Ein
bedeutender Schritt zur Versöhnung
Palästinenser-Präsident
Abbas bezeichnet den Holocaust als „schlimmes
Verbrechen“
Wo bleibt eine ähnliche Geste Israels zur Nakba?
Arn
Strohmeyer
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Palästinenserführer Mahmud Abbas hat einen ganz
wichtigen Schritt zum Frieden und zur Versöhnung im
Nahen Osten getan: Er hat das Leiden der Juden unter den
Nazis anerkannt. Wörtlich sagte er: der „Holocaust sei
das schlimmste Verbrechen der Neuzeit“. Er sprach am
Holocaustgedenktag beim Treffen mit einem Rabbiner den
Hinterbliebenen der Opfer sein Mitgefühl aus – so wie
auch „den vielen unschuldigen Menschen, die von den
Nazis ermordet wurden“. Weiter sagte er, der Holocaust
sei ein Ausdruck des Rassismus gewesen, „den wir
ablehnen und bekämpfen.“ Die Palästinenser, die immer
noch in Unterdrückung und ohne Freiheit und Frieden
lebten, seien die ersten, die ein Ende von
Ungerechtigkeit und Diskriminierung forderten, ganz
gleich, gegen wen sie gerichtet seien. „Anlässlich der
schmerzhaften Erinnerung an den Holocaust rufen wir die
israelische Regierung auf, diese Gelegenheit zu
ergreifen, einen gerechten und umfassenden Frieden auf
der Basis der Zwei-Staaten-Lösung zu erzielen, -
Palästina und Israel, die Seite an Seite in Sicherheit
und Frieden leben“, sagte Abbas.
Die
Äußerungen von Abbas sind insofern bedeutend, da die
Palästinenser sich bisher äußerst zurückhaltend oder gar
nicht zum Holocaust geäußert haben. In der arabischen
Welt war der Mord an den europäischen Juden durch die
Nazis bisher ein Tabu. Was nicht verwundert, denn in der
israelischen Gesellschaft waren und sind die Leiden der
Palästinenser – die Nakba, also die ethnische Säuberung
Palästinas 1947/48, die Zerstörung der palästinensischen
Gesellschaft und die Brutalitäten der Besatzer gegen
dieses Volk – ebenfalls ein Tabu. Israel leugnet die
Nakba bis heute und lehnt jede Verantwortung für die
Verbrechen an den Palästinensern ab, die zwar nicht die
Ausmaße des Holocaust haben (hier darf man nicht
relativieren), aber nichts destotrotz schlimme
Verbrechen sind. Die Regierung von Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu hat sogar ein Gesetz durchgebracht,
das den Palästinensern jedes öffentliche Gedenken der
Nakba verbietet und unter Strafe stellt. Und Israel
raubt ja auch entschädigungslos weiter palästinensisches
Land und entzieht diesem Volk damit seine
Lebensgrundlage.
Der
israelische Philosoph Akiva Eldar hat das Verhältnis
beider Völker einmal so beschrieben: „Das Bewusstsein
israelischer Juden ist von dem Gefühl geprägt, Opfer zu
sein, von einer Belagerungsmentalität, von blindem
Patriotismus, von einer kriegerischen Haltung, von
Selbstgerechtigkeit und Entmenschlichung der
Palästinenser sowie fehlender Sensibilität gegenüber
ihrem Leiden.“ Es geht also um den Begriff des Opfers,
ohne dessen Klärung und Anerkennung Frieden nicht
möglich ist – ganz abgesehen von dem Streit um Land,
Gefangene, Wasser usw. Frieden ist auch eine Sache der
Psychologie und es kann ihn nur geben, wenn beide Seiten
bereit sind, die Leiden des anderen anzuerkennen. Die
Palästinenser scheinen – die Abbas-Äußerung belegt es –
bereit zu sein, diesen entscheidenden Schritt zu tun,
der auf israelischer Seite noch völlig undenkbar ist.
Dort hält man selbstgerecht daran fest, alle
Palästinenser voller Hass als „Terroristen“ und „neue
Nazis“ zu bezeichnen, die einen „neuen Holocaust“
planen. Das ist dumme und plumpe Propaganda, die den
Holocaust für billige Polemik instrumentalisiert, der
Sache nicht dient und nur vom Hauptproblem ablenken
soll: Israels Nicht-Bereitschaft zum Frieden. Hier
liegen die Probleme und die sollte Israel angehen.
Die
israelischen Juden empfinden sich – das ist fest
stehender Konsens – als die ultimativen Opfer der
Geschichte. Sie üben deshalb in ihrer Sicht niemals
Gewalt oder Terrorismus aus, das tun nur die „anderen“ –
die Araber bzw. die Palästinenser. Deshalb sind sie
nicht in der Lage, die Palästinenser als Opfer ihrer
eigenen Gewalt anzuerkennen. Der israelische Historiker
Ilan Pappe beschreibt diese Haltung so: „Eine
Anerkennung der Opferrolle des Anderen oder mehr noch:
anzuerkennen, dass man selbst derjenige ist, der die
Anderen zu Opfern macht, ist die furchterregendste
Geisterbahn, in die man sich setzen kann. Die meisten
israelischen Juden sind dazu nicht fähig oder weigern
sich schlichtweg, über eine solche Möglichkeit auch nur
nachzudenken.“
Der
Schritt, die eigene Täterrolle und die „anderen“ als
Opfer anzuerkennen, ist nicht nur ein unüberwindbares
psychologisches Hindernis, weil er große Ängste
hervorrufen würde, er stellt ganz offensichtlich das
zionistische Selbstverständnis, ja die eigene
israelische Identität in Frage: „Da eine solche
Anerkennung bedeutet, dass die Israelis sich der
historischen Ungerechtigkeit stellen müssten, die sich
Israel mit der ethnischen Säuberung des Landes von
seiner indigenen Bevölkerung im Jahr 1948 hat zu
Schulden kommen lassen, wird damit gleichzeitig der
fundamentale Mythos des Staates Israel in Frage gestellt
und gezeigt, dass die vom jüdischen Nationalismus schon
seit 1902 verbreitete Devise vom ‚Land ohne Volk für das
Volk ohne Land‘ eine Lüge war. Außerdem wird dadurch
eine Vielzahl ethischer Fragen aufgeworfen, die
unentrinnbare Auswirkungen auf die Zukunft des Staates
haben. Eine Anerkennung der Opferrolle der Palästinenser
trifft auf tief verwurzelte psychologische Ängste, weil
dadurch von den Israelis verlangt würde, ihre
Vorstellung dessen‚ ‚was 1948 passiert ist‘, infrage zu
stellen. So wie die meisten Israelis die Dinge sehen –
und was ihnen die etablierte und populäre israelische
Geschichtsschreibung nach wie vor bestätigt – konnte
Israel sich 1948 als unabhängiger Nationalstaat in einem
Teil Palästinas der Mandatszeit etablieren, weil es
frühen Zionisten gelungen war, ‚ein leeres Land zu
besiedeln‘ und ‚die Wüste zum Blühen zu bringen‘. Auch
ein weiterer einflussreicher fundamentaler israelischer
Mythos spielt hier eine Rolle: der kleine David der
heutigen Zeit, der in einer feindlichen Umgebung dem
zeitgenössischen Riesen Goliath standhalten kann“,
beschreibt Ilan Pappe das israelische Dilemma.
Und er
fügt hinzu: „Die Anerkennung als Opfer ununterbrochen
fortgesetzter Übeltaten, die Israel ihnen [den
Palästinensern] in voller Absicht antut – dies zu
akzeptieren würde für die israelischen Juden natürlich
den Verlust des eigenen Status als Opfer bedeuten. Das
würde zu politischen Konsequenzen auf internationale
Ebene führen, aber – was nach meiner Überzeugung noch
bei Weitem kritischer wäre – es würde eine moralische
und existenzielle Erschütterung der israelisch-jüdischen
Psyche auslösen: Die israelischen Juden müssten zugeben,
dass sie zum Spiegelbild ihrer eigenen schlimmsten
Alpträume geworden sind.“
Präsident
Abbas hat mit der Anerkennung des Holocaust einen ersten
wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Wann
folgt ihm Israel mit einer gleichen Geste?