Da schreibt ein Psychologe über Israel:
„Der grundsätzliche Blick Israels auf
die Welt ist – gemessen an westlichen
Standards – zynisch, autoritär und
reaktionär. Der Vorrang von Gewalt und
Herrschaft ist das Kennzeichen der
israelischen Identität und Erfahrung
geworden. Sie ragt heraus aus der Welt
von Thomas Hobbes [englischer Philosoph
1588-1679], in der ein ewiger Krieg
wütet – ein Krieg zwischen Herrn und
Sklave, den Harten und den Weichen, den
Siegern und den Opfern. Die israelische
Realität ist das Produkt und die
Widerspiegelung des zionistischen Traums
und der kolonialistischen Realität.“
Für Beobachter und Kenner der Vorgänge
in Israels/Palästina enthält diese
Feststellung wenig Neues, für die
Verteidiger der Politik des
zionistischen Staates ist sie vermutlich
schlimmer Antisemitismus. Aber der
Verfasser, der in englischer Sprache
schreibt (sein Name soll erst später
genannte werden), belässt es dabei
nicht, sondern er versucht, das Wesen
des Zionismus und die Auswirkungen
dieser Ideologie auf die israelische
Politik zu ergründen. Waren die
Zionisten ursprünglich davon
ausgegangen, dass Palästina „leer“ und
deshalb für die kolonialistische
Besiedlung gut geeignet gewesen sei
(„ein Land ohne Volk für das Volk ohne
Land“), so mussten sie nun bei ihrer
Ankunft in Palästina am Ende des 19.
Jahrhunderts feststellen, dass das Land
keineswegs leer, sondern voll besiedelt
war.
Für den Zionismus stellte sich die
Frage: Was soll mit diesen Menschen –
der indigenen arabischen Bevölkerung –
geschehen? Die Antwort war klar: Um
einen rein jüdischen Staat zu schaffen,
mussten sich die Zionisten von dieser
„überschüssigen“ Bevölkerung befreien.
Ihre Rechte anzuerkennen und mit ihnen
zusammenzuleben haben die Zionisten (von
ein paar human gesinnten
„Kulturzionisten“ abgesehen) gar nicht
in Erwägung gezogen. Um den
zionistischen Traum zu erfüllen, eben
die Gründung eines eigenen Staates, war
man entschlossen, hart gegen die
„Eingeborenen“ vorzugehen, was nicht
schwer war, denn diese waren schwach,
rückständig und arm.
Wie also mit diesen arabischen Menschen
umgehen? Der Autor schreibt: „Sie waren
nicht Teil einer Gleichung. Sie waren
für die Zionisten eigentlich gar nicht
vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und kamen
in den Visionen und Plänen der Zionisten
gar nicht vor. Die einheimische
Bevölkerung musste ausgesondert und
ausgeschieden (eliminated) werden. Der
Autor schreibt: „Der Krieg gegen die
Eingeborenen (natives) war schlicht und
einfach ein Teil der Umwandlung der
Natur des Landes, und sie waren ein
anderes Element der Natur, man musste
sie [die Eingeborenen] erobern und sie
bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und
die Malaria.“
In dieser frühen Zeit der Besiedlung
Palästinas erschienen die dort lebenden
Araber den Zionisten nicht einmal als
eine Herausforderung, sondern lediglich
als ein Ärgernis, ein Missstand. Wenn
sie Widerstand gegen ihre Verdrängung
von ihrem Land leisteten, dann
betrachteten die Zionisten das schlicht
als „kriminelle Gewalt“. Dieser
Widerstand war immer „illegal“.
Palästinensische Widerstandskämpfer
wurden als „Gangster, Räuber und
Banditen“ bezeichnet. Oder man prangerte
sie als „Invasoren und Aggressoren“ an.
Mit Blick auf die Verfolgungen in der
jüdischen Geschichte sah man in
palästinensischen Widerständlern auch
„heidnische Antisemiten“, die Pogrome
gegen friedliche Juden begingen, sogar
der Vergleich mit der spanischen
Inquisition wurde benutzt.
Was eine vollständige Umkehrung der
wirklichen Verhältnisse in Palästina
war: Denn die Palästinenser waren die
Opfer des großen zionistischen Traums,
und die Zionisten waren völlig blind für
die Tatsache, welch große
Ungerechtigkeit sie mit der Umsetzung
ihrer Utopie schufen. Der Höhepunkt
dieser Auseinandersetzung waren dann die
Nakba bzw. der Krieg 1948/49, der – so
der Verfasser – in erster Linie ein
Krieg gegen die Palästinenser war, erst
in zweiter Linie ein Krieg gegen die
arabischen Nachbarstaaten. Die
Palästinenser sollten in der Nakba
vertrieben und enteignet werden, und
außerdem sollte unter allen Umständen
die Gründung eines palästinensischen
Staates verhindert werden. Beide Ziele
haben die Zionisten einschließlich der
Gründung ihres Staates im Mai 1948
erreicht.
Was sie aber nicht schafften: Die
Zionisten hatten gehofft, dass die Welt
die palästinensischen Flüchtlinge
vergessen würde – durch Aussterben bzw.
durch Aufgehen in den arabischen
Staaten. Der Name Palästina sollte wie
seine einstigen Bewohner nicht mehr
erwähnt werden, sie sollten aus dem
Gedächtnis und dem Bewusstsein völlig
verschwinden. Das Land sollte künftig
nur noch „Israel“ heißen. Sollten diese
Menschen und ihre Ansprüche doch noch
einmal auf der Weltbühne auftauchen,
dann würde man sie für „illegitim“
erklären.
Der Autor bezeichnet das zionistische
Unternehmen in Palästina als das, was es
bis heute ist: als
Siedler-Kolonialismus. Die Zionisten
scheuen heute dieses Wort wie der Teufel
das Weihwasser, dabei war es in der
frühen Zeit der Besiedlung durchaus
üblich, von Kolonialismus zu sprechen.
Im Palästina der Mandatszeit (1923-1948)
gab es eine ganze Reihe von
zionistischen Organisationen und
Institutionen, die das Wort kolonial im
Namen führten: etwa die „Jewish
Colonization Assoziation“, „The Colonial
Bank“ und andere.
Dann wurde der Begriff aber ganz
offensichtlich als anrüchig empfunden
und von den Zionisten aus ihrem
Wortschatz gestrichen. Man sprach nun
lediglich von „Besiedlung“. Die
Erwähnung des Wortes Kolonialismus ruft
heute bei Israelis böse Reaktionen
hervor. Der Autor schreibt: „Die harten
Reaktionen besagen, dass man einen rohen
Nerv getroffen hat, eine offene Wunde,
eine schwärende Entzündung, die nicht
heilen will. (…) Kolonialismus ist ein
hässliches Wort und eine noch
hässlichere Realität. Zionismus ist Teil
dieser Realität, weil der zionistische
Traum in der Praxis ein
siedlerkolonialistisches Unternehmen
ist.“
Und weiter: „Der zionistische
Handlungsplan hat die Entrechtung der
einheimischen Bevölkerung zum Inhalt
gehabt und hat das auch heute noch. Der
Zionismus, wie er vor Generationen in
Palästina und heute noch in Israel
praktiziert wird, ist Kolonialismus,
weil er die Palästinenser als Fremde
ansieht und den wirklichen Fremden [den
Zionisten] Privilegien zuspricht, die
die Palästinenser nicht haben. Um dieses
Unternehmen zu rechtfertigen, haben die
Zionisten den Mythos erfunden: Nicht
sie, die fremden Einwanderer auf einem
fremden Territorium, sind die Fremden
bzw. die Ausländer, sondern die
Palästinenser, denn die Juden sind ja
nur nach einem längeren Exil in ihr Land
zurückgekehrt – sozusagen in einem Akt
der Repatriation.“
Die Israelis schafften es zwischen 1948
und 1967 weitgehend, ihr Ziel zu
erreichen, das Palästinenserproblem
„unsichtbar“ zu machen. War der
zionistische Kolonialismus in diesem
Zeitraum also sehr erfolgreich, so war
dies nach dem Krieg von 1967, in dem
Israel die Golan-Höhen, Ost-Jerusalem,
das Westjordanland und den Gazastreifen
eroberten, nicht mehr möglich. Seit
diesem Zeitpunkt trat die
kolonialistische Natur des zionistischen
Unternehmens wieder voll an die
Oberfläche und konnte nicht mehr
geleugnet werden. Denn die Eroberungen
des Krieges von 1967 hatten eine größere
Unterdrückung der Palästinenser zur
Folge, mehr Landraub und mehr
Vertreibungen. Das bloße Dasein der
Palästinenser auf der Westbank und im
Gazastreifen wurde für Israel nun das
vorrangige Problem, das es durch weitere
Enteignungen und verschärfte Kontrollen
in plumper und brutaler Weise zu lösen
versuchte. Ein kolonialistischer Kampf
zwischen den beiden Völkern, die auf
demselben Territorium lebten, setzte
ein, bei dem die Israelis die Mehrheit,
die Stärkeren und die Ausbeuter waren.
Bis 1947 waren die Palästinenser nur
„Araber“, seit 1967 sind sie
„Palästinenser“ geworden, ein eigenes
Volk eben. In den Augen der Israelis
standen sie aber nun immer mehr der
Verwirklichung des zionistischen Traums
im Wege.
Die erste Intifada 1987 war dann eine
schwere strategische Niederlage für die
Zionisten, sie hat Israels historische
Situation dramatisch und vollständig
verändert, denn die Intifada war ein
Volkskrieg in der besten Tradition
anderer antikolonialer Aufstände. Für
Israel war dieser Aufstand die größte
Herausforderung seiner Geschichte, die
sein Image nachdrücklich verändert hat.
Denn den Israelis wurde klar: Das
einzige wirkliche Problem, das der
Zionismus hat, sind die Palästinenser:
„Es sind diese Menschen in ihrer
andauernden Existenz und in ihrem
Widerstand hier, die die Zukunft Israels
bestimmen werden. Der Schatten der
Palästinenser fällt überall hin und
verdunkelt das Morgenrot jedes neuen
Tages.“ Die Israelis verstanden aber
auch, dass, wenn man diesem Menschen
gleiche Rechte einräumt, also Demokratie
schafft, dann ist das das Ende des
Zionismus.
Der Autor konstatiert weitere bittere
Erkenntnisse für die Israelis: „Hinter
vorgehaltener Hand und im Flüsterton
begann mit zunehmendem Widerstand der
Palästinenser nun eine Diskussion über
die Moral des Zionismus. Denn den
Israelis wurde klar, dass sie sich einer
schweren Ungerechtigkeit schuldig
gemacht hatten. Ihr geliebtes Heimatland
war auf Kosten anderer gebaut worden.
Und die Kosten ihrer Herrschaft sind
ihre eigene Knechtschaft, die sie durch
ihre Unterdrückung ausüben. Das ist die
israelische Situation. Die Bedrohung
durch Krieg und Terrorismus ist ein
praktisches Problem, der Schrei der
Opfer ist ein moralisches Problem.“
Der Zionismus stand von nun an vor der
Schwierigkeit: Wie kann er die
Ungerechtigkeit, die er den
Palästinensern angetan hat,
rechtfertigen – die Enteignung und das
zum Opfer-Machen (victimization) eines
ganzen Volkes. Der Autor belegt die
Bedeutung dieser Frage mit der sehr
anschaulichen Aussage eines jungen
Israeli aus dem Kibbuz Sasa, der auf
arabischen Grund und Boden entstanden
ist: „Warum verbringen wir unsere Ferien
in einem arabischen Dorf? Früher war
hier ein arabisches Dorf. Die Wolken von
Sasa zogen ein Jahr zuvor hoch über
andere Menschen hinweg. Die Felder, die
wir heute bestellen, wurden ein Jahr
zuvor von anderen bestellt. Die Männer
arbeiteten auf ihren Äckern und hüteten
ihre Herden, während die Frauen damit
beschäftig waren, Brot zu backen. Die
Schreie und Tränen von Kindern der
anderen wurden in Sasa ein Jahr zuvor
wahrgenommen. Und als wir kamen, schrie
uns die Verwüstung ihres Lebens durch
die Ruinen, die sie hinterlassen hatten,
entgegen. Schrie zu uns und erreichte
unsere Herzen, färbte unser tägliches
Leben. So suchten wir nach der
Rechtfertigung für das Recht hier zu
sein. Es ist nicht schwer sich
vorzustellen, wie das Leben hier gewesen
sein muss. Hier noch ein Schuh, dort ein
Spiegel, hier ein Sack mit Getreide,
dort ein Familienporträt, das Spielzeug
eines Kindes. Was gibt uns das Recht,
die Früchte von den Bäumen zu ernten,
die wir nicht gepflanzt haben, Schutz in
Häusern zu suchen, die wir nicht gebaut
haben? Auf welchem moralischen Grund
werden wir stehen, wenn wir vor Gericht
stehen werden?“
Jeder Israeli ist sich – so der Autor –
mehr oder weniger der grundsätzlichen
Immoralität des Vorgehens gegen die
Palästinenser bewusst. Zumeist gehen die
Israelis solchen moralischen Fragen aber
aus dem Weg, weil jede Diskussion über
grundsätzliche moralische Prinzipien die
gegenwärtige Herrschaftsstruktur
aufzudecken oder zu unterminieren droht.
Deshalb können gewisse grundsätzliche
Fragen in Israel nicht offen debattiert
werden. Wenn sie aufgeworfen werden, ist
die Antwort Schweigen oder Zynismus. Die
hauptsächlichsten
Verteidigungsstrategien für die Untaten
des Zionismus sind: das angebliche
historische Recht, dass die heutigen
Juden die Erben der antiken Juden seien
und lediglich in ihr Heimatland
zurückgekehrt seien. Eine andere
Verteidigungsstrategie ist der
Antisemitismus, vor dem die Juden sich
in einem eigenen Staat schützen müssten.
Andererseits wird der
Antisemitismus-Vorwurf aber auch
benutzt, um jede Kritik am israelischen
Vorgehen gegen die Palästinenser
abzublocken und zum Schweigen zu
bringen.
Der Autor merkt hier an: „Das Ziel
dieser Verteidigung ist, den Zionismus
mit einer Mauer der Immunität zu
umgeben, so dass keine rationale
Diskussion seiner Ziele und
Implikationen mehr möglich ist. So eine
Immunität braucht der Zionismus in der
Tat, weil er durch normale politische
Standards nicht verteidigt werden kann.“
Da wird dann eben Antisemitismus und
Antizionismus gleichgesetzt, um zum
gewünschten Ziel des Abwürgens jedes
Diskurses über die israelische Politik
zu kommen.
Ein anderes Mittel zur Rechtfertigung
des Zionismus ist die Dämonisierung der
Araber bzw. Palästinenser als
„Antisemiten“ oder sogar als „Nazis“.
Den Palästinensern wird dann
unterstellt, dass sie den Genozid der
Nazis an den Juden fortsetzen wollten.
Wobei der Autor gar nicht bestreitet,
dass es Antisemitismus bei den Arabern
gibt, er ist aber aus Europa importiert
und nicht zuletzt wegen der
zionistischen Verbrechen an den
Palästinensern dort auf fruchtbaren
Boden gefallen. Und schließlich wird
auch der Holocaust instrumentalisiert:
„Über den Holocaust zu sprechen, ist der
beste Weg, jede kritische Stimme gegen
Israel zum Schweigen zu bringen. (…)
Dies ist gewöhnlich ein erfolgreicher
Versuch, jede rationale Diskussion zu
beenden. Der Holocaust ist die Ursünde
gegen die Juden, die den Zionismus und
Israel aber total und vollständig
rechtfertigt.“ Wobei dann auch der
Mythos angeführt wird, dass Israel von
den Holocaust-Überlebenden gegründet
worden sei. Dem widerspricht der Autor
vehement, denn die zionistische
Besiedlung habe am Ende des 19.
Jahrhunderts begonnen, der Zionismus sei
nicht im Jahr 1945 erfunden worden.
Zu den Überlebenden schreibt er: „An der
Propagandafront spricht Israel von den
Opfern und Überlebenden. Die Opfer des
Holocaust haben aber den Staat Israel
niemals autorisiert, für sie zu
sprechen. Auch die Überlebenden haben
das nicht, die meisten von ihnen sind
dem zionistischen Traum nach Israel
nicht gefolgt. Die meisten
Holocaust-Opfer waren eindeutig keine
Zionisten. Sie waren Orthodoxe oder
assimilierte Bundisten oder die
schweigende Mehrheit des osteuropäischen
Judentums, in welcher die Zionisten eine
Minderheit waren.“
Die Zionisten gehen aber noch einen
Schritt weiter bei der Rechtfertigung
des den Palästinensern angetanen
Unrechts. Sie argumentieren: Die Leiden
der Juden in der Geschichte
einschließlich des Holocaust bedeuten
für die Juden, dass die Grenzen der
konventionellen Moral für dieses Volk
nicht mehr gelten. Angesichts der
jüdischen Opfer sei eine solche Moral
irrelevant. Die universalistischen
Moralstandards hätten sich in Bezug auf
die Leiden der Juden als falsch und
illusorisch erwiesen, darum brauchten
sie sich darum auch nicht weiter zu
kümmern – die Opfer-Nation stehe in
diesem Sinne sozusagen über oder
jenseits des Restes der Menschheit. Die
Realität des jüdischen Leidens ist
deshalb die ultimative Rechtfertigung
für den Zionismus. Daraus zieht diese
Ideologie auch die Berechtigung, die
Rechte seiner Opfer negieren zu können.
Denn angesichts der jüdischen Leiden sei
das, was man den Palästinensern antue,
geringfügig und ohne Bedeutung.
Der Autor schreibt: „Das Bewusstseins
des jüdischen Leidens führt dazu, sich
an der ganzen Welt rächen zu wollen,
egal an wem. Es wurde Rache genommen an
denen, die gar nichts mit dem Horror zu
tun hatten, der den Rachewunsch
hervorgebracht hat, denn die
Palästinenser hatten nichts mit der Lage
der Juden, mit dem Antisemitismus oder
mit den jüdischen Problemen in Europa zu
tun. Sie waren unschuldige Zuschauer der
Geschichte, die nun den ungeheuren Preis
für die weit entfernten Leiden eines
anderen Volkes bezahlen mussten. Die
Leiden der Juden sind Teil der
europäischen Geschichte, und ein
europäisches Problem wurde nun in
Palästina gelöst.“
Und weiter: „Die Sünden der Welt gegen
die Juden wurden nun auf Palästina
abgeladen, denn sich an den Polen oder
den Deutschen zu rächen wäre zu
schwierig gewesen. Es war ganz einfach
und leicht, die Palästinenser für 2000
Jahre Verfolgung verantwortlich zu
machen. Die Palästinenser, die nun die
Rache der Juden zu spüren bekamen, waren
nicht die historischen Unterdrücker der
Juden. Sie haben die Juden nicht in
Ghettos gesperrt und sie gezwungen,
gelbe Sterne zu tragen. Sie haben den
Holocaust nicht geplant. Aber sie hatten
ein Vergehen begangen: Sie waren schwach
und konnten sich in der Konfrontation
mit einer militärischen Macht nicht
verteidigen, sie waren so die idealen
Opfer für eine abstrakte Rache, die ein
Objekt für das tief empfundene Unrecht
der Geschichte suchte. Die Palästinenser
wurden die Repräsentanten für die ganze
nicht-jüdische Welt, die den Vorteil
boten, schwache Nicht-Juden zu sein, die
einzigen ohnmächtigen Nicht-Juden, die
unterdrückt und bestraft werden konnten
für 2000 Jahre Antisemitismus.“
Der Autor folgert aus dem Gesagten und
der heutigen Situation in
Israel/Palästina, dass der Zionismus
nicht mehr gerechtfertigt werden kann.
Nach dem Ende des Kolonialismus in der
Welt und dem Aufstieg der Dritten Welt
kann man den Zionismus als allgemeines
Prinzip nicht mehr akzeptieren. Mit
jedem Tag, der vergeht, gibt der
Zionismus ein unmoralischeres
Erscheinungsbild ab, und er muss immer
verzweifeltere Mittel anwenden, um sich
zu rechtfertigen.
Der Zionismus hatte ursprünglich das
Ziel, die jüdische Frage zu lösen und so
mit dem von ihm geschaffenen jüdischen
Staat eine normale Nation unter anderen
zu werden. Aber Israel ist alles andere
als ein normaler Staat. Es kann so lange
kein normaler Staat sein, solange er ein
Garnisonsstaat ist. Das Problem mit den
Palästinensern hat aus Israel einen
kolonialistischen Staat gemacht, der
sich in einem permanenten Krieg
befindet. Der Zionismus hat versucht,
sich vom tragischen Verlauf der
jüdischen Geschichte durch Absonderung
des Jüdisch-Seins von der Menschheit
abzusetzen. Diese Mühe der Abtrennung
ist nicht gelungen. Die Tragödie der
jüdischen Geschichte scheint sich in
einer neuen Version in Israel zu
wiederholen. Diesmal, gemäß dem
jüdischen Plan, sind die Juden nicht die
Opfer: Sie sind die Herren ihres
Schicksals und machen diesmal andere zu
Opfern.
Die Situation der jüdischen Geschichte
hat sich also grundsätzlich geändert,
denn die Existenz in Palästina als
Siedler-Kolonialisten hat wenig zu tun
mit dem jüdischen Schicksal in Osteuropa
oder den USA. Anderes als die frühere
Situation der Juden, als sie verfolgt
wurden, weil sie Juden waren, befinden
sich die Israelis mit den Arabern bzw.
den Palästinensern im Krieg, weil sie
die Sünde des Kolonialismus begangen
haben – nicht wegen ihrer jüdischen
Identität. Die Feindschaft gegen die
Juden in Israel hat also einen
bestimmten Grund, den es so niemals
zuvor in der jüdischen Geschichte
gegeben hat.
Der Autor beschließt seine Betrachtungen
über den Zionismus mit der Anmerkung,
dass die Israelis offenbar von einem
Fluch heimgesucht werden: Es ist der
Fluch der ursprünglichen (original)
Sünde gegen die Palästinenser. Wie kann
man über Israel sprechen, fragt er, ohne
die Vertreibung, Enteignung sowie den
Ausschluss dieser Nicht-Juden zu
diskutieren? Das ist die grundlegende
Realität Israels und ohne ihre
Wahrnehmung kann man diesen Staat nicht
verstehen. Die Ursprungssünde sucht die
Israelis heim und quält sie. Diese Sünde
liegt auf allem und befleckt jeden. Die
Erinnerung an diese Sünde vergiftet das
Blut und markiert jeden Augenblick der
Existenz, schreibt er.
Den einzigen Ausweg aus der vertrackten
Situation sieht der Autor in der
Versöhnung der Israelis mit den
Palästinensern. Nur so könne Israel eine
humane und lebenswerte Zukunft gewinnen.
Nur ein radikales Umdenken der Israelis
und die Sühne für die Sünden des
Kolonialismus kann den unendlichen
Konflikt zwischen beiden Völkern
beenden. Die Israelis müssen um
Vergebung bitten, und die Palästinenser
müssen dazu bereit sein zu vergeben. Der
Autor schätzt die Chancen für eine
solche humane Lösung aber sehr gering
ein. Denn die Israelis sind nicht in der
Lage, das Unrecht, das sie den
Palästinensern angetan haben,
einzugestehen. Sie werden sich mit allen
Mitteln dagegen wehren. Sie haben
außerdem Angst vor der Rache der
Palästinenser, wenn sie ihre Schuld
eingestehen würden. Es kommt ein
weiteres gewichtiges Argument hinzu:
Einzugestehen, dass der Zionismus eine
höchst unmoralische koloniale Bewegung
ist, würde ihm die moralische Basis
entziehen. Die Israelis müssten Angst
haben, dass ein solches
Schuldeingeständnis ihnen das Recht
nehmen würde, weiter in Israel zu leben.
Und
so schließt der Autor mit der paradoxen
Feststellung, dass die Schwachen letzten
Endes die Starken sind. Denn die
Asymmetrie der Macht zwischen Israelis
und Palästinensern verhindert eine
einfache Lösung des Konflikts. Aber die
Macht der Palästinenser ist ihre bloße
Existenz, ihr Dasein so nahe an dem der
Israelis. Die Palästinenser verfügen
über die Vetomacht über Israels Zukunft
und über die Macht zu vergeben.
Der Autor der hier wiedergegebenen
Ausführungen ist der israelische
Psychologie-Professor und
Psychoanalytiker Benjamin Beit-Hallahmi,
der an der Universität von Haifa
gearbeitet hat und jetzt emeritiert ist.
Er hat diese Argumente in seinem Buch
„Original Sins. Reflections on the
History of Zionism and Israel“
niedergelegt, das 1992 in London
erschienen ist, aber bis heute nichts
von seiner Aktualität verloren hat. Dass
es nie in deutscher Übersetzung
erschienen ist, ist wohl angesichts des
idealisierten deutschen Israel-Bildes
nicht verwunderlich. Die Gedanken dieses
klugen Intellektuellen und guten Kenners
der israelischen Situation sollten
gerade in Deutschland so manchen, der
sich vorschnell und vorurteilsbelastet
zum Konflikt zwischen Israelis und
Palästinensern, zum Zionismus und zum
Antisemitismus äußert, zum Nachdenken
bringen. 5.5.2019 |