Für die
Umsetzung der Ziele des Zionismus ist jedes Mittel recht
Tom Segevs
eindrucksvolle Ben Gurion-Biographie schildert die Entstehung
und frühen Jahre des Staates Israel ohne Tabus
Arn
Strohmeyer
Der
israelische Historiker Tom Segev hat – pünktlich zur 70.
Wiederkehr der Gründung des Staates Israel – eine Biographie
über den „Vater der Nation“ David Ben Gurion herausgebracht, ein
voluminöses Werk von 800 Seiten. Segev hat schon mit früheren
Veröffentlichungen bewiesen, dass er keine zionistischen Tabus
kennt, und das macht seine Bücher so informativ und lesenswert.
Die Ergebnisse seiner Recherchen sind denn auch für den Staat
Israel wenig schmeichelhaft, und gerade deutsche Leser, die sich
– wohl aus den Schuldgefühlen wegen der NS-Verbrechen an den
Juden heraus – ein sehr ideales und unrealistisches Bild von
diesem Staat machen, werden hier auf den Boden der harten und
oft brutalen Tatsachen zurückgeworfen.
Dabei hat
Segev zum Gegenstand seiner Untersuchung – eben der historischen
Gestalt Ben Gurions – ein durchaus ambivalentes Verhältnis. Er
bewundert ihn einerseits, wie er geradezu aus dem Nichts heraus
„seinen Staat“ geschaffen hat, verschweigt aber andererseits
auch nicht, dass die Methoden und das Vorgehen Ben Gurions und
der zionistischen Bewegung mehr als zweifelhaft waren. Man kann
sie auch als äußerst skrupellos bezeichnen, denn immer das Ziel
vor Augen – die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates in
einem von einem anderen Volk bewohnten Land – war buchstäblich
jedes Mittel recht, zu diesem Ziel zu gelangen.
Es ist für
den deutschen Betrachter, der diesen historischen Prozess aus
der Distanz in Tom Segevs Buch miterlebt, unmöglich, die
Bewunderung des Lebenswerkes dieses israelischen Politikers zu
teilen. Man kann bei der Lektüre des Buches den Zwiespalt nicht
überwinden, dass die Juden natürlich wie jedes andere Volk das
Recht zur politischen Selbstbestimmung und zur Gründung eines
Nationalstaates haben, dass diese Nationwerdung im Fall Israels
aber nur auf einem furchtbaren Unrecht, ja einem Verbrechen
gegen die Menschlichkeit (der israelische Historiker Ilan Pappe)
möglich war – der Vertreibung, Enteignung und Unterdrückung des
palästinensischen Volkes. Und die Gewalt und das Unrecht dauern
bis heute an. Dieser schändliche Makel haftet dem Staat Israel
an, der ihn leugnet und auch gar nicht gewillt ist, ihn mit
einer Politik des Ausgleichs und der Versöhnung zu tilgen – und
Tom Segev schildert detailgenau und ausführlich, wie es dazu
gekommen ist.
Schon als
Kind und als Jüngling in Polen war Ben Gurion ein begeisterter
Anhänger des Zionismus, ständig ist von seiner Sehnsucht nach „Erez
Israel“, dem „Land der Väter“ oder dem „Land der Auferstehung“
die Rede, das Wort Palästina kommt bei ihm kaum vor, und die
Menschen, die dort seit Jahrhunderten, wenn nicht seit
Jahrtausenden leben (eben die Palästinenser) und dort ihre
Heimat haben, erwähnt er überhaupt nicht. Es gibt sie in seiner
zionistisch-kolonialistischen Sicht nicht, das Land seiner
Sehnsucht ist – symbolisch gesehen, nicht in der Realität –
offenbar „menschenleer“.
Schon in
dieser Zeit tritt an Ben Gurion einer der markantesten
Wesenszüge des Zionismus deutlich zu Tage: sein
weltanschaulicher Partikularismus, der sich aus einem radikalen
säkularen jüdischen Nationalismus nährt und jeden Universalismus
(also die Anerkennung von Menschenrechten und Völkerrecht)
vehement ablehnt. Eine Haltung, die die israelische Politik bis
heute prägt. Ben Gurion war geradezu besessen von der
zionistischen Idee, ihr hatte sich Zeit seines Lebens alles
Andere unterzuordnen, auch der Sozialismus, er war ja
schließlich der Führer einer Arbeiterpartei. Aus dieser
Besessenheit resultierte alles: der Wille, ganz Palästina sowie
Land darüber hinaus – etwa Transjordanien (das heutige
Jordanien), Teile des Libanon sowie die Sinai-Halbinsel mit
militärischer Gewalt in zionistischen Besitz zu bringen.
An
territoriale Kompromisse mit den Palästinensern oder den
arabischen Nachbarstaaten war dabei nicht gedacht. Die
Verachtung der Araber war und ist zu groß, um mit ihnen auf
Augenhöhe gleichberechtigte Verhandlungen zu führen, man fühlt
sich ihnen gegenüber auf einer höheren Kulturstufe. Schloss man
Abkommen mit ihnen oder mit der damaligen Mandatsmacht
Großbritannien, waren das immer nur „Zwischenstufen“, das
Endziel – die Herrschaft über das ganz „Erez Israel“ – verlor
Ben Gurion dabei nie aus den Augen. Den Anspruch auf das ganze
Land leiteten der nicht-gläubige Zionistenführer und seine
säkulare Bewegung aus dem biblischen „Wort Gottes“ ab, der den
Juden das Land „geschenkt“ habe. Dass es nach 2000 Jahren keinen
Anspruch mehr auf irgendetwas geben kann und dass die Mythen und
Legenden des Alten Testaments völkerrechtlich für die Gegenwart
ohne Bedeutung sind, solche Argumente haben für den Zionismus
keinerlei Bedeutung – genauso wie der völkerrechtlich verbürgte
Anspruch der Palästinenser auf Selbstbestimmung und
Souveränität.
Palästina ist
in den Augen der Zionisten das „Heimatland“, und das Recht auf
„Rückkehr“ dorthin ist das oberste und unfehlbare zionistische
Dogma. Genau dieser Anspruch auf das arabische Palästina und die
sich daraus ergebenden siedlerkolonialistischen Konsequenzen
machen bis heute den Kern des Nahost-Konfliktes aus, und Ben
Gurion trägt als „Vater der Nation“ maßgeblich die Verantwortung
für diese offenbar unlösbare Konfrontation. Dass der Preis für
das zionistische Unternehmen unendlich hoch war und ist –
jüdische wie arabische Menschenleben – spielte keine Rolle, wenn
man dem geheiligten Ziel der Schaffung eines jüdischen Staates
nur ein Stück näherkam. Ben Gurion hatte kein Problem damit,
ganz im Gegenteil. Selbst als der Zweite Weltkrieg und der
Holocaust in Europa in vollem Gange waren, dachte er nur daran,
wie er für seine zionistischen Ziele Vorteile daraus ziehen
konnte.
Ben Gurions
Biographie und damit auch die Geschichte des Zionismus haben
viele dunkle Kapitel, was auch nicht verwundert, wenn man
bedenkt, dass das zionistische Aufbauwerk absolute Priorität
genoss, und alle anderen Themen dahinter zurückzustehen hatten.
Das zeigte sich schon nach dem Machtantritt der Nazis 1933, als
der jüdische Flüchtlingsstrom nach Palästina immer mehr
anschwoll. Die Zionisten, die dringend Menschen für ihr
Aufbauwerk brauchten, trafen aber eine darwinistisch anmutende
Auswahl, wer kommen durfte und wer nicht. Man „selektierte“ das
„Menschenmaterial“, wollte nur junge kräftige Juden und Jüdinnen
haben, keine Alten und Kranken, die man sogar wieder
zurückschickte. Ben Gurion begründete das so: „Erez Israel
braucht heute keine bloßen Immigranten, sondern Pioniere, und
der Unterschied ist einfach: Der Immigrant kommt, um sich etwas
vom Land zu holen, der Pionier kommt, um dem Land etwas zu
geben.“
Tom Segev war
schon in seinem Buch „Die siebte Million“ (damit sind die
Überlebenden des Holocaust gemeint) ausführlich auf das Thema
Judenvernichtung und Zionismus eingegangen. Vermutlich deshalb
behandelt er dieses Thema in seiner Ben Gurion-Biographie nur
kurz. Aber festzuhalten bleibt: Der Holocaust war in der
vorstaatlichen zionistischen Gesellschaft fast nur eine
Randbegebenheit. Man nahm ihn natürlich wahr und verfolgte auch
die Nachrichten, die aus Europa kamen, zeigte aber kaum größeres
Interesse für das schreckliche Geschehen in den
NS-Vernichtungslagern und unternahm kaum etwas zur Rettung der
bedrohten Juden. In den Zeitungen waren die Sportmeldungen oft
wichtiger und besser platziert als die Vorgänge in Auschwitz,
Maidanek und Treblinka. Das zionistische Aufbauwerk in „Erez
Israel“ hatte eben immer Vorrang.
Ben Gurions
Reden in dieser Zeit belegen, dass die Rettung der bedrohten
Juden in Europa nicht im Mittelpunkt seiner politischen
Aktivitäten stand. Seine Erklärungen und Aufrufe zur Rettung der
Juden waren eher rhetorischer Natur, immer wieder erklärte er,
dass nichts über die Rettung des hebräischen Volkes gehe, er
fühlte sich aber zu machtlos und schwach, um in dieser Sache
etwas unternehmen zu können. Berühmt geworden ist seine Äußerung
über die Rettung von jüdischen Kindern aus Deutschland: „Die
Forderung, Kinder aus Deutschland ins Land zu holen, entspringt
bei uns nicht nur dem Mitgefühl mit diesen Kindern. Wenn ich
wüsste, dass man alle Kinder Deutschlands durch ihre Verbringung
nach England retten könnte und nur die Hälfte durch ihre
Verbringung nach Erez Israel, würde ich das Zweite wählen, denn
wir haben nicht nur diese Kinder in Rechnung zu ziehen, sondern
die Geschichte des Volkes Israel.“ In einem Papier der
zionistischen Rettungskommission hieß es: Müsse man wählen
zwischen zehntausend Menschen, die dem Land und der Wiedergeburt
des Volkes nutzen könnten, und einer Million Juden, die nur zur
Last fallen würden, habe man die Zehntausend zu retten, trotz
aller Vorwürfe und Bitten von Seiten der Million.
Die Schuld
für den Holocaust gab Ben Gurion nicht in erster Linie den
Nazis, sondern den Juden der Diaspora selbst, denn sie seien in
ihren Heimatländern geblieben. Wären sie früh genug nach
Palästina gekommen, wäre ein jüdischer Staat schon in der 30er
Jahren entstanden und Millionen wären gerettet worden. An dieser
Stelle spricht Segev von einer „abwegigen Argumentation“, denn
Ben Gurion hätte keine faktisch fundierte Grundlage für die
Behauptung, dass Palästina bis zum Ende des Krieges die Mehrheit
dieser Millionen (später ermordeten) Juden hätte aufnehmen
können. Zudem: Diese jüdischen Menschen waren keineswegs alle
Zionisten, und niemand kann deshalb behaupten, dass sie willens
und bereit waren, nach Palästina auszuwandern.
Da Ben Gurion
die ganze Welt nur nach dem Maßstab des Nutzens oder Schadens
für den Zionismus sah, konnte er sogar dem Aufstieg der Nazis
und Hitlers durchaus Positives abgewinnen. Er schrieb: „Hitler
hat den Hebel geliefert. Die Sache der deutschen Juden kann
zweifellos sowohl politisch wie finanziell als mächtiger Hebel
zur Hebung des zionistischen Aufbauwerkes dienen.“ Dies ist ein
guter Beleg dafür, wie Antisemitismus und Zionismus
zusammenhängen und sich gegenseitig ergänzen. Hier irrte Ben
Gurion allerdings gründlich, später bezeichnete er den
Nationalsozialismus und den Holocaust als „Katastrophe für den
Zionismus“, ja als Verbrechen speziell gegen den Staat Israel
(den es noch gar nicht gab), weil Hitler dem Staat Israel schwer
geschadet habe. Denn die europäischen Juden wären als einzige
fähig und in der Lage gewesen, den Staat aufzubauen. In dieser
Aussage steckt auch eine scharfe Kritik an den orientalischen
Juden, die dann als Ersatz ins Land geholt wurden, die aber als
„primitiv“ und unzivilisiert galten und auch heute noch in
Israel diskriminiert werden.
Da das
zionistische Aufbauwerk immer im Zentrum von Ben Gurions Denken
stand, kann es nicht verwundern, dass er auch den Holocaust für
seine Zwecke instrumentalisierte. Schon zu Beginn der 40er
Jahre, als die Judenvernichtung noch in vollem Gange war,
meldete er Entschädigungsansprüche für die Ermordeten an. Später
reklamierte er das Monopol auf den „Opfervertretungsanspruch“
für den Zionismus, das heißt Israel wollte politisch und
ideologisch anerkannt wissen, dass es alle Opfer des Holocaust
vertreten könne. Trotz des minimalen Interesses der Zionisten am
Holocaust und trotz der minimalen Versuche, bedrohte Juden zu
retten, leitete Ben Gurion auch den Anspruch auf das arabische
Land Palästina aus dem Mega-Verbrechen der Nazis ab. Denn diese
Katastrophe ließ für ihn nur einen Schluss zu: „Die Stunde ist
reif für die historische Forderung des Volkes Israel – die
Gründung eines jüdischen Staates.“
Man muss an
dieser Stelle den Palästinenser Edward Said zu Wort kommen
lassen, der dieser Instrumentalisierung des Massenmordes an den
Juden zur Schaffung eines jüdischen Staates ganz entschieden
widersprach: „Wir [die Palästinenser] wohnten in einem Land, das
Palästina hieß; waren unsere Verluste und unsere Enteignung
[durch die Zionisten] – in deren Verlauf nahezu eine Million
Menschen Palästina verlassen musste und unser
Gesellschaftszusammenhang aufgelöst wurde – auch dann
gerechtfertigt, wenn es um die Rettung der europäischen Juden
ging, die dem Nationalsozialismus entkommen konnten? Auf Grund
welcher moralischen und politischen Norm wird von uns erwartet,
dass wir unser Anrecht auf unsere nationale Existenz, unsere
Forderungen nach Land und der Einlösung der Menschenrechte
beiseite fegen? In was für einer Welt leben wir denn, in der die
Argumente schweigen und einem ganzen Volk weisgemacht werden
soll, dass es juristisch nicht existent sei, wobei aber
gleichzeitig Armeen gegen eben dieses Volk ins Feld geführt,
Kampagnen gegen seine Namensgebung initiiert und historische
Fakten derart manipuliert werden, dass seine vermeintliche
weltgeschichtliche Abwesenheit ‚bewiesen‘ ist?“
Auch die
Gründe für den Gerichtsprozess gegen Adolf Eichmann gingen für
Ben Gurion über die Bestrafung dieses Massenmörders hinaus und
waren eine Instrumentalisierung des Holocaust. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte der Holocaust im Diskurs der israelischen
Gesellschaft kaum eine Rolle gespielt. Tom Segev merkt zu diesem
Punkt an: „Die Welle der Krawalle [orientalischer Juden gegen
ihre Diskriminierung in Israel zu dieser Zeit] bestärkte Ben
Gurion in seiner Erkenntnis, dass man die Israelis durch eine
formative, ergreifende und auch emotional verbindende Erfahrung
um eine gemeinsame Katastrophe und die daraus zu ziehenden
Lehren für die Nation einigen müsse. Abgesehen von der Wirkung
auf die israelische Gesellschaft sollte der Holocaust-Prozess
auch zur Rechtfertigung des Zionismus und zur Stärkung Israels
in der Welt beitragen.“
Auch die
Behandlung der Überlebenden des Holocaust war kein Ruhmesblatt
für den Zionismus. Israel wollte keineswegs alle diese
heimatlosen und geschundenen Menschen, die in Deutschland in den
DP-Lagern [Displaced Persons] saßen, aufnehmen, sondern wieder
nur das „Menschenmaterial“, das dem zionistischen Ideal des
Pioniers (des „starken und wehrhaften „neuen Juden“) entsprach
und politisch auf zionistischer Linie lag. Wieder wurde
„selektiert“, und die Überlebenden, die einwandern durften,
waren dann diskriminierte Außenseiter in der israelischen
Gesellschaft, die nicht einmal die vollständigen Beträge aus den
Entschädigungszahlungen bekamen, die ihnen zustanden. Man warf
ihnen vor, sich nicht gegen ihre Ermordung gewehrt zu haben und
sich „wie Schafe zur Schlachtbank“ hätten führen lassen.
In Israel
tobte zu Beginn der 50er Jahre ein erbitterter Streit um die
deutschen Wiedergutmachungszahlungen. Ein Großteil der
israelischen Politiker (vor allem im rechten Spektrum) lehnte
diese Zahlungen ab, Kontakt zu Deutschland galt als Vergehen an
den Opfern des Holocaust, an der Ehre des jüdischen Volkes und
am Staat Israel. Ben Gurion verteidigte die Zahlungen mit
Vehemenz. Auch hier standen für ihn wieder der Nutzen und die
Vorteile des zionistischen Projekts im Vordergrund seiner
Argumentation, denn „Geld stinkt nicht!“ pflegte er zu sagen.
Außerdem führte er das Sicherheitsargument an, mit der deutschen
Hilfe könne Israel seine militärische Stärke ausbauen. Auch hier
instrumentalisierte er wieder den Holocaust: „Wir wollen nicht,
dass arabische Nazis kommen und uns abschlachten!“ Auf der
anderen Seite neigte er dazu, den Holocaust zu verdrängen:
„Nicht dass wir die Tragödie und ihre Gefahr weniger achten,
aber wir befassen uns nicht angespannt mit den Dingen, die ‚uns
passiert sind‘, sondern mit den Dingen, die wir zu tun haben.
(…) Mir steht die ferne Vergangenheit, als wir in unserem Land
lebten [er meint hier die Antike] näher als die nahe
Vergangenheit.“
Nicht nur der
Streit um die deutschen Entschädigungszahlungen wurde in Israel
äußerst erbittert geführt. Wer zu der
verschwörungstheoretischen, antisemitischen These neigt, Juden
seien sich immer einig und hielten stets zusammen, wird in Tom
Segevs Buch eines Besseren belehrt. Schon in der vorstaatlichen
zionistischen Gesellschaft ging es in den politischen Debatten
drunter und drüber. Da wurde mit politischen und ideologischen
Positionen, mit Tricks und Intrigen, Diffamierungen und
Verleumdungen um Posten, Macht und Einfluss gekämpft, dass die
Fetzen nur so flogen. Aber auch im internationalen Judentum ging
es hoch her. So kam es 1942, um nur ein Beispiel zu nennen, zum
Zerwürfnis zwischen den beiden wichtigsten zionistischen Führern
Ben Gurion und Chaim Weizmann, der erste war damals Chef der
Jewish Agency (der vorstaatlichen Regierung) und der zweite
Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Es ging in dem
Streit um die Aufstellung einer jüdischen Armee mit britischer
Hilfe. Ben Gurion befürwortete das Projekt, Weizmann war
zurückhaltender.
Bei einem
Treffen am 27. Juni 1942, an dem auch andere hochrangige
Zionistenführer teilnahmen, beschuldigte Weizmann Ben Gurion,
„politischen Mord an ihm begehen zu wollen“ und nannte ihn einen
„Faschisten“. Außerdem warf er ihm vor, „moralisch verkümmert zu
sein“. Dann spielte sich folgender „Dialog“ ab: „Ben Gurion:
‚Hätten wir einen Staat, müssten wir Sie erschießen. Sie sind
ein Verräter!‘ Weizmann antwortete: ‚Und hätten wir eine Polizei
im Staat, müssten wir Sie ins Irrenhaus schicken!‘“ Tom Segev
kommentiert diese Szene: „Beide meinten das wörtlich, und es war
nicht Weizmanns schlimmste Aussage. Er verglich Ben Gurions
Vorwürfe mit den falschen Anschuldigungen, die Hitler und
Mussolini benutzten, ehe sie ihre Feinde bei einer ‚Säuberung‘
liquidierten.“
Da ähnliche
Konflikte und Streitereien zwischen zionistischen Führern an der
Tagesordnung waren, kann man daraus ersehen, wie schwer und
steinig Ben Gurions Weg an die Spitze war. Er marschierte
keineswegs charismatisch in die höchsten Positionen durch,
sondern musste immer wieder schwere Niederlagen hinnehmen, die
ihn zu permanenten Rücktritten veranlassten. Das letzte
personelle Drama spielte sich zwischen ihm und Levi Eschkol
[seinem Nachfolger im Ministerpräsidentenamt] ab. Über ihn
schrieb er: „Solange Eschkol Regierungschef ist, werden wir in
den Abgrund schlittern.“ Er überschüttete ihn mit Schimpf und
Schande, warf ihm Lügen, Korruption und Dummheit vor. Als
Eschkol starb, weigerte er sich, an dem Staatsbegräbnis für ihn
teilzunehmen.
Einig war man
sich aber in dem Hauptziel des Zionismus, das man auf die Formel
bringen kann: ein Maximum an Land ohne Palästinenser.
Geographisch formulierte Ben Gurion Segev zufolge die Grenzen
dieses Zieles so: „Im Norden schlossen sie das Hermon-Gebirge,
den Fluss Litani, die Quellen des Jarmuk und die Stadt Sidon
ein. Die Ostgrenze reichte weit über den Jordan hinaus, schloss
den Hauran [eine Landschaft im Südwesten Syriens, die sich nach
Süden bis an die jordanische Grenze erstreckt], war aber in der
östlichen Wüste nicht präzise eingezeichnet in der Annahme,
dieses Gebiet werde in dem Maße wachsen oder schrumpfen, in dem
‚die nationale Heimstätte‘ die Wüste würde erobern können. Im
Süden verlief die Grenze zwischen El Arisch und Eilat. Das war
die Landkarte des zionistischen Traums, ein Kompromiss zwischen
Groß- und Klein-Palästina‘, wie Ben Gurion sagte.“ Immer wieder
schwebte ihm auch die Aufteilung Jordaniens zwischen Israel und
dem Irak vor. Die Zionisten maßten sich also sehr früh an, den
Nahen Osten nach ihren Vorstellungen „neu zu ordnen“ – ein
Thema. Das bis heute allerhöchste Aktualität hat.
Da es klar
war, dass die Araber ihr Land und ihre Heimat nicht freiwillig
aufgeben würden, war der Zionismus von Anfang an auf gewaltsame
Eroberung für sein siedlerkolonialistisches Projekt
ausgerichtet. Dazu kam eine tiefe Verachtung der Araber, die man
nur rassistisch nennen kann. Araber waren für Ben Gurion
Menschen einer „minderen Stufe“, weshalb er auch Mischehen
zwischen Juden und Araber vehement ablehnte. Immer wieder
verglichen die Zionisten die Araber mit „Negern“, ja die Araber
seien den „Negern“ kulturell noch weit unterlegen.
Es verwundert
deshalb nicht, dass man diese Menschen loswerden wollte. Ben
Gurion war denn auch der maßgebliche Initiator der ethnischen
Säuberung Palästinas, die die Araber die Nakba (die Katastrophe)
nennen. Tom Segev schildert Ben Gurions Position zu dieser
Vertreibungsaktion so: „Er war völlig einverstanden mit der
Vertreibung der Araber – zwischen 500 000 und 600 000 seiner
Schätzung zufolge, an die 700 000 nach anderer Berechnung. Das
war der Preis der jüdischen Unabhängigkeit in ‚Erez Israel,
einem ‚zuvor besetzten Land‘, wie er sagte. ‚Krieg ist Krieg‘,
meinte er. Seine Kollegen unterstützen ihn darin. Einer
bezeichnete den Abzug der Araber als ein himmlisches Wunder, ein
anderer schwärmte sogar, die Landschaft ringsum sei viel schöner
ohne sie, und Lavi [ein führender zionistischer Politiker]
sagte: ‚Der Transfer von Arabern aus dem Land ist meines
Erachtens eines der gerechten, moralischen und richtigen Dinge,
die zu tun sind.‘ (…) Ben Gurion stimmte mit seinem Freund Ben
Zwi überein, der über die Zahl der in Israel verbliebenen
Araber, an die 100 000, besorgt war und erklärte: ‚Es gibt zu
viele Araber im Land.‘“
Im Plan Dalet
(D), der mit der Strategie der „aggressiven Verteidigung“
umgesetzt wurde, hatte man die Ziele und Mittel u.a. so
formuliert: „Zerstörung von Dörfern (Feuerlegung, Sprengung und
Verminung der Ruinen). Bei Widerstand sind die bewaffneten
Kräfte zu vernichten und die Bewohner über die Staatsgrenze zu
vertreiben.“ Das Ergebnis dieser ethnischen Säuberung ist
bekannt: Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer wurden
zwangsgeräumt, viele dem Erdboden gleichgemacht; 800 000
Menschen mussten fliehen. Es kam zu Massakern, Plünderungen und
Vergewaltigungen. Um die Flüchtlinge an der Rückkehr zu ihrem
Besitz zu hindern, wurde die Einheit 101 unter der Führung von
Ariel Sharon gegründet, die mit äußerster Brutalität gegen die „Infiltranten“
vorging.
Für all diese
Verbrechen trug Ben Gurion erst als Zionistenführer, später als
israelischer Ministerpräsident die volle Verantwortung –
übrigens auch für die Anschläge der jüdischen Terrorgruppen
gegen die britische Mandatsmacht und die Palästinenser, von
denen er wusste und die er billigte, von denen er sich später
aber distanzierte. Er bestritt aber stets, dass Araber zur
Flucht gezwungen worden seien, obwohl er es natürlich besser
wusste. Aber der Verantwortung für seine Taten wollte er sich
nicht stellen, er fürchtete wohl, dass sie seine Stellung in der
Geschichte gefährden könnten.
So machte er
andere – die palästinensischen Opfer selbst –für die Nakba
verantwortlich. Tom Segev schreibt: „Er lieferte auch selbst
eine Erklärung dafür: Die Flucht der Araber rühre daher, dass
die arabische Nationalbewegung auf keinem positiven Inhalt
aufbaue – weder kultureller noch ökonomischer noch sozialer Art.
Nichts als religiöser Fanatismus, Fremdenhass und Herrschsucht.
Mit einem solchen Inhalt könne ein Volk nicht kämpfen und für
ein solche Ziel wolle der Fellache sich nicht töten lassen.
‚Damit hat die Geschichte jetzt bewiesen, wer diesem Land
wirklich verbunden ist und für wen es nichts als ein Luxus ist,
auf den man leicht verzichten kann‘ meinte Ben Gurion.“
Zynischer geht es wohl kaum.
So ergibt
sich in Tom Segevs Biographie ein sehr widerspruchsvolles Bild
dieses zionistischen Politikers und „Vaters der Nation“. Segev
pendelt zwischen der Schwierigkeit hin und her, ihm einerseits
historische Größe nicht absprechen zu können, ihn aber wegen
seiner verbrecherischen Politik auch einer scharfen Kritik
unterziehen zu müssen. Es ist interessant, dass die Begriffe
Menschenrechte und Völkerrecht in seinem Text nicht vorkommen.
Er konfrontiert seinen Hauptdarsteller nicht mit dieser
zivilisatorischen Errungenschaft, deren Ausarbeitung vor allem
eine Folge der NS-Barbarei war und der richtige Maßstab wäre, um
Ben Gurions Wirken zu beurteilen. Dann wäre das Bild, das Segev
von Ben Gurion gezeichnet hat noch viel peinlicher geworden als
es ohnehin schon ist.
Das Judentum
der Gegenwart ist zutiefst in die beiden Richtungen des
partikularistischen Nationalismus (Zionismus) und des
Universalismus (Vertreter von Völkerrecht und Menschenrechten)
gespalten. Ben Gurion war ein radikaler zionistischer
Partikularist und Nationalist, universalistische Kategorien –
also Empathie für „andere“ Menschen außerhalb der eigenen Ethnie
– waren ihm völlig wesensfremd, er kannte nur den zionistischen
Kosmos und nichts anderes. Die „Anderen“ – das sind die
„Feinde“, gegen die man Krieg führt oder sie bestenfalls noch
zum eigenen Vorteil benutzt. Die Rollen von Gut und Böse waren
in Ben Gurions Weltbild also gut verteilt.
Eine solche
Haltung unterscheidet Ben Gurion von einem anderen Zeitgenossen,
der auch einen Staat schuf, aber selbst zu einem
universalistischen Symbol der Versöhnung wurde: Nelson Mandela.
Der Afrikaner setzte sich nicht ausschließlich wie der Zionist
Ben Gurion für die Vormachtstellung der eigenen Gruppe (der
Schwarzen in Südafrika) ein, sondern für die Entstehung einer
demokratische Nation, in der alle Hautfarben und Religionen
dieselben Rechte und Privilegien haben sollten. Damit
verhinderte er permanente Gewalt und stellte die Weichen für
einen funktionierenden Vielvölkerstaat.
Genau dieses
universalistische Erbe machte ihn zu einem Großen in der
Geschichte, ein Urteil, das man Ben Gurion nicht zuteilen kann.
Er ist eine historische Größe nur für die eigene
zionistisch-israelische Gemeinschaft, und seine Tragik ist es,
dass er mit seinem Lebenswerk das Fundament zu einer Entwicklung
gelegt hat, die zu einem siedlerkolonialistischen
Besatzungsstaat mit der Unterdrückung von Millionen Menschen
geführt hat. Und dieser Besatzungsstaat wird mit großer
Wahrscheinlichkeit in einem jüdischen Apartheidstaat enden –
also in einem Zustand, den Mandela mit seinem humanen
Universalismus gerade zu überwinden half.
Tom Segevs
Ben-Gurion-Biographie ist ein wichtiger Beitrag der „neuen
Historiker“ in Israel zu einer Aufarbeitung der Geschichte des
Zionismus. Sie ist aber auch ein Beleg für die These des
israelischen Philosophen Omri Boehm, dass Zionismus und
Humanismus nicht miteinander vereinbar sind.
Tom Segev:
David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, München 2018, ISBN
978-3-8275-0020-5, 35 Euro
25.05.2018
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