Zur
Diskussion über Kritik an Israel und den
Antisemitismus-Vorwurf in der Linken
Arn Strohmeyer
In der
Linken - aber auch in anderen Parteien - tobt ein
erbitterter Streit um das Verhältnis zu Israel. Die weit
auseinander driftenden Stellungnahmen und Positionen zu
Israels Überfall auf die Schiffe der Gaza-Hilfsflottille
haben die alten und erbittert verteidigten Fronten wieder in
aller Schärfe aufbrechen lassen. Das Kernproblem, um das es
dabei geht - egal, was gerade der Anlass ist, ist aber die
Frage: Dürfen wir Israel kritisieren oder ist das
Antisemitismus? Die einen beantworten diese Frage mit einem
leidenschaftlichen Ja, die anderen mit einem ebenso
engagierten Nein. Die Positionen scheinen unvereinbar. Der
Verfasser dieser Zeilen bekennt sich zur zweiten Fraktion
und will hier darlegen, warum.
Zunächst
muss man - wenigstens in aller Kürze - einige Begriffe
klären: Antisemitismus, Zionismus, Israel-Kritik und
Antizionismus. Hier scheint beträchtliche Verwirrung zu
herrschen. Antisemitismus ist die irrationale,
pseudowissenschaftliche Überzeugung, dass Juden eine durch
"Rasse" und "Blut" bestimmte "minderwertige" Menschenart
seien, also negative Eigenschaften besäßen, die, biologisch
bedingt und unveränderbar seien. Zionismus ist dagegen eine
säkulare politische Ideologie, die auf der "Heilserwartung"
beruht, dass der zu erstrebende End- und Friedenszustand für
die Juden dann erreicht ist, wenn sie für ihren Staat eine
möglichst große Fläche Palästinas besitzen - ohne Rücksicht
auf die seit Jahrhunderten dort wohnenden arabischen
Bewohner, die Palästinenser. Oder anders gesagt: Zionismus
bedeutet die Gründung eines essentiell jüdischen Staates auf
dem Territorium einer nicht-jüdischen Bevölkerung, was
notwendigerweise zum Nicht-Wahrhaben-wollen der Rechte
dieser Bevölkerung führen musste. Das ist der Kern des
Nahost-Konfliktes von Anfang an (seit etwa 1880) bis heute.
Die
Palästinenser sollen in dem zionistischen Konzept also
zahlenmäßig möglichst klein gehalten oder auch ganz
vertrieben werden. Diese Ziele sind durch zahlreiche
Äußerungen führender Zionisten und die Politik Israels -
etwa 1948 und 1967 - belegt. Der Zionismus erklärt sich also
nicht durch biologische oder rassische Kriterien, sondern
ist eine politische Ideologie, die sich - theoretisch
zumindest - auch ändern könnte. Antizionisten sind nun
Leute, die keineswegs auch Antisemiten sein müssen - auch
sehr viele Juden sind Antizionisten. Ein Antizionist hält
also Juden nicht für grundsätzlich schlecht wie der
Antisemit, sondern er kritisiert lediglich die Politik
Israels, weil sie einen seit Jahrzehnten andauernden Prozess
der Kolonisierung, des Landraubes, der Enteignung, der
Vertreibung und Unterdrückung eines ganzen Volkes darstellt.
Der
Antizionismus ist also (wenn er denn seriös argumentiert)
eine rationale, sich aus ethisch-moralischen, menschen- und
völkerrechtlichen Gründen speisende Kritik an Israels
kolonialistischer Politik gegenüber den Palästinensern -
also etwas völlig anderes als Antisemitismus. Viele
Antizionisten, die durchaus Sympathien für Israel haben,
sind der Meinung, dass diese Unterdrückungspolitik sich auch
auf Israels Zukunft nur verhängnisvoll auswirken wird.
Wenn man
diese Unterschiede zwischen Israel-Kritik, Antizionismus und
Antisemitismus nicht auseinanderhält bzw. mit klarer
politischer Absicht auch gar nicht auseinanderhalten will,
kommt man natürlich zu krassen Fehlurteilen, die - wenn man
sie dem politischen Gegner anhängt - äußerst
diskriminierenden, ja vernichtenden Charakter haben können
und auch sollen. Denn es kommt ein neues Moment hinzu, das
die Auseinandersetzung verschärft. Die Zionisten und ihre
Anhänger haben den Begriff Antisemitismus völlig neu
definiert. Er wird heute nicht mehr rassisch-biologisch
verstanden, obwohl es diesen Typ des Antisemiten sicher auch
noch gibt. Heute heißt es: Jeder, der Israel zu kritisieren
wagt, ist ein Antisemit. Henryk Broder etwa bezeichnet den
alten "klassischen" Antisemitismus als
"Steinzeitantisemitismus".
Die neue
Definition des Antisemitismus bezieht sich also nicht mehr
auf Juden als solche, denen unveränderbar negative Merkmale
eigen sein sollen, sondern in erster Linie auf die
Einstellung gegenüber Israel. Da die Zahl jüdischer und
nicht-jüdischer Kritiker ständig wächst, weil Israel sich
mit seiner Politik immer mehr ins Unrecht und die
internationale Isolation begibt, wächst auch zwangsweise die
Zahl der "Antisemiten" auf der Welt. So gesehen produzieren
Israel und seine Freunde ihre "Antisemiten" selbst, denn sie
definieren ja auch selbst, wer ein "Antisemit" ist. Wenn man
die Kriterien dafür ausweitet, wird der Kreis natürlich
immer größer.
Diese
Argumentationsweise ist besonders infam, weil sie in
Deutschland auch sehr viele Menschen betrifft, die keinerlei
Vorurteile gegen Juden haben, ja die jüdische Kultur hoch
schätzen, die sich sehr wohl der Erinnerung der den Juden
angetanen Verbrechen verpflichtet fühlen und sich als
Deutsche keineswegs von Verbrechen und der Schande der
Vergangenheit freisprechen wollen, sich aber zu Recht
weigern, einen von außen aufgezwungenen Erinnerungskult und
die kolonialistische Politik Israels zu akzeptieren. Auch
sie laufen Gefahr, als "Antisemiten" stigmatisiert zu
werden, wenn sie sich in ihrer Israel-Kritik auf die
Menschenrechte, das Völkerrecht oder UNO-Resolutionen
berufen.
Die
Argumentation, jede Kritik an Israels Politik sei
antisemitisch, ist aus mehreren Gründen zweifelhaft, ja
unsinnig:
1. Israel
wird ganz allgemein mit dem Judentum gleichgesetzt.
Die Einheit und Geschlossenheit des Judentums, wie sie auch
dem Zionismus-Begründer Theodor Herzl noch vorschwebte, gibt
es aber nicht. Viele Juden außerhalb Israels haben keine
Beziehung zu diesem Staat und lehnen seine Politik gegenüber
den Palästinensern entschieden ab.
2. Dieses
Argument setzt voraus, dass jede Kritik an Israel und seiner
Politik völlig unbegründet ist, dass es an Israels Vorgehen
nichts zu bemängeln gibt, dass der Hass auf diesen Staat -
etwa im arabischen Raum - keinerlei Ursache hat. Aber
Israels Vorgehen ist sehr wohl kritikwürdig - aus
moralisch-ethischen sowie menschen- und völkerrechtlichen
Gründen.
3. folgt aus
dem Argument der Zionisten und Israel-Freunde: Alle
Menschen, die das Völkerrecht und die Menschenrechte
akzeptieren, sich für ihre Einhaltung einsetzen und deshalb
Israel kritisieren, sind automatisch "Antisemiten". Was
natürlich völlig unsinnig ist. Verteidiger Israels betonen
immer wieder, dass dieser Staat die einzige Demokratie im
Nahen Osten sei. Demokratien gehen aber in der Regel
souveräner mit Kritik um und stigmatisieren ihre Kritiker
nicht gleich mit vernichtenden Diskriminierungen. An dieser
Stelle wird dann angeführt, Israel müsse in seiner bedrohten
Lage aus Sicherheitsgründen so reagieren. Bedrohung? Israel
besitzt die viertstärkste Armee, ist der viertstärkste
Waffenexporteur der Welt und hat die Supermacht USA hinter
sich. Wer könnte diesen Staat bedrohen? Er bedroht sich nur
selbst durch seine selbstzerstörerische Politik.
Bei der
ganzen Antisemitismus-Diskussion geht es also meistens gar
nicht um die Entlarvung und Bekämpfung dieser Seuche, die ja
unbedingt angebracht und nötig wäre, sondern um die sehr
aggressive Vertretung handfester politischer Interessen. Der
israelische Historiker Moshe Zuckermann hat es so
ausgedrückt: Der permanente Antisemitismus-Vorwurf, der auch
da erhoben werde, wo er gar nichts zu suchen habe, sei
"demokratiepolitisch eine gefährliche Entwicklung". Er meint
damit etwa die sich häufenden Auftritts- und
Diskussionsverbote für kritische jüdische Intellektuelle in
Deutschland. Er fügt hinzu: "Der Vorwurf des Antisemitismus
dient israelischen Lobbies als Instrument, ihre Gegner
mundtot zu machen und notwenige Debatten im Keim zu
ersticken." Die Epidemie des Antisemitismus-Vorwurfs sei zum
Totschlag-Ideologem eines durch und durch fremdbestimmten
Anspruchs auf politisch-moralische Gutmenschlichkeit
geronnen.
Darf man als
Deutscher also Israel und seine Politik kritisieren? Man
darf es nicht nur, man muss es sogar - das verlangt die
Verantwortung, die sich aus unserer furchtbaren Geschichte
ergibt. Diese Verantwortung bezieht sich nicht nur auf
Israel, sondern auch auf die Palästinenser, die ein
indirektes Opfer des Holocaust sind. Uns Deutschen fehlen
ganz offensichtlich noch immer der Mut oder die
Sensibilität, die Dinge beim Namen zu nennen. Juden oder
Israelis drücken viel besser aus, was wir eigentlich sagen
müssten wie die folgenden Sätze, die der israelische
Literaturkritiker Ran Hacohen formuliert hat: "Der
Missbrauch von angeblichem Antisemitismus ist moralisch
verabscheuungswürdig. Es waren Hunderte von Jahren nötig und
Millionen von Opfern, um Antisemitismus - eine spezielle
Form des Rassismus, der historisch zum Genozid führte - in
ein Tabu zu verwandeln. Menschen, die dieses Tabu
missbrauchen, um Israels rassistische und und genozidale
Politik gegenüber den Palästinensern zu unterstützen, tun
nichts anderes, als die Erinnerung an jene jüdischen Opfer
zu schänden, deren Tod aus humanistischer Perspektive nur
insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an die
Menschheit ist vor jeder Art von Diskriminierung, Rassismus
und Genozid."
Die von
Zuckermann als "Gutmenschen" bezeichneten diesem Staat
gegenüber kritiklosen Israel-Freunde, die sich ihrer
moralischen Überlegenheit so sicher sind und ihre Gegner so
leicht als "Antisemiten" angehen, sollten vorsichtig sein,
weil ihre Argumentation sehr kurzsichtig ist. Sie drücken
mit ihrem Engagement lediglich eine sehr deutsche
Befindlichkeit aus, steuern zu Lösung des Nahost-Problems
aber nichts bei. Der deutsch-jüdische Philosophie-Professor
Ernst Tugendhat hat ihnen dieser Tage Bemerkenswertes ins
Stammbuch geschrieben. Anlässlich einer Ausstellung in
Berlin zum palästinensischen Flüchtlingsproblem sagte er:
"Es gibt in Deutschland immer noch die weit verbreitete
Meinung, dass Kritik an Israel oder überhaupt an Juden einem
Deutschen nicht anstehe. Vielleicht war diese Haltung in den
ersten Nachkriegsjahren verständlich, heute ist sie es nicht
mehr. Wenn man es sich verbietet, bestimmte Menschen oder
eine Nation kritisieren zu dürfen, gewinnt man ein unfreies
Verhältnis zu ihnen, man wickelt sie gewissermaßen in Watte.
In
Wirklichkeit lässt sich Kritik von Antisemitismus klar
unterscheiden. Antisemit ist, wer Juden schon als solche,
einfach weil sie Juden sind, für schlecht hält. Wer hingegen
Juden, nur weil sie Juden sind, für gut, für nicht
kritisierbar erklärt, ist, was man einen Philosemiten
bezeichnen kann. Es ist leicht zu sehen, dass der
Philosemitismus in der Befürchtung gründet, als Antisemit zu
erscheinen und also im Antisemitismus seinen Grund hat. Man
kann sich vom Antisemitismus nicht befreien, indem man Juden
für nicht kritisierbar erklärt, sondern nur, indem man sich
zu ihnen wie zu normalen Menschen verhält, die wie alle
Menschen je nach den Umständen, in dem, was sie tun,
kritisiert oder gelobt werden können. Man darf Gut und
Schlecht nicht substanzialisieren: nicht Personen und Völker
sind an und für sich gut oder schlecht, sondern gut oder
schlecht sind ihre Handlungen. Ein und dieselbe Person kann
einmal gut und ein anderes Mal schlecht handeln, einmal im
Recht und einmal im Unrecht sein, oder auch einmal Opfer und
ein anderes Mal Täter. Das sind Trivialitäten, aber in
Deutschland besteht ein Aufholbedarf, um aus dem Gespinst
von Antisemitismus und Philosemitismus herauszukommen."
Dem ist
nichts hinzuzufügen. Worüber streitet die Linke eigentlich?
Arn
Strohmeyer - Mitglied im "Bremer Netzwerk
für seinen gerechten Frieden im Nahen Osten" und im
"Friedensforum"