstellung,
dass es den Palästinensern gestattet sein sollte, auf dem
gesamten besetzten Gebiet - gerade mal 22 Prozent des Landes
- einen Staat zu gründen, sei nie ernsthaft von einem
israelischen Politiker oder von irgendeiner Partei erwogen
worden. Im Gegenteil, Israels offizielle und unzweideutige
Politik der „Judaisierung“, die der physische Ausdruck der
„Exklusivität“ sei, schreite rasch voran. Israels Kontrolle
über „Judäa und Samaria“ (so nennen die Israelis das von
ihnen beanspruchte Westjordanland) einschließlich der sieben
großen jüdischen Siedlungsblöcke würde immer mehr umfassend
und permanent.
Ben Gurion hatte es ja deutlich gesagt: Es kann keine
politische Lösung für den Konflikt geben: entweder gewinnen
„wir oder sie“. Halper sieht die Ursache für ein so starres
ideologisches Festhalten in den unversöhnlichen politischen
Positionen des „ethnokratischen“ Denkens der Zionisten, also
in einer Staatsform, die „exklusiv“ für den privilegierten
„Stamm“ der Juden da ist, denn Israel versteht sich als
„jüdischer Staat“. Ein solcher - so Halper - kann aber nicht
zugleich eine Demokratie sein, denn Israel schließt damit
ein Fünftel seiner Bürger (die dort lebenden Palästinenser),
die nicht zum „Stamm“ gehören, von vollen Bürgerrechten aus.
Der „Stamm“ definiert sich nicht nach staatsbürgerlicher
Gleichheit, sondern nach „Rasse, Abstammung, Religion,
Sprache und nationaler Herkunft.
Der offiziellen israelischen Sichtweise zufolge tragen die
Araber die Alleinschuld an dem Konflikt, weil sie den
Zionismus von Anfang an zurückgewiesen und nie akzeptiert
hätten. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass Israel das
„Opfer“ in dieser Auseinandersetzung ist, das nur den
Frieden will. Die Araber sind in israelischen Augen
„irrational“, „fanatisch“, „verschlagen“ und „antijüdisch“ -
eigentlich gar keine Menschen. Sie können sich nur als
„Terroristen“ in „Banden“ organisieren, um Israel das Land
wieder wegzunehmen. Halper zitiert zum Beleg erschütternde
Sätze von israelischen Politikern und Politikberatern. So
äußerte Anon Sofer, ein Berater des früheren Regierungschefs
Ariel Sharon 2004 über die Palästinenser in Gaza-Streifen,
die Israel bedrohten: „Wenn wir am Leben bleiben wollen,
werden wir töten und töten und töten müssen den ganzen Tag,
jeden Tag“. Aus der Verachtung der Araber ergibt sich
automatisch, dass sie keine Partner für den Frieden sein
können. Israel hat hier „keine Wahl“.
Halper formuliert die israelische Sicht so: „Wenn wir Opfer
sind, wovon der israelische Sicherheitsmythos ausgeht, dann
sind ‚sie‘ definitionsgemäß die Übeltäter. Alle unsere
Aktionen sind defensiv. Wir haben nichts mit der Fortdauer
des Konfliktes zu tun.“ Israel hat also nach eigener
Auffassung keinerlei Verantwortung für den Konflikt - auch
nicht für seine Vorgeschichte: Israels Kriege und
Eroberungen, die ethnische Säuberung von 1948 und die
Vertreibung von über einer Million Palästinensern und den
Raub ihres Landes. Die Alleinschuldigen sind die Araber.
Halper belegt, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah. Auf
vielen Seiten listet er arabische Friedensinitiativen auf -
Israel hat sie alle zurückgewiesen. Halper bietet einen
unverdächtigen Zeugen auf, den israelischen Historiker Benny
Morris, der seiner Position nach eher ins Lager der rechten
„Falken“ gehört. Er schreibt: „Jahrzehnte lang belogen Ben
Gurion und die nachfolgenden Regierungen die israelische
Öffentlichkeit über die Friedensangebote nach 1948 und über
das arabische Interesse an einer Vereinbarung. Die
arabischen Führer (mit der Ausnahme des jordanischen Königs
Abdullah) wurden alle miteinander als Ansammlung
unverbesserlicher Kriegstreiber präsentiert, die wild
entschlossen Israel auslöschen wollten. Die kürzlich
erfolgte Öffnung der Archive bietet ein sehr viel
komplexeres Bild.“
Das Festhalten an dieser Ideologie des „völkischen,
ethnokratischen Nationalismus“ ist die „Box“, die „Blase“
oder die „Festung“, in der die israelische Führung festsitzt
und die jede Friedenslösung unmöglich macht. Und jeder, der
es wagt, diese Weltanschauung zu kritisieren, wird
diskreditiert und als „Antisemit“ angeprangert. Auch der
Jude und israelische Staatsbürger Jeff Halper, der nur von
seinem demokratischen Recht zur Kritik Gebrauch macht, wäre
nach dieser Definition ein gefährlicher Antisemit, was die
Absurdität dieser Argumentation belegt.
Und wie stehen die Israelis in ihrer Mehrheit zu dieser
Ideologie ihrer politischen Elite? Die meisten akzeptieren
die Vorgaben. Halper schreibt: „Israelische Juden leben
hinter einer ideologischen Mauer, die nichts durchlässt, was
nicht unmittelbar mit ihnen zu tun hat. Die Palästinenser
Israels sind auf diese Weise unsichtbar wie die
Palästinenser in den besetzten Gebieten.“ Die Israelis sind
einzig und allein auf ihre persönliche Sicherheit bedacht,
glauben in ihrer Mehrheit wirklich, dass man mit „Arabern“
keinen Frieden schließen kann, weil sie eben die „ewigen
Feinde“ sind. Halper: „Das erklärt, warum die jüdischen
Israelis nicht aus der Box hinausschauen können und warum
sie politische Parteien unterstützen, die die Verstrickung
in den Konflikt, dem sie verzweifelt zu entkommen suchen,
nur vertiefen.“ Israelis wollen - so die Schlussfolgerung -
in ihrer großen Mehrheit keinen Frieden, sie wollen
Sicherheit und das heißt für sie: permanente Kontrolle über
die Palästinenser.
Zu Ende gedacht hat eine solche Ideologie und ihre
praktische Ausführung furchtbare Konsequenzen - vor allem
für die Palästinenser, aber rückwirkend auch für Israel
selbst. Denn die Lösung für den Konflikt, die Israel
vorschwebt und die vom Westen (USA und EU) rückhaltlos
unterstützt wird, ist die „Zwei-Staaten-Lösung“. Das klingt
zunächst gut, ist aber bei näherer Betrachtung nichts als
ein fauler Trick. Denn Israel hat das Westjordanland längst
durch seine strategische Besiedlung und den Ausbau seiner
(nur für Juden bestimmten) Infrastruktur (Straßen,
Autobahnen, Wasser- und Stromversorgung) so unter seine
Kontrolle gebracht, dass für einen souveränen und
zusammenhängenden palästinensischen Staat im wahrsten Sinne
des Wortes kein Platz mehr bleibt. Die Palästinenser sollen
bei dieser „Lösung“ in kleinen und (zur besseren Kontrolle)
auseinander gerissenen Enklaven, Bantustans oder Homelands
(nach südafrikanischem Vorbild) eingesperrt werden, ohne
ihnen wirkliche Selbstbestimmung zuzugestehen, wie es ihnen
nach dem Völkerrecht zusteht.
Halper hält sich hier an die kanadisch-jüdische Ökonomin
Naomi Klein, die dieses System des „Wegschließens“ von
Menschen hinter Mauern in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“
untersucht hat und zu dem Schluss kommt: „Was Israel
aufgebaut hat, ist ein System, ein Netzwerk/Verbund von
Freiluftgehegen für Millionen Menschen, die man als
überflüssig eingestuft/taxiert hat. Die Palästinenser sind
nicht die einzigen auf der Welt, die so kategorisiert worden
sind. Das Ausrangieren von 25 bis 60 Prozent der Bevölkerung
ist das Markenzeichen des Kreuzzuges der Chikagoer Schule
[der neoliberalen Wirtschaftswissenschaften]. In Südafrika,
in Russland und in New Orleans umgeben sich die Reichen mit
Schutzmauern. Israel hat diesen Absonderungsprozess noch
einen Schritt weiter getrieben: Es hat Mauern um die
gefährlichen Armen errichtet.“ Naomi Klein nennt dieses
System „warehousing“, was so viel heißt wie „ablagern“,
„ausrangieren“ und „einsperren“, weil es Menschen, die weder
für die Produktion noch für den Konsum der globalen
Wirtschaft von Bedeutung sind, schlicht „wegschließt“.
Dieses System hat für Israel viele Vorteile: es kann seine
Kontrolle über die Palästinenser „entpolitisieren“ und
„normalisieren“. Halper: „Dies erreicht Israel, indem es
durch ‚vollendete Tatsachen‘ eine physische Kontrolle
schafft und gleichzeitig jeden Bezug auf die Besatzung oder
den politischen Konflikt zu beseitigen versucht.“ An dieser
Stelle fragt sich Halper, wieso es sein kann, dass der
Westen (also im Wesentlichen die USA und die Staaten der
EU), die doch die Monstranz der abendländischen Werte - also
Menschenrechte und Völkerrecht - so demonstrativ vor sich
hertragen, einer solch zynischen und menschenverachtenden
„Lösung“ zustimmen können. Halper sieht die Hauptgründe
nicht vorrangig in der Schuld für den Holocaust in diesen
Staaten und auch nicht in dem zweifellos großen Einfluss der
jüdischen Lobby in den USA, sondern in gemeinsamen
ökonomisch-militärischen Interessen mit Israel.
Denn der Westen - so der Autor - hat das Problem, sich
überall auf dem Globus Rohstoffe sichern zu müssen, die sich
aber zumeist dort befinden, wo die Armen der Welt leben. Das
Bild des modernen Krieges hat sich insofern verändert, als
sein Ziel nicht mehr die Niederlage eines feindlichen
Staates ist, sondern die Gewinnung von Ressourcen - die
bewaffneten Konflikte der Gegenwart sind deshalb sich lang
hinziehende „Ressourcenkriege“.
Zudem - so diese These - haben auch die westlichen Staaten
das Problem, ihr eigenes „überflüssiges Menschenmaterial“
ruhigzustellen und die Sicherheit der Mittelschichten vor
denen, die ruhig zu stellen sind, zu gewährleisten. Dieser
Pazifierungsprozess ähnelt aber der Kontrolle, die Israel
den besetzten Gebieten dauerhaft auferlegt hat. Halper fragt
deshalb: „Wenn also die kapitalistische Weltordnung
Pazifierung erfordert, um sich die Peripherie mit all ihren
Ressourcen, billigen Arbeitskräften und wehrlosen Märkten zu
sichern, welch besserer Lehrmeister als Israel ließe sich da
engagieren?“
Denn Israel - so die These weiter - reproduziert durch
seinen permanenten Krieg gegen die unterdrückten
Palästinenser im Kleinen die größeren Kriege zur Kontrolle
und Ausbeutung der armen Völker der Welt, die die globalen
Mächte angezettelt haben. Halper: „Die Waffen und Methoden
der ‚Aufstandsbekämpfung‘, die es in seinem
palästinensischen Labor entwickelt hat, werden nur zu gern
von US-amerikanischen und europäischen Militärs übernommen,
genauso wie das Kontrollmodell selbst.“
Israel besitzt die - aus seinen vielen Kriegen sehr
erfahrene - viertstärkste Armee der Welt, ist der dritt-
bzw. viertgrößte Waffenexporteur weltweit und ist global
führend in der Herstellung von Ausspäh- und
Sicherheitstechnik. Diese Industrie und das israelische
Militär sind mit den militärisch-industriellen Komplexen des
Westens durch Kooperation so eng miteinander verbunden, dass
in der „Sicherheitszusammenarbeit“ der wahre Grund für die
gemeinsamen Interessen liegt, so Halper.
Nimmt man das alles zusammen, kann man sich angesichts der
völlig asymmetrischen Situation zwischen Israel und den
Palästinensern eine wirklich gerechte Lösung des Konfliktes
nicht mehr vorstellen. Halper gibt denn auch zu, in Bezug
auf eine Lösung ziemlich „ratlos“ zu sein. Dennoch weigert
er sich zu resignieren. Er setzt seine Hoffnung auf die
jüdische Ethik, die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit
fordert. Außerdem setzt er auf die „besseren Traditionen“
des Zionismus: auf den „Kulturzionismus“. Dessen Vertreter
hatten von Anfang an für einen friedlichen Ausgleich mit den
Arabern plädiert und davor gewarnt, in Palästina als
Eroberer und „neue Herren“ aufzutreten, was nur einen ewigen
Konflikt mit vielen Opfern hervorrufen würde. Sie haben
Recht behalten.
Den heutigen Zionismus sieht Halper als gescheitert an. Denn
selbst wenn Israel die ungleiche Auseinandersetzung mit den
Palästinensern gewinnen würde, werde der Konflikt endlos
weitergehen: „Israel wird dann zu einem Staat, der wie Achad
Ha’am [ein zionistischer Schriftsteller, der 1880 nach
Palästina kam] befürchtet hat, nichts ‚Jüdisches‘ mehr an
sich hat, ein Staat, der auf Unterdrückung beruht, auf
Gewalt und Nishul [Vertreibung]. Der politische
Zionismus musste moralisch und systemisch scheitern, da er
sich nicht mit dem anderen im Land lebenden Volk auszusöhnen
verstand. Er ist nicht in der Lage, einen Weg aus diesem
Konflikt zu weisen.“
Da Israel also friedensunfähig ist, fordert Halper die
Palästinenser auf, die Initiative zu ergreifen und einen
unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967
[Waffenstillstandslinie von 1949] auszurufen. Ein solches
Vorgehen, das die Zustimmung der meisten Staaten der Welt
und der UNO-Vollversammlung fände, würde eine Lösung des
Konflikts mit Israel erzwingen. Es wäre der Versuch der
Palästinenser, die Besatzung zu beenden und Israels Rolle
als Besatzungsmacht umzuwandeln in die eines Eindringlings,
dessen einseitige Militär- und Siedlungsaktivitäten nichts
anderes sind als die Verletzung der nationalen Souveränität
des neuen palästinensischen Staates. Aber Halper ist Realist
und nennt diese Lösung ein „unwahrscheinliches Szenario“.
Aber es wäre ein auf dem Völkerrecht beruhender Versuch,
Israels „genozidale Besatzung“ zu beenden. Und es wäre
politisch für Israel brisant, sich gegen die Lösung zu
stemmen, weil Israel selbst seine einzige völkerrechtliche
Legitimation als Staat aus dem UNO-Teilungsbeschluss von
1947 bezieht.
Gegen diese Lösung spricht, dass die Palästinenser dann zwar
die Selbstbestimmung hätten, aber nicht die Fähigkeit, ihre
Grenzen zu kontrollieren. Zudem weiß Halper, er führt dieses
Argument immer wieder an, dass Israel erst zum Frieden fähig
sein wird, wenn es sich von seinem Kolonialismus, den es den
Palästinensern auferlegt, gelöst hat. Ohne Israels
„Entkolonialisierung“, Halper nennt es die „Erlösung vom
Kolonialismus“, wird Israel nicht friedensfähig sein. Erst
nach dieser Wandlung wird es in der Lage sein, Verantwortung
für seine Geschichte und Politik zu übernehmen und eine
Demokratie zu werden, die diesen Namen auch verdient, d.h.
ein Staat aller seiner Bürger - wie es übrigens auch in der
israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht.
Erst wenn die Israelis also die ideologische „Box“ verlassen
haben, ist die Lösung möglich, die zugleich eine „Erlösung“
von der verhängnisvollen Ideologie der Vergangenheit sein
muss. Halper zieht an dieser Stelle eine Parallele zu
Deutschland, die vielleicht etwas zu schmeichelhaft
ausfällt: „Deutschland hat einen langen Weg zurückgelegt, um
sich von seiner, nicht so weit zurück liegenden
Vergangenheit zu ‚erlösen‘. Israel hat sich aber noch nicht
einmal auf den Weg gemacht zur Anerkennung des Leids, das es
den Palästinensern während der vergangenen 60 Jahre und auch
schon zuvor angetan hat, auf den Weg zur Entkolonialisierung
des Zionismus.“
Die Deutschen sollten dieses Kompliment nicht zu hoch
bewerten, denn die meisten Deutschen und vor allem ihre
Regierungen stehen - ob aus mangelnder Information oder
Schuldgefühlen - rückhaltlos hinter Israels Politik und
verschlimmern so die Tragödie der Palästinenser. Damit laden
sie neue Schuld auf sich. Der Nationalsozialismus lastet so
auch indirekt immer noch schwer auf den Deutschen. Es ist
das große Verdient von Halpers Buch, ohne Scheuklappen und
Illusionen Israels Politik in ihrer ganzen realen Brutalität
darzustellen und vielen vielleicht die Augen zu öffnen und
Mut zu machen, sich gegen das Unrecht, das im Nahen Osten
geschieht, aufzustehen. Denn wenn die Regierungen versagen,
ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich lautstark zu
Wort zu melden und in Aktion zu treten. Das ist die
vorrangige Botschaft von Halpers Buch. Dass er nicht die
perfekte Lösung anbieten kann, ist nicht die Schuld dieses
wahren Humanisten.
|