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Die Erinnerung an
die Vergangenheit
kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen,
und die etablierte Gesellschaft
scheint die subversiven Inhalte
des Gedächtnisses zu fürchten.
Herbert Marcuse |
Ein
Weihnachtswunsch: Dass die Mythen, die sich um das „Heilige
Land“ ranken entzaubert werden und Frieden so möglich wird
Arn Strohmeyer
Der Dalai Lama, der Oberhaupt des tibetischen Buddhismus,
hat kürzlich eine erstaunliche Bemerkung gemacht: Der
Zustand der Welt wäre wohl besser, wenn es die Religionen
nicht gäbe. Wie recht er hat! Man kann die Mythen hier mit
einschließen, denn sie hängen eng mit der Religion zusammen.
Religion und Mythen gehen immer Hand in Hand. Palästina, das
sogenannte „Heilige Land“, hat drei große Weltreligionen
hervorgebracht: das Judentum, das Christentum und den Islam.
Diese drei Religionen berufen sich auf den mythischen
Stammvater Abraham und erheben alle denselben Anspruch: im
Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Dieser Anspruch
allein hat eine rigide Intoleranz zur Folge gehabt und hat
unendliches Leid über die Menschen gebracht und Ströme von
Blut fließen lassen: durch Missions- und Eroberungskriege,
Zwangsbekehrungen, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse,
Kolonialismus und und ...
Ein Beispiel aus dem Christentum. Es sei hier an ein
historisches Ereignis mit religiösem Hintergrund erinnert.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in Europa
herumgesprochen, dass die christlichen spanischen Eroberer
in Mittel- und Südamerika bei der „Entdeckung“ und Eroberung
dieser Regionen furchtbare Verbrechen an den dort lebenden
indigenen Völkern begangen hatten. Im Einvernehmen mit Papst
Julius III. beschloss Kaiser Karl V., eine große Konferenz
in der spanischen Stadt Valladolid abzuhalten, um über die
folgenden Fragen zu debattieren: Gehören die jüngst
entdeckten Völker zum Menschengeschlecht oder nicht? Sind
sie im Erlösungsplan Christi vorgesehen? Sind sie Geschöpfe
des lebendigen Gottes oder eine kaum noch menschliche
Unterart der Menschheit? Haben Indianer eine Seele? Ist
Christus auch für sie gestorben?
Die Versammlung trat im Jahr 1550 in der spanischen Stadt
zusammen – unter ihnen die berühmtesten Theologen der
damaligen Zeit: der Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der
die Indianer als „Menschen mit einer Seele“ verteidigte, und
Juan Ginés de Sepulvéda, der die These vertrat, dass die neu
entdeckten Völker „Untermenschen“ seien, also Wesen, die das
Wort „Mensch“ nicht verdienten. Da für Kaiser und Kirche
auch beträchtliche wirtschaftliche Interessen in Amerika auf
dem Spiel standen, war klar, wie die Entscheidung der
Versammlung lauten würde: Bei den indigenen Völkern handelt
es sich nicht um Menschen, sie sind keine Kinder Gottes und
nicht Teil des göttlichen Erlösungsplanes. (Quelle: Jean
Ziegler: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker
gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren)
Das ist der religiöse Ausgangspunkt des westlichen
Kolonialismus, die „Weißen“ haben die menschenverachtende
Philosophie, die in Valladolid beschlossen wurde, in den
folgenden Jahrhunderten getreu befolgt und brutal in die Tat
umgesetzt: in Amerika, Australien, in Afrika und in Asien.
Der Beschluss von Valladolid war sozusagen die theologische
Rechtfertigung für das kolonialistische Vorgehen. Ein Rest
davon ist auch noch im Zionismus enthalten, der im 19.
Jahrhundert in der Hochzeit des Kolonialismus entstand und
Elemente des europäischen Nationalismus und Kolonialismus in
sich trägt, weshalb Abraham Melzer sagen kann: „Der
Zionismus ist eine anachronistische Weltanschauung und
gehört auf den Kehrhaufen der Geschichte.“
Der Zionismus lebt, obwohl er selbst säkular ist,
vornehmlich von religiösen Mythen – alten wie neuen: Dass
Gott den Juden das Land Palästina bzw. Erez Israel
(Groß-Israel) geschenkt hat; dass es dort einst ein großes
und mächtiges jüdisches Reich gegeben habe; dass die Juden
nach der Zerstörung des Tempels 70 n.u.Z. durch die Römer
vertrieben und in alle Welt ins Exil zerstreut worden seien;
dass sie immer den Wunsch hatten, in die alte Heimat
zurückzukehren und dies dann auch im Zuge der zionistischen
Bewegung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wirklich taten;
dass Palästina bei ihrer Ankunft „leer“ und „öde“ gewesen
sei und dass das Land nur darauf gewartet hätte, von den
Rückkehrern urbar gemacht zu werden und die Wüste nun zum
Blühen gebracht werden sollte. Die Zionisten nannten das die
„Befreiung“ und „Erlösung“ des Landes.
Es kommen die modernen Mythen hinzu: dass die Palästinenser,
die es dort entgegen den zionistischen Behauptungen doch
gab, 1947/48 das Land „freiwillig“ verlassen hätten; dass
Israel das Westjordanland 1967 zu Recht erobert hätte, weil
es das alte Judäa und Samaria der Bibel sei; dass die
Israelis stets zum Frieden bereit gewesen seien und den
Arabern immer die Hand zur Versöhnung ausgestreckt hätten;
dass die Juden die „ewigen Opfer“ und die „anderen“, die
Palästinenser, die „Täter“, „Terroristen“ und die „neuen
Nazis“ seien. All dies sind Propaganda-Mythen, die zum Teil
einen religiösen Hintergrund haben und das israelische
Narrativ ausmachen. Israelische Historiker wie Benny Morris,
Ilan Pappe, Avi Shlaim, Israel Shahak, Simcha Flapan und
Shlomo Sand, um nur einige zu nennen, haben sie längst
widerlegt. Dennoch bilden diese Mythen immer noch den
weltanschaulichen und politischen Grund, auf dem der Staat
Israel beruht.
Ohne diese Mythen ginge es Israel wie im Märchen dem „Kaiser
mit den neuen Kleidern“, es stände ziemlich nackt da. Und
weil das so ist, behauptete schon der Zionistenführer und
erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, dass
starker Glaube an den Mythos ihn in historische Wahrheit
verwandeln könne. Die historische und politische
Wirklichkeit heute ist aber eine ganz andere. Israels ist
ein Erbe des Kolonialismus – ihm verdankt es seine
Entstehung (der Hilfe der imperialistischen Mächte England,
Frankreich und den USA) und es ist bis heute ein
siedlerkolonialistischer Staat in dem Sinne, wie Petra Wild
ihn definiert hat: „Der reine Siedlerkolonialismus, für den
Israel ein Beispiel ist, strebt danach, die einheimische
Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung
vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter
nach vorne verschoben und die einheimische Bevölkerung wird
auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr
Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung
freizumachen. Charakteristisch für siedlerkolonialistische
Gebilde sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter
Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das
Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“
Damit sind die Geschichte und die gegenwärtige Politik
Israels mit all ihrer Gewalt und ihrer Menschenverachtung
gegenüber den Palästinensern genau beschrieben. Wie verzerrt
und irreal im Sinne des eigenen selbstherrlichen Mythos das
Bild ist, das die Israelis von sich selbst haben, hat die
israelische Psychoanalytikerin Ruchana Marton am Beispiel
der Mauer beschrieben. Sie nennt dieses von Israel gebaute
Monstrum zu den Palästinensergebieten eine „metaphorische
Blende“, deren Sinn und Funktion es ist, die „Existenz des
palästinensischen Volkes insgesamt auszublenden“. Sie
begründet das so: „Von einer psychologischen Warte aus
ermöglicht diese Blende es den jüdischen Israelis, das Leid
und die Menschlichkeit der Bewohner auf der anderen Seite zu
vergessen. (...) Ein brauchbarer Ansatz, einige der
psychologischen Mechanismen zu verstehen, die mit der Mauer
zu tun haben, ist das Prinzip der Spaltung. Es lässt zwei
Extreme zu, die Welt ist in ‚gut‘ und ‚böse‘ gespalten, ohne
ein Mittleres. Spaltung ist der primitivste
Abwehrmechanismus, auftretend bei übergroßer Verängstigung
und einem Bedürfnis, unerträglich starke positive und
negative Emotionen voneinander zu trennen. Ironischerweise
fordert diese begriffliche Verarbeitung laufend psychische
Energie und ist als Langzeitlösung nicht sehr effektiv, denn
die Ängste werden eher blockiert als erforscht, verarbeitet
und schließlich abgebaut.“
Weiter schreibt Ruchama Marton: „Indem man sowohl die
äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen
Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die
ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘, d.h.
die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die
projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun
dem ‚Anderen‘ angehören. Die Trennmauer wird so
ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als
Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den
Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem
zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als
aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als
Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese
Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert
werden.“
Die Mauer ist also nicht nur eine physische Barriere, sie
trennt auch – in den Augen der Israelis – das
fortschrittliche, zivilisierte und demokratische Israel von
den rückständigen, barbarischen und gewalttätigen
Palästinensern. Die Mauer erlaubt es den Israelis, diese
‚Anderen“, die vor allem als Terroristen wahrgenommen
werden, ohne Empathie und Miterleben des menschliche Leids
auszublenden. Ruchama Marton schreibt: „Sie [die Mauer] ist
undurchsichtig, um den Blick auf das Elend und Leid auf der
anderen Seite zu verhindern. Wäre sie durchsichtig, könnten
wir tatsächlich das beunruhigende Leid der Menschen auf der
anderen Seite sehen. Sie ist hässlich – denn sie soll die
Illusion stützen, auf der anderen Seite lebe ein böses, ein
hässliches Monster und keine normalen Menschen. Die
palästinensische Existenz jenseits gilt als minderwertig,
hässlich, schmutzig, gewalttätig und gefährlich.“ Durch
diese Abschottung und die Verweigerung des Blicks auf die
andere Seite stumpfen die Israelis aber ab, denn sie
verdrängen ja einen Teil ihrer eigenen Psyche, die sie nicht
mehr wahrnehmen. Das Getto kommt so wieder und mauert auch
die Israelis ein.
Das Selbstbild, das sich die Israelis in Bezug auf die
Palästinenser machen, hat also wenig mit der Realität zu tun
– man kann es in seiner heroischen Selbsterhöhung auch als
eher dem Reich des Mythos angehörig bezeichnen. Aber solche
Mythen sind sehr gefährlich, wie gefährlich hat der
israelische Historiker und Publizist Simcha Flapan für sein
Land schon vor Jahrzehnten formuliert: Es gilt, „die
propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so lange
verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des
Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die den
Intellektuellen und den Freunden beider Völker [Israelis und
Palästinensern, d.Verf.] zufällt, besteht nicht darin,
Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen des
Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu
tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise
schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu
sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu
schaffen.“ Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die Klischees
und die falschen Mythen ihren Platz im Denken behaupten, ist
die Katastrophe unausweichlich.“
Gemessen an diesem Kriterium steht es nicht gut um das
„Heilige Land“ und seine Zukunft. Denn es ist klar: Ohne
Abschied von den Mythen ist eine Annäherung zwischen
Israelis und Palästinensern unmöglich. Dazu würde vor allem
die Erkenntnis gehören, dass Gott (welcher auch immer) den
Juden dieses Land nicht geschenkt hat, sondern dass heute
dort zwei Völker leben, die ein gerechten und friedlichen
Ausgleich miteinander finden müssen. Israel ist der
Kolonist, Besatzer und Unterdrücker, deshalb trägt dieser
Staat die Hauptlast der Verantwortung für eine Lösung des
Konflikts – und man kann nachfühlen, dass es eine gewaltige
Aufgabe ist, sich von den Mythen, die bisher seine Identität
ausgemacht haben, zu trennen. Das ist deshalb so schwer,
weil es hier um das Selbstverständnis des Zionismus geht –
vor allem was das Jahr 1948 angeht, in dem die Nakba (die
gewaltsame Vertreibung der Palästinenser) stattfand.
Über den Mythos, dass die Palästinenser ihre Heimat
„freiwillig“ verlassen hätten, schreibt Simcha Flapan: „Der
Mythos vom freiwilligen Auszug der Palästinenser als Antwort
auf ‚Weisungen von oben‘ hat sich mit erstaunlicher
Zähigkeit gehalten. Rückblickend kann man erkennen, dass der
Mythos das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass man den
Palästinensern ihr Recht auf Unabhängigkeit und
Eigenstaatlichkeit verweigert hatte, ein Prinzip, das die
zionistische Politik von Anfang an geleitet hatte.“
Weiter schreibt Flapan: „Wenn der Mythos anfänglich auch
politisch war, wurde er bald zu einem wichtigen Pfeiler des
Selbstverständnisses des neugegründeten Staates. Zunächst
einmal ließen sich damit die Spuren der unschönen Methoden
tilgen, die die israelischen Sieger angewandt hatten – von
der Beschlagnahme von Lebensmitteln, Rohstoffen,
Medikamenten und Grundstücken bis zu Akten des Terrors,
Einschüchterung und Panikmache und schließlich bis zur
gewaltsamen Vertreibung – , und auf diese Weise die
Schuldgefühle ersticken, die in vielen Teilen der
Gesellschaft, namentlich in der jüngeren Generation,
vorhanden waren. Viele derer, die Schuldgefühle empfanden,
wirkten an den Operationen mit, die die Flucht der Araber
auslösten. Sie befolgten selbst die Weisung, ganze Dörfer zu
zerstören, Männer, Frauen und Kinder aus ihren Häusern zu
treiben und sie in eine ungewisse Zukunft jenseits der
Grenzen zu schicken. Viele von ihnen nahmen an Aktionen
teil, bei denen alle arbeits- und wehrfähigen Männer eines
Dorfes zusammengetrieben und dann zur Deportation in
Lastwagen gepfercht wurden. Es war für sie nicht leicht, ihr
revoltierendes Gewissen zu beruhigen.“
Und weiter: „Aber der Mythos bewährte sich nicht nur bei der
Verdrängung der Schuldgefühle, sondern auch als wirksame
Waffe der politischen Kriegführung. Er wurde zur
Untermauerung der uralten zionistischen These verwandt, die
Palästinenser seien kein Volk mit legitimen nationalen
Bestrebungen und Rechten, sondern einfach ein Teil des
arabischen Volkes, den man nach Belieben in irgendwelche
bewohnbaren Regionen des ausgedehnten arabischen
Lebensraumes abschieben könne.“
Die Folgen der Nakba 1948 auf die heutige Politik Israels
hat Ilan Pappe beschrieben, wobei er zunächst auf eine
mögliche Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, die
seit Jahrzehnten in Lagern in arabischen Staaten ein elendes
Dasein fristen müssen, eingeht: „Hinter diesen drakonischen
Maßnahmen der israelischen Regierung, jedes Gespräch über
das Rückehrrecht zu verhindern, steht eine tief sitzende
Angst vor einer Debatte über die Ereignisse von 1948, da
Israels ‚Behandlung‘ der Palästinenser in jener Zeit
zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen
Legitimität des gesamten zionistischen Projekts aufwerfen
würde. Für Israelis ist es daher von entscheidender
Bedeutung, einen starken Verleumdungsmechanismus
aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft, die von den
Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten
Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede
eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen
Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.“
Pappe geht dann auf den zionistischen Gründungsmythos ein:
„Die Palästinenser als Opfer israelischer Taten anzuerkennen
ist für die Israelis in mindestens zweierlei Hinsicht
zutiefst beunruhigend. Da eine solche Anerkennung bedeutet,
sich dem historischen Unrecht zu stellen, das Israel mit der
ethnischen Säuberung Palästinas 1948 begangen hat, stellt
sie die Gründungsmythen des Staates Israel in Frage und
wirft eine Fülle ethischer Fragen auf, die unausweichliche
Folgen für die Zukunft des Staates haben. (...) Die
Palästinenser als Opfer anzuerkennen ist mit tief
verwurzelten Ängsten verknüpft, da es von den Israelis
verlangt, ihre Wahrnehmung der ‚Vorgänge‘ von 1948 in Frage
zu stellen. Aus Sicht der meisten Israelis – und nach der
Darstellung, die die israelische Mainstream- und
Propagandageschichtsschreibung immer wieder verbreitet –
konnte Israel sich 1948 als unabhängiger Nationalstaat auf
einem Teil des Mandatsgebietes Palästina etablieren, weil es
den frühen Zionisten gelungen war, ‚ein leeres Land zu
besiedeln‘ und ‚die Wüste erblühen zu lassen‘.“
Und weiter: „Die Unfähigkeit der Israelis, das Trauma
anzuerkennen, das die Palästinenser erlitten haben, tritt
noch schärfer hervor, wenn man sie mit der nationalen
Schilderung der Nakba als traumatische Erfahrung
kontrastiert, mit der sie bis heute leben. Hätte der
‚natürliche‘, ‚normale‘ Ausgang eines langen, blutigen
Konflikts die Palästinenser zu Opfern gemacht, hätte Israel
nicht so große Angst, der anderen Seite den Opferstatus
zuzugestehen: Beide Seiten wären ‚Opfer der Umstände‘ – an
dieser Stelle lässt sich aber auch jeder andere schwammige,
unverbindliche Begriff einsetzen, der Menschen, vor allem
Politikern, aber auch Historikern dazu dient, sich von der
moralischen Verantwortung freizusprechen, die sie sonst
tragen würden.“
Und Pappe schließt: „Aber was die Palästinenser verlangen
und was für viele von ihnen zu einer Conditio sine qua
non wurde, ist, dass man sie als Opfer eines
fortdauernden Unrechts anerkennt, das Israel bewusst an
ihnen begangen hat. Das zu akzeptieren würde natürlich für
israelische Juden ihren eigenen Opferstatus beschädigen. Es
hätte politische Auswirkungen auf internationaler Ebene,
würde aber auch – was vielleicht entscheidender wäre –
moralische und existenzielle Auswirkungen auf die Psyche
israelischer Juden zeitigen: Sie müssten sich eingestehen,
dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraums
geworden sind.“
Wie recht Ilan Pappe damit hat, dass Erinnern für eine
etablierte Gesellschaft gefährlich sein kann, macht die
aktuelle israelische Politik deutlich: Das israelische
Parlament – die Knesset – hat im März 2011 ein Gesetz
verabschiedet, das das Gedenken an die Nakba verbietet. Das
Gesetz stellt öffentliche Gedenkfeiern unter Strafe, die an
die Vertreibung der Palästinenser erinnern. Das heißt:
Palästinensische Organisationen oder israelische
Menschenrechtsgruppen riskieren hohe Geldstrafen, wenn sie
das Schicksal der Palästinenser 1948 zum Thema machen. Der
Mythos von der zionistischen Unschuld muss also mit allen
Mitteln aufrecht erhalten werden. Man sieht, eine wie
wichtige Rolle Mythen im israelischen Selbstverständnis
spielen. Aber sie sind das erste große Hindernis, das auf
dem Weg zum Frieden überwunden werden muss. Ohne eine
Entmythologisierung dieser selbst gestrickten
Propaganda-Legenden kann es keinen Ausweg aus dem Konflikt
mit den Palästinensern geben. Die Situation erinnert an das
alte China. Als der Weise Konfuzius in einem kriegerischen
Konflikt vermitteln sollte, sagte er: „Um zueinander zu
finden, müssen wir erst einmal die Begriffe ordnen und uns
darüber einigen.“
20.12.2015
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