Was sind die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben?
Eine philosophische Betrachtung der Situation der Palästinenser unter zionistischer Besatzung
Arn Strohmeyer - 15.6. 2022
Die Beiträge, Analysen und Kommentare zum Konflikt zwischen dem zionistischen Siedlerstaat und den Palästinensern aus der Sicht der Politik, des Völkerrechts und der Menschenrechte sind Legion. Mir ist aber kein Beitrag bekannt, der das Problem einmal von der philosophischen Seite her aufgreift. Bei der Lektüre des Buches Gerechtigkeit und das gute Leben der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum kam mir aber die Idee zu einer solchen Betrachtung, obwohl die Autorin auf den Palästina-Konflikt gar nicht eingeht.
Im Mittelpunkt der Arbeiten dieser Philosophin steht die Frage nach den Möglichkeiten, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Dazu hat sie einen Katalog von elf Fähigkeiten aufgeführt, mit deren Hilfe die Bedingungen eines guten, gelingenden Lebens ermöglicht werden sollen. Sie schlägt in diesen Punkten eine „minimale Konzeption der Gerechtigkeit“ vor. Wichtigstes Kriterium ist darin, dass ein gerechtes Leben über eine ausreichende materielle Grundlage im Rahmen von politischen Gesellschaften verfügen und von der Akzeptanz der Menschwürde geprägt sein muss. Die Philosophin beruft sich dabei auch auf Karl Marx, der schrieb: „Ein Wesen gilt sich selbst erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt.“
Martha Nussbaum nennt folgende Punkte ihrer Gerechtigkeitskonzeption, wobei ich jeden Punkt einzeln kommentiere:
1.Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben.
Ein palästinensisches Leben ist im Staat Israel nichts wert – weniger als das eines Esels, der ja für die Zionisten noch einen gewissen Nutzwert hat. Schon israelische Kinder lernen in ihren Schulbüchern, dass Palästinenser keine Individuen und Persönlichkeiten sind, sondern „Unpersönlichkeiten“, „Probleme“ und „Bedrohungen“, sie sind „primitiv“, „parasitär“ und „abstoßend“ und werden als „Gesetzesbrecher“ und „Diebe“ dargestellt. Die Israelis sehen sich dagegen als Repräsentanten der Aufklärung, der Zivilisation und des Fortschritts, der rationalen Kultiviertheit und der Moral, die Palästinenser sind dagegen, “rückständiger und gewalttätiger Pöbel“ – eben Barbaren, die man „vertreiben“, „eliminieren“, deren man sich „entledigen“ muss, ja sogar das Wort „vernichten“ wird gebraucht. Diese Ergebnisse hat die israelische Erziehungswissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan nach einer Untersuchung in ihrem Buch Palästinenser in israelischen Schulbüchern veröffentlicht.
Kein Palästinenser kann damit rechnen, ein „menschliches Leben von normaler Dauer bis zum Ende zu leben.“ Jeder Palästinenser, ob im israelischen Kernland oder in den besetzten Gebieten, ist ein Verdachtsfall, weil eine angebliche terroristische Bedrohung. Wenn ein Soldat oder ein Polizist (der Israeli Moshe Zuckermann nennt diese Vertreter des Staates „israelisch-jüdische Gewaltmenschen“) Palästinenser – auch Kinder – erschießt, muss er nicht einmal mit einer Strafe rechnen, weil Israelis immer im Recht sind, sich stets nur „verteidigen“ – auch wenn israelische Militärflugzeuge im Gazastreifen tonnenschwere Bomben abwerfen und damit auf einen Schlag gleich Dutzende von Leben auslöschen. Israelis ist eben „alles erlaubt!“
Palästinenser können für Jahre in israelischen Gefängnissen verschwinden – ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne einen Prozess. Administrativhaft nennt man dieses Verfahren, das so mancher Gefangene nicht überlebt. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, unliebsame Palästinenser zu liquidieren, weil man sie für „Terroristen“ hält. Und Terrorist ist jeder, der es wagt, Widerstand gegen die zionistische Unterdrückung und Besatzung zu leisten.
2.Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören.
Israel ist ein Apartheidstaat (so haben es Amnesty International, die israelische Menschenrechtsorganisation Betselem und ihre amerikanische Schwesterorganisation Human Right Watch sowie mehrere UNO-Unterorganisationen festgestellt). Das heißt, es existiert im israelischen Herrschaftsbereich eine abgestufte Trennung von den Palästinensern: im israelischen Kernland besitzen die Palästinenser zwar die israelische Staatbürgerschaft und dürfen auch wählen, unterliegen aber scharfen Diskriminierungen und sind nach dem Nationalstaatsgesetz von 2019 lediglich Bürger zweiter Klasse, denn nur Juden verfügen im Staat über das Selbstbestimmungsrecht. Die Palästinenser im Westjordanland haben keinerlei politische und bürgerliche Rechte. Sie unterliegen einem strengen Militärrecht, das ihr Leben total kontrolliert. Ihre Landsleute im Gazastreifen müssen vollständig abgeriegelt von der Außenwelt im „größten Freiluftgefängnis der Welt“ (so der israelische Journalist Gideon Levi) leben.
Entsprechend dieser Gliederung funktioniert auch die gesundheitliche Versorgung der Palästinenser. Sie ist in Israel selbst – im Rahmen der Diskriminierung – noch erträglich, ohne aber westlichen Standards zu genügen. Im Westjordanland und im Gazastreifen ist die Versorgung eher katastrophal, weil die Belieferung mit medizinischen Gütern vollständig von der Billigung der Besatzer abhängt. So hat man während der Hochzeit der Corona-Pandemie die Palästinenser dort nicht mit Impfstoffen beliefert – mit dem Argument, sie sollten sich selbst darum kümmern. Auch die EU verhält sich in diesem Bereich gegenüber den Palästinensern äußerst regressiv. Sie hält Gelder zurück, die die palästinensische Auguste Viktoria-Klinik in Jerusalem dringend braucht, um Bestrahlungsgeräte für Krebspatienten zu kaufen. Palästinensische Leben sind offenbar nicht so wichtig.
Dazu kommt, dass die Palästinenser die besetzten Gebiete nur mit Sondergenehmigungen verlassen dürfen, das heißt, der Zugang zu Kliniken in Israel ist nur sehr beschränkt möglich. Viele Palästinenser in Notsituationen sind schon an den Grenzstationen (Checkpoints) gestorben, weil man sie dort nicht durchgelassen hat. Im palästinensischen Krankenhaus in Jerusalem fehlt es an allem; die Kliniken im Gazastreifen sind total unterversorgt, sie sind kaum noch arbeitsfähig. Entsprechend schlecht ist auch die Ernährungslage der Bevölkerung, weil nur das eingeführt werden darf, was die Besatzer erlauben. Außerdem zerstören die israelische Armee bzw. die Siedler permanent Felder palästinensischer Bauern (etwa durch Besprühen mit Giften) oder sie holzen Olivenbäume ab. So wird den Menschen die Lebensgrundlage entzogen.
Auch die Wohnsituation der Palästinenser muss als katastrophal bezeichnet werden. Obwohl die Bevölkerung ständig wächst, erhalten Palästinenser keine Baugenehmigungen. Obendrein reißt die Armee ständig Häuser von Palästinensern ab, weil sie angeblich illegal gebaut sind oder Angehörigen von „Terroristen“ gehören. In den letzten Jahrzehnten sind es rund 50 000 Gebäude gewesen. Im Gazastreifen ist die Wohnsituation durch die immensen Zerstörungen der israelischen Armee sehr angespannt, da vornehmlich Wohnhäuser durch die Bomben und Raketen der Israelis zerlegt worden sind.
3.Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen, vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein.
Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser ist extrem eingeschränkt. Gilt das für die arabisch-stämmigen Menschen im Kernland Israel nur zum Teil, gibt es für die Bewohner des Westjordanlandes und den Gazastreifen so gut wie keine Mobilitätsmöglichkeiten. Die Menschen auf der Westbank sind nicht nur durch die acht Meter hohe Mauer von der Außenwelt abgetrennt, das besetzte Gebiet selbst ist in viele kleine Parzellen fraktioniert. Überall verhindern feste oder bewegliche Checkpoints die freie Durchfahrt (es sollen über 500 sein). Nach Israel gelangt man durch die Checkpoints nur mit besonderen Passierscheinen. Es gibt auf der Westbank gut ausgebaute Straßen nur für Juden und sehr schlechte für Palästinenser.
Wollen Palästinenser aus dem Westjordanland ins Ausland reisen, dürfen sie nicht den Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv benutzen, sondern müssen über die Allenby-Brücke nach Amman reisen, wenn die israelischen Grenzbeamten sie denn passieren lassen. Sollte ein(e) Palästinenser(erin) aus dem Westjordanland einen Ehepartner oder Partnerin in Israel finden, wirft das große Probleme auf, denn das israelische Gesetz verbietet jede Familienzusammenführung.
Die Menschen im Gazastreifen, die auch durch Mauern und Zäune völlig von der Außenwelt abgeschnitten sind, können sich in ihrem „Freiluftgefängnis“ zwar frei bewegen, sie haben aber so gut wie keine Möglichkeit, den Streifen zu verlassen, denn nur wenige Menschen bekommen die Erlaubnis, in Israel zu arbeiten oder dort ein Krankenhaus aufzusuchen. Der Grenzübergang nach Ägypten ist in der Regel geschlossen und wird nur in Ausnahmefällen geöffnet. Bilanz: Die zionistischen Kolonisten tun alles, um die Palästinenser in den besetzten Gebieten totaler Kontrolle zu unterwerfen, und der beste Weg dazu ist, ihre Mobilität einzuschränken bzw. völlig zu verhindern.
Gewaltsame Übergriffe auf Palästinenser sind die Regel und finden täglich statt. Berüchtigt sind die nächtlichen Razzien der israelischen Armee, bei denen jeweils „Terroristen“ verhaftet werden.
4.Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern.
Die Anwendung dieser Fähigkeiten ist eigentlich so selbstverständlich, dass es darüber keiner Debatte bedarf. Aber für die Palästinenser in ihrem besetzten Land ist nichts selbstverständlich, weil die Besatzungsmacht mit ihrer totalen Kontrolle durch Geheimdienste, Spitzel, Zensur und die modernste Überwachungstechnik jeden Lebensbereich dieser Menschen überwacht. Die Gedanken und Gefühle stoßen im wahrsten Sinne des Wortes überall auf undurchlässige Mauern. Zwar kann man den Palästinensern das Denken, Fühlen und Sich-Vorstellen nicht verbieten, aber die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und sie umzusetzen ist unmöglich. Diese Menschen haben nicht einmal das Recht, für ihre eigenen Rechte einzutreten und sie etwa in Publikationen oder Demonstrationen zu äußern. Jede noch so harmlose Bekundung von Widerstand ist „Terrorismus“ und wird brutal niedergeschlagen.
5.Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst aufzubauen.
Aus dem bisher Gesagten geht schon hervor, in wie extremer Weise die Kommunikationsmöglichkeiten der Palästinenser eingeschränkt sind. Beziehungen und Bindungen zu Personen und Dingen unter permanenter Bewachung, Kontrolle und Überwachung aufzubauen und zu erhalten, ist sehr schwierig, wenn nicht unmöglich.
6. Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken.
Die Palästinenser wissen sicher sehr genau, was für sie das Gute ist, aber sie können es unter den kolonialen und Besatzungsbedingungen, unter denen sie leben müssen, nicht umsetzen. Die Zionisten sind bestrebt, diese Menschen permanentem Druck und Schikanen auszusetzen, sie ständig in Unruhe und Panik zu halten, weil sie letzten Endes das Ziel verfolgen, dass sie das Land verlassen und es rein jüdisch werden soll. Eine Lebensplanung unter solchen Umständen ist so gut wie unmöglich. Immer wieder sind in Israel bedauernde Stimmen zu hören, dass man das Werk von 1948 (Nakba), also die vollständige Vertreibung der Palästinenser, nicht zum Abschluss gebracht habe. Dieses Thema ist für die Zionisten noch nicht vom Tisch. An kritischem Nachdenken über die eigene Situation fehlt es den Palästinensern also sicher nicht, aber wie sollen sie ihre Lebensmöglichkeiten konsequent zu Ende denken, wenn sie überall auf trennende Mauern, Zäune und brutale „israelisch-jüdische Gewaltmenschen“ stoßen. Unter diesen Umständen sind die zwischenmenschlichen Beziehungen großen Belastungen ausgesetzt.
7.Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen sowie: über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und Nichtdemütigung zu verfügen.
Um die hier angesprochenen Fähigkeiten leben zu können, brauchen Menschen einen Freiraum, den die Palästinenser nicht haben. Aber trotz Besatzung, Unterdrückung, Diskriminierung und stetiger Demütigung und trotz aller Differenzen, die es natürlich auch unter den Palästinensern gibt, hat die Mehrheit dieses Volkes seine Würde und Selbstachtung bewahrt. Ihre Standhaftigkeit (sumud) ist beispielhaft und viel gerühmt. Aber soziale Fähigkeiten unter so widrigen Umständen zu leben und weiter zu entfalten, ist äußerst schwierig. Aber die extreme Not schweißt diese Menschen auch zusammen und stärkt ihren Widerstandswillen.
8.Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und der Welt der Natur zu leben.
Ursprünglich waren die Palästinenser in ihrer Mehrheit ein Volk von Bauern, das von jeher ein enges Verhältnis zur Natur gepflegt hat. Reisende aus früheren Jahrhunderten haben diese hochstehende Art des Umgangs mit der Natur immer wieder beschrieben, denn Palästina war keineswegs „wüst“ und „leer“, wie die Zionisten behauptet haben. Sie wollen dem Land ja erst die Zivilisation gebracht haben. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zionisten zerstören heute die Felder und Olivenhaine der Palästinenser, beuten die Ressourcen des Westjordanlandes rücksichtslos aus (Bodenschätze und Wasser) und legen dort riesige Müllkippen an. Dem See Genezareth und dem Jordan entnehmen sie viel Wasser, sodass letzterer nur noch ein Rinnsal ist. Der Wasserstand des Toten Meeres sinkt ständig. Und die rücksichtslose Besiedlung des Gebietes schafft große ökologische Probleme.
Im Gazastreifen haben die Israelis mit ihren Bombardierungen die Kanalisation und die Kläranlage zerstört, was eine Verschmutzung des Grund- auch des Meerwassers zur Folge hat. Das Westjordanland und der Gazastreifen sind längst ökologische Notstandsgebiete. Die Palästinenser stehen diesen Problemen ohnmächtig gegenüber, sie haben nicht die Macht, hier gegenzusteuern.
9.Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
Die Lebensfreude lassen sich die Palästinenser – wiederum trotz alledem! – sicher nicht nehmen. Sie machen das Beste aus ihrem Leben, soweit das möglich ist. Immer wieder sieht man aber schreckliche Bilder, wie Kinder in Gaza in den Trümmern total zerbombter Häuser spielen. In Bethlehem habe ich Kinder sagen hören, dass es ihr größter Wunsch sei, einmal zum Meer fahren zu können, um dort zu baden. Aber das Meer ist für sie so unerreichbar wie der Mond. Man darf auch nicht vergessen, dass in Israels Gefängnissen ständig Hunderte Kinder unter furchtbaren Bedingungen inhaftiert sind – oft Monate, wenn nicht Jahre lang, weil sie einen Stein auf israelische Militärfahrzeuge geworfen haben oder auch nur im Verdacht dazu stehen.
10. Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen – die Fähigkeit, Eigentum (an Land und beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben.
Politische Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, können die Palästinenser in den besetzten Gebieten überhaupt nicht treffen, sie sind völlig machtlos und der Willkür der Besatzer ausgeliefert. Daran haben auch die Verträge von Oslo nichts geändert. Die palästinensische Autonomie-Behörde (PA) ist vollständig von Israel abhängig, kann keine Entscheidungen ohne die Einwilligung des zionistischen Staates treffen. Die PA verwaltet nach den Oslo-Verträgen zwar die Zone A des Westjordanlandes (die Zone B wird gemeinsam mit Israel verwaltet, in der Zone C regiert Israel allein), aber die Zionisten halten sich nicht an den Vertragstext, sie machen auch in der Zone A, was sie wollen.
Die bewaffnete Truppe der PA beschützt nicht die eigenen Leute vor den Besatzern, sondern muss in enger Zusammenarbeit mit den israelischen Geheimdiensten für die Sicherheit Israels sorgen. Die PA hat nach einem bekannten Satz des Palästinensers Edward Said lediglich die Kompetenz, die eigene Müllabfuhr zu organisieren. Im Grunde ist die PA ein Kollaborationsregime, das Israels Vorgaben erfüllt.
Im Gazastreifen „regiert“ zwar die Hamas, aber was in dem völlig abgeriegelten „größten Freiluftgefängnis der Welt“ geschieht, bestimmt letztlich auch Israel: Was eingeführt und was ausgeführt werden darf, wer aus- und einreisen kann, wie weit die palästinensischen Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinausfahren dürfen und und… Selbst das Personenstandsregister der Menschen im Gazastreifen wird von Israel geführt. Die Israelis überwachen aus der Luft jeden Schritt der Menschen dort.
Das Eigentum der Palästinenser ist nicht geschützt. Jeden Tag besetzt die israelische Armee palästinensisches Land für neue Siedlungen oder für Landwirtschaftsprojekte, indem sie das Land zum militärischen Sperrgebiet, zum Naturschutzgebiet oder zum Staatseigentum erklärt. Auch die jüdischen Siedler eignen sich ständig Land an, das ihnen nicht gehört. Die Zionisten zerstören auch willkürlich und beliebig ständig Häuser von Palästinensern oder auch ganze Dörfer – etwa von Beduinen. Palästinensern ist es untersagt, Land von Juden zu kaufen. Baugenehmigungen für die Errichtung eigener Häuser werden ihnen so gut wie nicht erteilt. Die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind völlig rechtlos – auch und gerade, was ihr Eigentum angeht.
11.Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können.
Können die Palästinenser im Kernland Israel trotz vieler Vorbehalte und Diskriminierungen noch arbeiten, wobei ihnen viele Berufe und Institutionen verschlossen sind, so ist die Situation der arbeitenden Menschen in den besetzten Gebieten eher katastrophal. Entsprechend der schlechten Wirtschaftslage dort (die von Israel gewollt ist), ist die Arbeitslosigkeit hoch und die Löhne sind niedrig. Nur wenige Privilegierte können in Israel arbeiten, allerdings zu Löhnen und sozialen Standards, die weit unter den in Israel üblichen liegen. „Praktische Vernunft“ am Arbeitsplatz ausüben zu können, klingt für Palästinenser unter den repressiven Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen, wie blanker Hohn. Arbeit von Palästinensern sowohl in Israel wie auch in den Gebieten findet unter härtesten Überlebensbedingungen statt, und da ist die Chance, „in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können“, sicher äußerst gering.
Bilanz: Israel ist ein Apartheidstaat, und damit ist alles über die Situation der Palästinenser unter israelischer Herrschaft gesagt. Keines der minimalen Prinzipien der Gerechtigkeitskonzeption, die Martha Nussbaum nennt, trifft voll auf die Palästinenser zu. Die Menschen sind outlaws (Geächtete) in der globalen Welt, was alles über das westliche Wertesystem aussagt. Die Doppelmoral und die Heuchelei bei der Anwendung dieses Wertekanons sind nicht zu übertreffen.
Israel kann die Menschenrechte und das Völkerrecht bei der Unterdrückung dieses Volkes mit Füßen treten wie es will – von der westlichen Staatengemeinschaft kommt keinerlei Kritik, geschweige denn politischer Druck, obwohl man sonst zur Verhängung von Sanktionen und sogar zu kriegerischen Interventionen schnell bereit ist. Palästina ist das Symbol und Beispiel, das die Unglaubwürdigkeit des westlichen Wertesystems in brutaler Weise offenlegt.