Die
Legende von den „aus den arabischen Ländern vertriebenen
Juden“
Israel ehrt die angeblichen Flüchtlinge erstmals
mit einem Gedenktag / Jüdische Historiker widersprechen
Arn Strohmeyer
Israel
hat einen neuen Gedenktag. Am 1. Dezember wurde erstmals
der „Flucht und Vertreibung der Juden aus arabischen
Ländern und Iran“ gedacht. Staatspräsident Reuven Rivlin
hielt bei dieser Gelegenheit eine Rede, in der er die
alten zionistischen Mythen und Legenden über die
„Tragödie“ dieser Menschen wiederholte. Er forderte von
den arabischen Staaten sogar Entschädigungen und
Rückzahlungen für das den jüdischen Flüchtlingen
angetane Unrecht, räumte aber immerhin auch ein, dass
man diese Neuankömmlinge in Israel nicht gerade herzlich
aufgenommen, ja sie an den äußersten Rand der
Gesellschaft gedrängt habe.
Der
Hintergrund der Einführung des neuen Gedenktages und
Argumentation Rivlins ist klar: Israel will die
angeblich ein Million jüdischer Flüchtlinge aus
arabischen Ländern mit den 1948 und 1967 vertriebenen
Palästinensern verrechnen, um sagen zu können, dass die
Rechnung ausgeglichen sei – dass die Palästinenser keine
Ansprüche auf Rückkehr und Entschädigung mehr anmelden
können. Nur die Vertreibung der Juden aus den arabischen
Ländern ist eine Legende. Im Folgenden nehmen zwei
jüdische Historiker dazu Stellung.
Einmal
davon abgesehen, dass man ein Unrecht nicht mit einem
anderen aufrechnen kann, die historische Wahrheit sieht
ganz anders aus. Zwei Historiker - der Israeli Tom Segev
und sein österreichisch-jüdischer Kollege John Bunzl –
haben intensiv über dieses Thema gearbeitet und kommen
zu ganz anderen Ergebnissen. Die Zionisten hatten im
Krieg von 1948/49 große Gebiete erobert und die meisten
der bis dahin dort lebenden palästinensischen Einwohner
vertrieben. Dadurch waren große „ent-arabisierte“
Gebiete in den Machtbereich Israels geraten. Israel
fehlte es daher an Menschen, denn durch den Völkermord
an den Juden durch die Nazis blieben Millionen Menschen
aus - vor allem osteuropäische Juden - , die für die
Besiedlung eigentlich vorgesehen waren. Juden aus
anderen Teilen der Welt zeigten aber wenig Interesse, in
den neuen Staat überzusiedeln.
Einwanderer aus den islamischen Staaten zu gewinnen, war
also ein vorrangiges Projekt des jungen Staates Israel.
Ministerpräsident Ben Gurion formulierte das 1949 so:
„Wir haben Gebiete erobert, aber ohne Besiedlung haben
sie keinen entscheidenden Wert, weder im Negev noch in
Galilea noch in Jerusalem. Besiedlung ist erst die
wirkliche Eroberung. Tausende Jahre waren wir eine
Nation ohne Staat. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir
ein Staat ohne Nation werden.“
Der
Historiker Halevi schreibt dazu: „Vor diesem Hintergrund
beschließen die Führer der Arbeiterzionisten des Jischuw,
mit allen Mitteln die Juden der mohammedanischen Länder
Nordafrikas und des Mittleren Ostens kommen zu lassen.
(...) Aus Marokko, Algerien, Tunesien, Lybien, Ägypten,
dem Jemen, Irak Syrien und dem Libanon (...) trafen
zwischen 1948 und 1967 eine Million ‚arabischer’ Juden
in Palästina ein, wo sie (...) den leeren arabischen
Raum bevölkerten. Als Minderheit unter dem Juden der
ganzen Welt wurden die Juden ‚Afrikas und Asiens‘, wie
sie der offizielle israelische Sprachgebrauch
bezeichnet, zur Mehrheit im Staat Israel.“
Es gab
aber auch direkte politische Gründe, die Einwanderung
orientalischer Juden zu befördern: Ben Gurion wollte sie
im Lande haben, um die Armee zu stärken. Und Menachem
Begin wünschte ihre Einwanderung, weil er glaubte, dass
„diese unwissenden und primitiven“ Massen ihn und seine
rechte Herut-Partei schneller an die Macht bringen
würden.
Um Juden
in den islamischen Staaten zur Einwanderung nach Israel
zu überreden, sandte Israel Agenten aus, die bei den
jeweiligen Regierungen Ausreisegenehmigungen für die
Juden erreichen sollten. Die Methoden, mit denen diese
Agenten arbeiteten, waren nicht immer legal. So wurden
an Beamte und Mitglieder der Regierungen hohe Summen
gezahlt - Nuri Said, der Schah des Iran und die Sultane
des Jemen kamen auf die Gehaltsliste des Mossad. Wenn
Geld nicht die gewünschte Wirkung erzielte, entwickelten
zionistische Stellen das Interesse, die
Lebensbedingungen der jüdischen Minderheiten in diesen
Staaten zu verschlechtern.
Jitzak
Ben-Menahem, eine Agent, der in arabischen Ländern viele
Operationen ausgeführt hatte, schrieb:
„Massenauswanderung wird nur als Folge von Bedrängnis
eintreten. Das ist die bittere Wahrheit, ob es uns passt
oder nicht. Wir müssen daran denken, die Bedrängnis zu
initiieren, sie in der Diaspora herbeizuführen.“ Und Ben
Gurion bemerkte: „Selbst Juden, die [ihre Wohnorte]
nicht verlassen wollen, müssen gezwungen werden zu
kommen.“
Dabei war
man sich in Israel sehr wohl bewusst, dass die
Einwanderung der Juden aus den islamischen Ländern viele
Probleme schaffen würde, denn der Bildungsstandard
dieser Menschen war sehr niedrig. In einem israelischen
Zeitungsartikel hieß es 1949: „Die Primitivität dieser
Leute ist unübertreffbar. Sie haben fast überhaupt keine
Erziehung, schlimmer noch ist ihre Unfähigkeit,
irgendetwas Intellektuelles zu verstehen. In der Regel
sind sie nur etwas weiter als Araber, Neger und Berber.
Das Niveau liegt bestimmt unter jenem der vormaligen
palästinensischen Araber.“ Aber man brauchte diese
Menschen als Landarbeiter, die die palästinensischen
Araber ersetzen sollten. Diese Einwanderer wurden wegen
ihrer Fremdartigkeit in Israel auch mit Bestürzung und
Feindseligkeit empfangen. Ben Gurion verteidigte die
Notwendigkeit ihres Kommens aber, er verglich sie mit
den Schwarzen, die als Sklaven nach Amerika geholt
wurden.
Der
israelische Historiker Tom Segev spricht in seinem Buch
„Die ersten Israelis“ nur von „Einwanderung“ der
orientalischen Juden. Das Wort „Vertreibung“ benutzt er
nur ein einziges Mal - im Zusammenhang mit dem Irak.
Aber dort war die Situation sehr kompliziert und Segev
belegt, dass die zionistischen Agenten bei der
„Vertreibung“ der irakischen Juden kräftig nachgeholfen
haben. Auf jeden Fall ist die These der zionistischen
Geschichtsschreibung, dass die Sehnsucht dieser Menschen
nach dem Heiligen Land und die grausame Verfolgung dort
sie zum Verlassen des Landes bewogen hätten, nicht
haltbar. Segev beschreibt eine sehr aktive Tätigkeit von
Mossad-Agenten im Irak, ja spricht sogar von einem
„zionistischen Untergrund“. Es seien nur Juden im Irak
verfolgt worden, die mit diesen Untergrundtätigkeiten zu
tun gehabt hätten.
1950
beschloss das irakische Parlament ein Gesetz, alle Juden
auswandern zu lassen. Segev bringt diesen Beschluss mit
„Vertreibung“ in Verbindung, fügt aber hinzu, dass das
Gesetz, das die Juden zwang, das Land zu verlassen, eine
Folge der subversiven Arbeit des Mossad war. Bei einem
Bombenanschlag in Bagdad kamen im Januar 1951 vier Juden
ums Leben. Die Täter wurden nie ermittelt, aber Gerüchte
gaben dem Mossad die Schuld. Der Anschlag sollte die
Juden in Panik versetzen und zur Auswanderung bewegen.
Mit dem
Jemen schloss Israel ein Abkommen über die Auswanderung
der Juden. Sie wurden zum Exodus überredet, indem man in
diesen sehr ungebildeten Menschen messianische
Hoffnungen weckte. So glaubten viele, dass es sich bei
Israel um ein neues Königreich Davids handele, weil der
Regierungschef David Ben Gurion heiße. Die jemenitischen
Juden wurden mit einer Luftbrücke nach Israel gebracht,
wobei sie die weißen Flugzeuge für die „fliegenden
weißen Esel des Messias“ hielten.
In
Ägypten herrschte eine ganz andere Situation. Hier
hatten islamistische und nationalistische Strömungen
seit den vierziger Jahren das Leben von
nicht-ägyptischen Minderheiten erschwert - nicht nur von
Juden, sondern auch von Europäern, koptischen Christen
und Griechen. Ab Juli 1954 belastete ein von einem
israelischen Spionagering begangener Anschlag in Kairo
die Beziehungen zwischen der ägyptischen Regierung und
den Juden schwer. Die israelischen Agenten hatten Bomben
in britischen und amerikanischen Informationszentren,
britischen Kinos und ägyptischen öffentlichen
Einrichtungen hochgehen lassen. Ziel des Anschlages war
es, „das Vertrauen des Westens in das derzeitige
ägyptische Regime zu untergraben.“
Die
Briten verhandelten damals mit Ägypten über die
Evakuierung der Kanalzone. Die Amerikaner wollten
Ägypten Waffen liefern. Es war sogar ein
amerikanisch-ägyptisches Bündnis im Gespräch. Israel
führte zunächst eine Kampagne, um den Ägyptern die
Anschläge „als ein anti-jüdisches abgekartetes Spiel“ in
die Schuhe zu schieben. Schließlich kam aber auch in
Israel die Wahrheit heraus, dass eine Gruppe im
Sicherheitsestablishment die Anschläge ausgeheckt hatte.
Als
Israel dann im Oktober 1956 im Suezkrieg zusammen mit
Großbritannien und Frankreich Ägypten angriff, verfügte
die ägyptische Regierung Massenausweisungen. Rund 100
000 Juden verließen das Land. Aber auch Angehörige
anderer Staaten - Griechen, Italiener, Franzosen und
Briten - mussten Ägypten verlassen. Die Juden hatten
aber auch unter den Folgen der panarabisch-islamischen
Ägyptisierung von Wirtschaft und Verwaltung und den
Auswirkungen des Palästina-Konfliktes zu leiden. Bunzl
betont ausdrücklich: „Die antijüdischen Maßnahmen lagen
weder in einer ‚ewigen‘ muslimischen Feindschaft
antisemitischen Typs noch in der Haltung der Mehrheit
der ägyptischen Bevölkerung begründet - diese war bis in
die Mitte das 20. Jahrhunderts durchaus ‚tolerant‘.
Segev
notiert denn auch, dass es für die orientalischen
Einwanderer in Israel viele Motive gab, ihre alte Heimat
zu verlassen. Es gab persönliche, politische und
religiöse Gründe. Er schreibt: „Einige Juden wanderten
spontan aus. Sie weil sie schikaniert und verfolgt
wurden, sei es wegen ihrer zionistischen oder religiösen
Überzeugungen. Andere kamen wegen der Propaganda nach
Israel, die von Vertretern des Zionismus in ihren
Ländern verbreitet wurde. Einige schlossen sich einfach
den emigrierenden Massen an, und manche verschlug es
tatsächlich gegen ihren Willen nach Israel.“ Aber eins
kann man mit Sicherheit sagen: Eine der ethnischen
Säuberung, also der Nakba der Palästinenser 1948/49
entsprechende Vertreibung der Juden aus den islamischen
Ländern hat es nicht gegeben.
2.12.2014