Die friedlose Nation
Das 73.
Gründungsjubiläum des Staates Israel gibt wenig Anlass zum Jubel
Die Nakba dauert an und soll zu Ende gebracht werden
Arn
Strohmeyer -
13.05.2021
Am 14. Mai
1948 vor 73 Jahren wurde der Staat Israel gegründet. Das ist
keine runde Zahl, die ganz große Feierlichkeiten erlauben würde.
Aber immerhin: 73 Jahre sind ein beachtliches Alter für einen
Staat, dessen Existenz wegen der gewaltsamen Umstände seines
Zustandekommens und seiner inhumanen Politik bis heute äußerst
umstritten ist. Und so verwundert es nicht, dass das
zionistische Israel – obwohl wirtschaftlich und militärisch im
Nahen Osten ein Riese – politisch auch nach drei Generationen
Existenz seine Identität noch nicht gefunden hat. Was zugleich
der Grund dafür ist, dass das ganze zionistische Unternehmen
hoch gefährdet und seine Zukunft keineswegs gesichert ist.
Die
Ereignisse der letzten Tage mit den Demonstrationen der
Palästinenser gegen Zwangsumsiedlungen, Häuserzerstörungen,
Enteignungen, Überfälle auf historische Stätten, Abriegelungen,
Sperrungen sowie Hetze und Anstachelung sowie der brutalen
israelischen Reaktion darauf haben gezeigt, wie explosiv die
Lage dort ist. Israel begeht nicht nur am 14. Mai den Tag seiner
Staatsgründung, die Palästinenser begehen einen Tag später den
Nakba-Tag, die Erinnerung an ihre von den Zionisten
herbeigeführte Katastrophe, die bis heute andauert. Und allein
die Tatsache, dass sie offiziell diesen Tag gar nicht begehen
dürfen (dafür sorgt sogar ein israelisches Gesetz), sondern ihre
eigene Geschichte verdrängen müssen, ist eine klare Aussage,
welche Art von Herrschaftssystem die Zionisten in ihrem Staat
ausüben.
Wenn man am
73. Jubiläumstag der israelischen Staatsgründung nur eine
pessimistische Einschätzung für die Zukunft dieses Staates
abgeben kann, dann hat das viel mit der Vergangenheit zu tun.
Denn Israel verbietet nicht nur dem von ihm unterworfenen und
unterdrückten Volk, seine Vergangenheit zu erinnern, sondern die
Zionisten haben sich auch als unfähig erwiesen, mit ihrer
eigenen Vergangenheit ins Reine zu kommen. Wenn man mit einem
verfälschten oder manipulierten Bild der eigenen Geschichte
lebt, dessen einziges Ziel darin besteht, die eigene Vormacht
und Dominanz über ein anderes Volk und das geraubte Territorium
zu sichern, dann kann es keine Bereitschaft zur Konfliktlösung
und damit zum Frieden geben. Israel ist eine friedlose Nation.
Was Sigmund
Freud für Individuen festgestellt hat, gilt auch für Kollektive:
Wird das Trauma, das aus der Vergangenheit resultiert, durch
Verarbeitung nicht aufgelöst, bricht es immer wieder in die
Gegenwart ein und bestimmt das Handeln. Die Geschichte
wiederholt sich dann genau in den Teilen, die nicht verstanden,
also nicht aufgearbeitet worden sind. Wobei es wichtig ist
anzumerken, dass Israel eigentlich zwei Vergangenheiten
aufzuarbeiten hat: das Trauma der Judenvernichtung durch die
Nazis und die Schuld, die dieser Staat durch sein brutales
Vorgehen gegen die Palästinenser auf sich geladen hat.
Nach
Auffassung zweier bedeutender universalistisch denkender
jüdischer Intellektueller – Moshe Zuckermann und Judith Butler –
hat das zionistische Israel die richtigen Lehren aus dem
Holocaust gerade nicht gezogen, weil es dieses
Menschheitsverbrechen nicht um seiner selbst willen erinnert,
sondern es seit jeher als „erbärmliche Pathosformel“ zur
Instrumentalisierung und Legitimierung der eigenen politischen,
diplomatischen sowie militärischen und ökonomischen Interessen
missbraucht (Zuckermann). Und Judith Butler konstatiert: Die
Israelis sind nun selbst Unterdrücker und Täter geworden, was
seinen Grund darin hat, dass das bewusstseinsmäßige „Erwachen
aus dem Trauma“ nicht gelungen ist und sich nun die Gewalt aus
der Vergangenheit endlos wiederholt.
Eine falsch
verstandene oder sogar bewusst verfälschte Geschichte kann also
immensen Schaden anrichten. Im Fall Israels wird mit einer
solchen Geschichtsmanipulation die Unterdrückung, Kolonisierung
und Besatzung über ein ganzes Volk gerechtfertigt. Was auch
bedeutet, dass es im jüdischen Staat keinerlei Bestrebungen
gibt, die Sünden der Vergangenheit und Gegenwart aufzuarbeiten
und die sie rechtfertigenden Mythen zu entmythologisieren. Das
zionistische Narrativ, das sehr eng mit dem kollektiven
Gedächtnis zusammenhängt, ist ein künstliches Produkt, das von
einem rationalen Verständnis von Geschichte, das heißt von
Analyse, Dissens, Wandel und Meinungsstreit, zu unterscheiden
ist.
Dieses
Narrativ ist in seiner Sicht auf die Vergangenheit auf
politische Zwecke hin konstruiert: vor allem das eigene
Kollektiv von anderen Kollektiven abzuheben. Die ganz bewusst
betriebene Dämonisierung der „Anderen“ (der Palästinenser) soll
vor allem den Zusammenhalt des eigenen Kollektivs stärken und
das brutale Vorgehen gegen dieses Volk rechtfertigen. Das
zionistische Narrativ kennt keine Toleranz gegenüber den
„Anderen“, sondern kennt nur Gut und Böse – Juden und Araber
(Palästinenser). Oder anders gesagt: Es gibt nur ein „wir“ oder
„sie“.
Allein mit
politischen Kategorien lässt sich dieser Konflikt nicht
verstehen, man muss die Psychologie zu Rate ziehen. Der
israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard, der im
deutschsprachigen Raum mit seinem Buch Israel auf der Couch
bekannt geworden ist, konstatiert als Grundgefühl der
israelischen Existenz Angst, die bis zur Paranoia gehen kann und
ein Ergebnis der jüdischen Leidensgeschichte (gipfelnd im
Holocaust) sei. Die Folge sei ein Gefühl ständiger Bedrohung,
auch wenn diese gar nicht real vorhanden sei. Der Paranoide – so
Grosbard – schwankt zwischen Unsicherheit und Angst einerseits
und Selbstgerechtigkeit, dem Gefühl der Einzigartigkeit und
Auserwähltheit, Überheblichkeit und Arroganz auf der anderen
Seite. Da die schlimmen Erinnerungen aus der Vergangenheit in
der Gegenwart immer präsent seien, könne der Paranoide den
„Anderen“ (in diesem Fall die Palästinenser) nie wirklich
begegnen, ohne das Gefühl der Bedrohung auf ihn zu übertragen.
Was aber auch
bedeutet, dass der Paranoide die Schuld für sein Handeln nie bei
sich selbst suchen kann, sondern nur bei dem „Anderen“. Die aus
einem solchen psychischen Zustand sich ergebende Aggressivität
der israelischen Politik, für die der Krieg gegen die
Palästinenser und ihre Unterdrückung der Normalzustand sind
(aber immer als „Selbstverteidigung“ dargestellt werden), ist
für Grosbard der Ausgangspunkt der Tragödie, die sich seit über
hundert Jahren in Palästina abspielt. Auf Grund seiner
paranoiden Haltung, folgert der Analytiker, versteht Israel nur
die Sprache der Gewalt, die Sprache des Friedens ist ihm
verschlossen.
Wie sehr die
Vergangenheit mit dem Ziel manipuliert wird, die Gegenwart und
die Zukunft im eigenen Sinne zu dominieren, belegt die starre
Dogmatisierung des zionistischen Narrativs, das so gut wie
nichts mit der historischen Wahrheit zu tun hat, aber
offensichtlich den Zweck erfüllt, die multiethnische israelische
Gesellschaft zusammenzuhalten. Es lautet kurz zusammengefasst:
Nach der großen jüdischen Vergangenheit in der Antike, dem dann
folgenden Exil und dem Holocaust folgte die Rückkehr der Juden
in ihre „Heimat“ Erez-Israel und damit die „Erlösung“ des Landes
(des Bodens), die auch zugleich die „nationale Erlösung“ der
Juden ist. Die 2000 Jahre Diaspora sowie die Jahrtausende
währende Anwesenheit eines anderen Volkes in Palästina werden
geleugnet. Das heutige Israel versteht sich als der Nachfolger
des fiktiven jüdischen Königreiches in der Antike.
Das ist nicht
nur eine klassische Geschichtsfälschung, sondern zugleich eine
Ideologie der Abgrenzung, Absonderung und Isolation, die sich am
trefflichsten in dem immer wiederholten israelischen
Selbstverständnis widerspiegelt: „Die ganze Welt ist gegen uns!“
Es wird also vorausgesetzt, dass die ganze Welt feindlich, also
antisemitisch, gegen die Juden eingestellt ist. Auf die
Palästinenser bezogen heißt das aber: Nur wir, die Juden, haben
durch die historische Kontinuität das Recht auf das Land; die
Palästinenser sind eine Bedrohung für uns, sie sind die Täter;
sie sind ein demographisches Problem, deshalb müssen wir sie
kontrollieren, sonst bringen sie uns um. Eine solche von Angst
bestimmte Belagerungsmentalität ist eben die Folge eines
gespaltenen Bewusstseins: Wir sind die Guten, die anderen sind
die Bösen.
Die
israelische Psychoanalytikerin Ruchama Marton geht auf die
Politik der Trennung und Abschottung von den „Anderen“ ein, die
von den Israelis durch den Bau der Mauer groteske und absurde
Ausmaße angenommen hat.
Marton sieht
in dieser Mauer eine „metaphorische Blende“, deren Sinn und
Funktion es ist, die „Existenz des palästinensischen Volkes
insgesamt auszublenden“. Sie begründet das so: „Von einer
psychologischen Warte aus ermöglicht diese Blende es den
jüdischen Israelis, das Leid und die Menschlichkeit der Bewohner
auf der anderen Seite zu vergessen. (...) Ein brauchbarer
Ansatz, einige der psychologischen Mechanismen zu verstehen, die
mit der Mauer zu tun haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es
lässt zwei Extreme zu, die Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘
gespalten, ohne ein Mittleres. Spaltung ist der primitivste
Abwehrmechanismus, auftretend bei übergroßer Verängstigung und
einem Bedürfnis, unerträglich starke positive und negative
Emotionen voneinander zu trennen.
Weiter
schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die äußeren wie die
inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist
es psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen
Selbst auf den ‚Anderen‘, d.h. die Palästinenser, zu übertragen.
Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften
verachten, die ja nun dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer
wird so ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen,
als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den
Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem zionistischen
israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv,
gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer von
Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die
Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“ Die Mauer
ist also nicht nur eine physische Barriere, sie trennt auch – in
den Augen der Israelis – das fortschrittliche, zivilisierte und
demokratische Israel von den rückständigen, barbarischen und
gewalttätigen Palästinensern.
Ganz deutlich
wird diese Spaltung des Bewusstseins, wenn es um die Beurteilung
der eigenen Geschichte geht. Lehnen sich die Palästinenser gegen
die Unterdrückung und das ihnen permanent wiederfahrende Unrecht
auf, wie sie das gegenwärtig tun, sind sie „Terroristen“.
Schlägt Israel mit seiner mächtigen und überlegenen Armee brutal
zurück, ohne die geringste Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen,
handelt es sich dabei um „angemessene Reaktionen auf
Terrorismus“. Man kann dieses Vorgehen aber auch
Staatsterrorismus nennen. Terrorakte von jüdischen
Untergrundgruppen – der Hagana, Irgun-Etzel und Lehi – vor der
Staatsgründung werden dagegen im Nachhinein als Heldentaten zur
jüdischen Befreiung und Rettung glorifiziert und verklärt. Das
Messen mit zweierlei Maß – man kann das auch Heuchelei nennen –
ist die automatische Folge des gespalteten Bewusstseins.
Hinter einer
solchen Politik steckt eine tief verwurzelte Angst vor einem
offenen Diskurs über die Ereignisse von 1948. Gäbe es ihn, würde
das der moralischen Legitimation des ganzen zionistischen
Projekts und den Gründungsmythen des Zionismus den Boden
entziehen. Die Israelis können sich deshalb dem Unrecht, das sie
an den Palästinensern begangen haben und ständig weiter begehen,
nicht stellen. Sie müssen es verleugnen. Dazu kommt: Würde es
eine offene Debatte über das den Palästinensern zugefügte Trauma
geben, müssten die Israelis anerkennen, dass sie selbst Täter
und die Palästinenser die Opfer sind. Da sie sich aber selbst
als die Opfer fühlen, müssten sie den eigenen Opferstatus
aufgeben, das heißt, ihre Ängste und Lebenslügen überwinden, von
denen der Zionismus bis heute lebt. Es ist natürlich viel
leichter, alle Abwehrmechanismen zu aktivieren, die
Palästinenser zu „Terroristen“ zu erklären und ihnen alle Rechte
zu verweigern und an der Vergangenheit nicht zu rühren.
Dass das
Motiv hinter der Verachtung der „Anderen“ ein ausgeprägter
Rassismus ist, verwundert da nicht. Auch nicht, dass diese
Bewusstseinsspaltung längst Apartheidstrukturen geschaffen hat,
die für die Zionisten sicher nicht das Endziel sind. Denn sie
haben die Vision des homogenen, „araberfreien“ jüdischen
Nationalstaates. Die Nakba von 1948, bei der die Zionisten die
Hälfte der palästinensischen Bevölkerung vertrieben haben, geht
weiter, sie hat nie aufgehört, wie die täglichen Nachrichten aus
Jerusalem und dem Westjordanland belegen. In ultrarechten
zionistischen Kreisen plädiert man sogar für die vollständige
und endgültige Vertreibung. Mit anderen Worten: Der Prozess, die
Präsenz der Palästinenser in ihrem eigenen Land endgültig zum
Verschwinden zu bringen, Judaisierung genannt, ist in vollem
Gange.
Eine solche
Politik ist aber mit hohen Risiken behaftet. Sie hat das
zionistische Unternehmen in eine Sackgasse manövriert, aus der
kein Ausweg in Sicht ist. Denn Israel hat die Bildung eines
palästinensischen Staates erfolgreich verhindert. Ein solcher
Staat ist wegen des Siedlungsbaus in der Westbank nicht mehr
möglich. Es bleibt nur die Ein-Staaten-Lösung – denkbar nur als
eine Apartheid-Diktatur, in der eine jüdische Minderheit über
eine arabische Mehrheit herrscht. Oder die Bildung eines
binationalen Staates, in dem Juden und Araber dieselben Rechte
haben. Dieses Modell wird aber wohl niemals die Zustimmung der
Mehrheit der israelischen Juden finden. Die Lage ist deshalb
ziemlich hoffnungslos.
Zieht man
eine Bilanz zum 73. Jubiläum Israels, dann sieht es nicht gut
aus für diesen Staat. Der Zionismus hat auf Grund seiner
verfehlten Politik ganz offensichtlich keine Zukunft mehr. Denn
wie soll ein Staat überleben, der in seinem Herrschaftsbereich
fünf Millionen Menschen einsperrt, die keinerlei politische oder
bürgerliche Rechte haben? Ein Zustand, der ein Hohn auf die
sogenannten westlichen Werte ist, zu denen sich auch Israel
bekennt. Und der Westen selbst schweigt zu alledem, was ja wohl
klammheimliche Zustimmung bedeutet.
13.05.2021
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