Arn Strohmeyer
Die Boykottaktionen gegen Produkte aus den
von Israel besetzten Gebieten wurden und werden in der Regel
sofort von der Mehrheit der Deutschen mit dem sehr emotional
vorgebrachten Vorwurf des „Antisemitismus“ belegt. Dabei
scheinen sich die wenigsten Deutschen darüber klar zu sein,
was Antisemitismus überhaupt ist. Wenn umgehend der Vorwurf
auftaucht, dass Boykottaktionen mit der Nazi-Parole „Kauft
nicht bei Juden!“ gleichzusetzen sind, ist das sachlich
unsinnig. Denn die Nazi-Aktionen richteten sich gegen eine
diskriminierte und entrechtete Minderheit der deutschen
Bevölkerung und hatten regelrechten Terrorcharakter.
Die Boykottaktionen richten sich nicht gegen
Personen oder bestimmte Bevölkerungsgruppen (etwa die Bürger
Israels), sondern gegen eine Regierung, die eine
völkerrechtswidrige Politik betreibt. Das ist ein
beträchtlicher Unterschied. Die Boykottaktionen haben nicht
nur friedlichen Charakter, sondern sie sind zudem durch das
Urteil des Europäischen Gerichtshofs gedeckt, der 2010 in
einem Urteil verfügt hat, dass Produkte aus dem von Israel
besetzten Gebieten nicht mit der Markenkennzeichnung „Made
in Israel“ ausgeführt werden dürfen, da diese Gebiete
völkerrechtlich nicht zu Israel gehören. Diese Produkte
müssen separat ausgezeichnet werden. Auf dieses Urteil
stützen sich die Boykottaktionen. Sie fordern also geltendes
Recht ein.
Was nun den Antisemitismus-Begriff angeht,
herrscht ganz offensichtlich - nicht zuletzt bedingt durch
deutsche Schuldgefühle - ein große Verwirrung. Hajo G.
Meyer, ein aus Deutschland stammender Jude, der Auschwitz
überlebt hat, hat die Formel geprägt: Früher war ein
Antisemit jemand, der die Juden nicht mochte. Heute ist ein
Antisemit jemand, den die Juden nicht mögen.
Was heißt das? Der klassische
Antisemitismus-Begriff, dem die deutschen Völkischen und die
Nazis anhingen, besagte, dass Jude-Sein durch Blut und Rasse
bestimmt sei, dass Juden also aufgrund dessen bestimmte
negative Eigenschaften zukommen, die - da biologisch bedingt
- unveränderbar seien. In dem Standardwerk „Contemporary
Jewish Religious Thought“ (1987) begründet Hyam Maccoby
diesen auf Rasse begründeten Antisemitismusbegriff
folgendermaßen: „...der Fehler der Juden ist in der
Hauptsache in den Juden selbst lokalisiert, da sie nun mal
einer zutiefst minderwertigen Rasse angehören.“ Dieser
Begriff ist inhaltlich von dem Deutschen Wilhelm Marr, einem
Pionier des deutschen Rassenantisemitismus im 19.
Jahrhundert geprägt worden und führte letzten Endes zu der
Ausrottungspolitik der Nazis.
Diese Form des Judenhasses ist wiederum von
dem theologisch begründeten Anti-Judaismus der Kirchen zu
unterscheiden, die Jahrhunderte lang gegen Juden hetzten,
weil sie es gewesen seien, die Christus ermordet hätten.
Dieser Anti-Judaismus hat in der Geschichte zu furchtbaren
Pogromen und Mordaktionen gegen Juden geführt, denen man
alles Mögliche unterstellte - etwa rituelle Kindermorde usw.
Man muss diesen Anti-Judaismus als Vorläufer des
Rasse-Antisemitismus betrachten, der eine hat dem anderen
sozusagen den Weg bereitet.
In letzter Zeit ist der Begriff des „neuen“
Antisemitismus aufgekommen. Um den zu verstehen, muss man
darauf hinweisen, das das Judentum in sich sehr
vielschichtig ist und keineswegs einen monolithischen Block
darstellt, wie das seine Gegner gern behaupten. Man kann
Judentum etwa (wie der israelische Historiker Shlomo Sand)
so definieren: Es war schon immer und ist auch heute noch
eine bedeutende, sich aus verschiedenen Strömungen zusammen
setzende religiöse Kultur, aber keine Nation.
Das Judentum fächert sich - grob betrachtet -
auf in das von der Aufklärung beeinflusste liberale
Reformjudentum, das streng orthodoxe Judentum und die von
der Mystik und der Kabbala geprägten Chassidim. Eine
Richtung des Judentums ist der Zionismus, der im 19.
Jahrhundert als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus
und unter dem Einfluss der nationalen europäischen
Bewegungen und des Kolonialismus entstand. Sein Ziel war es
von Anfang an, einen Judenstaat in Palästina zu errichten,
wobei es ihm darauf ankam und auch immer noch darauf
ankommt, möglichst ganz Palästina unter seine Herrschaft zu
bringen - möglichst ohne Palästinenser, oder nur mit einer
sehr geringen Zahl von ihnen.
Der Zionismus ist also eine politische
Ideologie, die sich heute im Staat Israel und seiner Politik
verkörpert. Man darf Judentum also keinesfalls mit Zionismus
gleichsetzen, und umgekehrt darf man Anti-Zionismus - also
Kritik an der israelischen Politik - nicht mit
Antisemitismus gleichsetzen. Der klassische rassistische
Antisemitismus beurteilt ja jede Äußerung und jede Tat eines
Juden als schlecht, weil sie von Juden kommen. Der
Anti-Zionist kritisiert lediglich politische Absichten und
Taten des Staates Israel bzw. seiner Regierung, was etwas
völlig anderes ist.
Natürlich kann eine solche Kritik aus
antisemitischen Gründen heraus erfolgen. Sie kann aber auch
ganz andere Motive haben: Motive, die sich aus einem Moral-
oder Gerechtigkeitsgefühl, also einem Wertsystem wie dem
humanitären Völkerrecht und der Charta der Menschenrechte
herleiten.
Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem
klassischen rassistischen Antisemitismus und dem neuen
Antizionismus ist: Ersterer kritisiert Menschen aufgrund
ihres unveränderbaren Wesens, der zweite kritisiert eine
Politik und Politiken kann man - Gott-sei-Dank - ändern. Man
kann ihre Ergebnisse sogar rückgängig machen. Pro-Zionismus
kann im Übrigen auch antisemitisch sein. Ein berühmtes
Beispiel ist die Balfour-Erklärung der britischen Regierung
von 1917, die den Juden eine Heimstätte in Palästina
zusicherte. Diese war deswegen antisemitisch, weil England
mit ihrer Hilfe den großen Strom osteuropäischer Juden, die
auf die britische Insel strömten, nach Palästina umlenken
wollte. Man wollte diese Juden nicht haben.
Nun haben sich die Vertreter des israelischen
Establishments etwas sehr Raffiniertes ausgedacht. Sie
setzen einfach Zionismus und Judentum gleich - und damit ist
jede Kritik an Israel und seiner Politik antisemitisch. Das
ist der neue Antisemitismus. Da nun niemand sich das Stigma,
ein Antisemit zu sein , anheften lassen will, traut sich
auch kaum jemand, an der israelischen Politik Kritik zu üben
- in Deutschland am allerwenigsten, weil hier die deutsche
Vergangenheit ein zusätzliches Hindernis für Kritik ist. In
Israel streiten sich verschiedene Leute - etwa die beiden
aus der Sowjetunion emigrierten Israelis Natan Sharansky und
Avigdor Lieberman um die Ehre, diesen Begriff kreiert zu
haben.
In Wirklichkeit ist er aber schon viel älter.
Der Soziologe Walter Hollstein schrieb schon 1972 in seinem
Buch „Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts: „Jeder Kritiker der israelischen
Politik im Nahen Osten sieht sich der Kritik ausgesetzt, ein
Antisemit zu sein. Jede Analyse des zionistischen Charakters
Israels ... wird von Israel und dessen Interessenvertretern
als judenfeindlich dargestellt. Diese Schmähung will bewusst
jeder Auseinandersetzung mit Geschichte und Struktur Israels
rassistische Motive unterschieben und sie damit von
vornherein als unlauter ausgeben.“
Ein Beispiel für das Gesagte: Sharansky
schrieb 2003 Folgendes: „...wie eine bösartige Krankheit hat
auch der heutige Antisemitismus eine neue Mutation
hervorgebracht, die nicht auf Gewalttaten gegen Juden oder
das In- Brandsetzen von Synagogen beschränkt ist. Der
neue Antisemitismus tritt jetzt in der Verkleidung von
‚politischer Kritik an Israel‘ auf, der aus einer
diskriminierenden Haltung gegenüber dem Staat der Juden
besteht, während gleichzeitig sein Existenzrecht bezweifelt
wird.“
In dieser Äußerung wird die
Begriffsverwirrung total. Denn es ist nicht einzusehen,
warum Menschen, die Israel an seine Pflicht erinnern, sich
in seiner Politik an das humanitäre Völkerrecht, die
internationalen Konventionen, UNO-Resolutionen, die
Menschenrechtscharta und Urteile des Europäischen
Gerichtshofes in den Haag und des Europäischen Gerichtshofes
in Straßburg zu halten, eine „diskriminierende Haltung“
gegenüber dem Staat Israel einnehmen und sein Existenzrecht
bezweifeln. Die Existenz Israels steht überhaupt nicht zur
Debatte.
Ein Beispiel für das Gesagte. Im Jahr 2002
hat die israelische Armee als Reaktion auf die zweite
Intifada einen blutigen Krieg gegen die palästinensische
Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten geführt. Dabei
hat sie ein furchtbares Massaker in dem Flüchtlingslager
Jenin angerichtet, bei dem hunderte von Menschen ums Leben
kamen. Die genaue Zahl der Toten weiß man nicht, da die
israelische Regierung der UNO eine Untersuchung des Vorfalls
nicht erlaubt hat. Die Menschen im Lager hatten ihre Häuser
nicht verlassen dürfen, während Apache-Hubschrauber Raketen
auf die Gebäude feuerten und anschließend Bulldozer die
Häuser mit den Menschen darin plattmachten. Es gibt mehrere
Augenzeugen der Aktion. Die internationale Kritik an diesem
Verbrechen war einmütig.
Der damalige israelische Außenminister Simon
Peres setzte diese Kritik mit Antisemitismus gleich. Der
Zeitung Ha’aretz sagte er: „Ich bedaure diese europäische
Reaktion. Während früher Antisemitismus in Europa gegen
individuelle jüdische Personen gerichtet war, habe ich jetzt
den Eindruck, dass der Antisemitismus gegen den jüdischen
Staat gerichtet ist. Wir Juden können die Vergangenheit von
Europa nicht vergessen und wir müssen erwarten können, dass
die Europäer sich erinnern, dass wir nicht vergessen.“ Hier
wird ganz eindeutig Druck auf die Europäer ausgeübt, mittels
der Erinnerung an das
Mega-Verbrechen des Holocaust israelischen
Kriegsverbrechen oder schweren Menschenrechtsverstößen nicht
weiter nachzugehen.
Israel benutzt den Antisemitismus-Vorwurf
ganz zweifellos, um die unmoralische und jedem
internationalem Recht widersprechende Politik in dem von ihm
besetzten Gebieten zu rechtfertigen. Der israelische
Historiker Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv
schreibt dazu: „Das Unerhörte besteht demnach nicht (nur) in
der perfiden Ideologisierung der Shoa [israelische
Bezeichnung des Holocaust] als Begriff, sondern in der
Unvereinbarkeit von moralischem Anspruch und der in seinem
Namen verursachten Realität.“ Weiter schreibt er: „Längst
schon ist die lustvoll heteronome Verwendung von
‚Antisemitismus‘ als Parole im vermeintlichen Kampf gegen
Antisemitismus in eine ‚fürchterliche Epidemie wie die
Cholera‘ umgeschlagen.“ Und: „Noch nie ist der konstruierte
Zusammenhang von Zionismus, Israel, Shoah, Antisemitismus
und Nahost-Konflikt so weidlich instrumentalisiert, perfide
ausgekostet und schändlich missbraucht worden wie im gerade
abgelaufenen ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.“
Aber zurück zu den Boykott-Aktionen. Der
britisch-jüdische Philosoph Brian Klug aus Oxford hat eine
kurze und prägnante Definition für den „alten“ und „neuen“
Antisemitismus verfasst. Antisemitismus liegt dann vor, wenn
Äußerungen folgende behauptende Kriterien erfüllen: „Der
Jude gehört zu einem unheimlichen Volk, das sich von allen
anderen abgrenzt, nicht nur durch seine Sitten, sondern auch
durch seinen kollektiven Charakter: Er ist arrogant und
unterwürfig, gesetzestreu und korrupt, verschwenderisch und
zurückhaltend. Immer auf Profit bedacht sind Juden ebenso
gnadenlos (ruthless) wie trickreich. Loyal sind sie nur sich
selbst gegenüber. Wo immer sie sich aufhalten, bilden sie
einen Staat im Staat und berauben dabei die Gesellschaften,
in deren Mitte sie leben. Ihre unsichtbaren Hände
kontrollieren die Banken, die Märkte und die Medien. Bei
Revolutionen oder Kriegen sind es die Juden, die -
zusammenhaltend, mächtig, clever und eigensinnig - die Fäden
ziehen und dann den Gewinn einfahren.“
Für den neuen Antisemitismus nennt Klug
folgende Kriterien: Wenn ein Text (eine Rede, ein Artikel
oder ein Cartoon) diese Behauptungen a) auf Israel aus dem
Grund projiziert, dass Israel ein jüdischer Staat ist oder
b) auf den Zionismus aus dem Grund, dass er eine jüdische
Bewegung ist oder auf Juden, Individuen oder Kollektive, in
Verbindung mit a) oder b), dann ist dieser Text
antisemitisch.
Wo, muss man fragen, sind Boykottaktionen
dann antisemitisch?
Die Gegner der Boykottaktionen oder jeder
Kritik an Israel sollten noch eins bedenken. Die furchtbaren
Verbrechen, die Deutschland an Juden begangen hat, haben
verständlicherweise und mit Recht ein schlechtes Gewissen
geschaffen. Dieses schlechte Gewissen hat - nicht nur in
Deutschland - den Antisemitismus von einst in einen
Philosemitismus umschlagen lassen. Diese Haltung hat sich
kollektiv auf den Staat Israel übertragen, dem in der
Öffentlichkeit immer wieder seine demokratische Qualität,
sein Vorbild-Charakter und seine humane Grundeinstellung
attestiert werden. Der Philosemitismus gründet aber in der
Angst, als Antisemit zu erscheinen. Man kann sich vom
Antisemitismus aber nicht befreien, indem man Juden für
nicht kritisierbar hält. Das hat mit Normalität im Umgang
mit Juden und dem Staat Israel nichts zu tun. So gesehen
sind die Boykottaktionen ein legitimer und friedlicher
Protest gegen die Politik der israelischen Regierung, um
Druck auf sie auszuüben, sich an internationale
Vereinbarungen und das Völkerrecht zu halten.
Verwendete Literatur:
Hollstein, Walter: Kein Frieden um Israel,
Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts, Frankfurt/Main
1972
Klug, Brian: Antisemitism: old and „new“,
handout Oxford 2010
Meyer G. Meyer: Judentum, Zionismus.
Antizionismus und Antisemitismus. Versuch einer
Begriffsbestimmung, Berlin 2009
Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen
Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin
2010
Zuckermann, Moshe: „Antisemit!“ Ein Vorwurf
als Herrschaftsinstrument, Wien 2010