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„Ethnische
Säuberungen, Apartheid und schleichender Genozid“
Die Publizistin Petra Wild hat ein
wichtiges Buch über Israels Siedlerkolonialismus geschrieben
Arn Strohmeyer
Bei der Rezension dieses Buches muss man mit
der Bilanz beginnen: Petra Wild hat ein außergewöhnlich
informatives Buch über den Nahostkonflikt geschrieben – eins
der besten, die zurzeit zu diesem Thema verfügbar sind.
Dabei bietet sie gar nicht viel neues, bisher unbekanntes
Material, schafft es aber mit dem von ihr zentral
verwendeten Begriff des „Siedlerkolonialismus“ ganz neue
Einsichten zu eröffnen. Fügt man diesem Begriff noch das
Adjektiv zionistisch hinzu, gelingt es ihr, das in
Deutschland gängige Israel-Bild einer gründlichen Revision
zu unterziehen. Denn es sind zumeist nur Klischees und
propagandistische Versatzstücke, die da im Umlauf sind und
in der Öffentlichkeit reflexartig wiederholt werden: Israel
sei der Staat der Holocaust-Überlebenden; die einzige
Demokratie im Nahen Osten ‑ in dieser feindlichen und
rückständigen Region eine „Insel der Zivilisation“ und
deshalb bedroht und belagert, vor allem vom Islam, der eine
repressive und barbarische Religion sei; Israel strebe nach
Frieden, während Palästinenser, Araber und Iraner diesen
Staat vernichten wollten; Israel nehme deshalb nur sein
Recht auf Selbstverteidigung wahr, um sein einziges Ziel zu
verfolgen: einen exklusiv jüdischen Staat auf Dauer zu
etablieren.
Wer dieses propagandistische Dogma nicht
akzeptiert, wird sofort wegen „Antisemitismus“ an den
Pranger gestellt, wobei da ganz bewusst nicht zwischen
Antisemitismus und Antizionismus unterschieden wird. Petra
Wild gibt für beides klare Definitionen: „Der Begriff des
Antisemitismus ist ein pauschal gegen die jüdische
Religionsgemeinschaft gerichteter Rassismus, [wohingegen]
der Antizionismus eine politische Position ist, die im Kern
in der Ablehnung der Vertreibung, Enteignung und Entrechtung
der Palästinenser und eines exklusiv jüdischen Staates in
einem multiethnischen und multireligiösen Land besteht.“
Aus dieser Definition ergibt sich
folgerichtig der von der Autorin zentral verwendete Begriff
des Siedlerkolonialismus, den die Autorin aus der neueren
Kolonialismus- und Genozidforschung ableitet: „ Der reine
Siedlerkolonialismus, für den Israel ein Beispiel ist,
strebt danach, die einheimische Bevölkerung durch eine
eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen.
Die Grenzen werden stets weiter nach vorn verschoben und die
einheimische Bevölkerung auf stets kleiner werdenden Flächen
zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für die
Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch für
siedlerkolonialistische Gebilde sind neben territorialer
Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der
Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei
menschenleer gewesen, als die Siedler kamen. Die
bekanntesten siedlerkolonialistischen Staaten sind die USA,
Neuseeland, Australien, Südafrika und Israel.“
Die bisher weitgehend unbekannten
Zusammenhänge zwischen Siedlerkolonialismus und Genozid
aufzuzeigen, ist das große Verdienst des Buches von Petra
Wild. Das Verständnis von Genozid wurde, so schreibt sie, in
der westlichen Welt über Jahrzehnte durch den Holocaust
geprägt. Dessen Monstrosität habe es lange Zeit erschwert,
andere Völkermorde als solche wahrzunehmen. Erst in den
1990er Jahren begannen dann Forscher aus
siedlerkolonialistischen Staaten, die genozidale Geschichte
ihrer eigenen Länder zu untersuchen. Dadurch hat der Begriff
des Genozids eine Ausweitung seiner Bedeutung erfahren. Die
meisten Forscher berufen sich dabei vor allem auf die
Arbeiten des polnisch-jüdischen Völkerrechtlers und
Friedensforschers Raphael Lemkin (1900 ‑ 1959), der als
einer der ersten auf den Zusammenhang von Kolonialismus und
Völkermord hingewiesen hatte. Lemkin betrachtete den
Siedlerkolonialismus als „inhärent genozidal“. Für ihn war
Genozid eine spezielle Form der ausländischen Eroberung und
Besatzung, die ihrem Westen nach notwendigerweise
imperialistisch und kolonialistisch war und ist.
Er definierte Genozid als „die organisierte
Zerstörung einer Bevölkerung durch ein breites Spektrum von
sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen
Maßnahmen plus physische Gewalt. Genozid zielt besonders
darauf ab, die demografische Balance zugunsten der Besatzer
zu verändern.“ Von zentraler Bedeutung ist dabei die
Zerstörung der Kultur der einheimischen Bevölkerung, die die
Basis des Zusammenhaltes und der gemeinsamen Identität ist.
Genozid und Siedlerkolonialismus sind also weitgehend
identisch. Petra Wild bilanziert: „In der heutigen Kolonial-
und Genozidforschung wird die Vernichtung der einheimischen
Gesellschaft auf die eine oder andere Art – die Spannbreite
reicht von Assimilation bis Massenmord – als Essenz des
Siedlerkolonialismus angesehen.“
Dieser Definition schlossen sich auch
israelische Wissenschaftler an – etwa der Geograf Oren
Yiftachel, der feststellt, dass das kollektive Einsperren
einer Bevölkerung zu den klassischen Methoden kolonialer
Herrschaft gehört. Dieses Vorgehen werde immer dann
praktiziert, wenn eigentlich eine ethnische Säuberung
angestrebt werde, diese jedoch nicht in Form von
Massenvertreibungen möglich sei. Der israelische Soziologe
Baruch Kimmerling prägte den Begriff Politizid und meinte
damit eine Politik, die darauf abzielt, die Palästinenser
als politische und soziale Einheit zu zerstören.
Über die Methoden des Vorgehens schrieb er: „Politizid
beinhaltet eine Mischung aus kriegerischen, politischen,
sozialen und psychologischen Maßnahmen. Die gebräuchlichsten
Techniken in diesem Prozess sind die Enteignung und
Kolonisierung von Land, Einschränkung der Bewegungsfreiheit
(Ausgangssperren, Abriegelungen, Straßensperren), Mord,
örtlich begrenzte Massaker, Massenverhaftungen, Spaltung
oder Eliminierung der Führung und Elitegruppen, die
Behinderung von schulischer Ausbildung, physische
Zerstörungen von öffentlichen Institutionen und
Infrastruktur, Wohnhäusern und privatem Eigentum,
Aushungerung, soziale und politische Isolation, Umerziehung,
und partielle oder – falls realisierbar – vollständige
ethnische Säuberung, obwohl diese sich möglicherweise nicht
als eine einzelne dramatische Aktion ereignet. Das Ziel der
meisten dieser Praktiken ist, das Leben so unerträglich zu
machen, dass die größtmögliche Anzahl der rivalisierenden
Bevölkerung, insbesondere ihre Elite und Mittelschicht, das
Land ‚freiwillig‘ verlassen.“
Dieser Auffassung schloss sich auch der
israelische Historiker Ilan Pappe an, der vor einer auf
„Völkermord abzielenden Politik Israels im Gazastreifen“
warnte. Der amerikanisch-jüdische UN-Sonderberichterstatter
für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen
Gebieten Richard Falk sprach im selben Zusammenhang von
einer „Politik der Eliminierung“ und bezeichnete die 2007
über den Gazastreifen verhängte Hungerblockade als einen
„Holocaust im Entstehen“. Er sieht in Israels Politik „genozidale
Tendenzen“.
Auch die beiden australischen Wissenschaftler
John Docker und Net Curthoys, Experten für den
Siedlerkolonialismus in ihrem eigenen Land, werfen den
Israelis vor, eine ethnische Gruppe ganz oder teilweise
zerstören zu wollen, indem sie den Palästinensern
Lebensbedingungen auferlegen, die dazu bestimmt sind, deren
physische Zerstörung in Teilen oder als Ganzes zu bewirken.
Sie schreiben: Als Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der
Genozid-Studien und-Forschung die lange Geschichte der
europäischen Kolonisierung erforschen, scheint für uns klar
zu sein, dass Israel (...) eine genozidale
siedlerkolonialistische Gesellschaft ist, die seit ihrer
Gründung 1948 kontinuierlich versucht, die Lebensgrundlagen
der einheimischen Palästinenser zu zerstören, ihre
Gesundheit, ihre Würde, ihr Einkommen, ihre persönliche
Sicherheit, ihren Zugang zu Bildung und ihre politischen
Organisationen, sodass die Palästinenser durch die
kolonisierenden zionistischen Siedler ersetzt werden können.
Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Form der
Siedlerkolonisierung, die an das Australien des 19.
Jahrhunderts erinnert, in der eine siedlerkolonialistische
‚Logik der Eliminierung‘ Massaker und Sequestrierung
(Reservate) kombiniert, um die souveräne Selbstbestimmung
einer einheimischen Bevölkerung unmöglich zu machen.“
Der enge Zusammenhang zwischen
Siedlerkolonialismus und Genozid ist vor allem durch
folgenden Prozess gegeben: Die Auseinandersetzung zwischen
Kolonialisten und Kolonisierten ist immer ein Kampf um Land
und Ressourcen. Dieser muss zu Aufständen führen, da die
Siedler die Ressourcen des Landes vornehmlich für sich
ausbeuten, wodurch das Überleben der einheimischen
Bevölkerung immer schwieriger wird. Die Aufstände können
dann einen genozidalen Charakter annehmen, da die
völkerrechtlichen Standards der Kriegsführung – siehe den
Gaza-Krieg 2008/2009 – außer Kraft gesetzt werden und im
Vorgehen gegen die als minderwertig und primitiv angesehenen
„Barbaren“ alles erlaubt ist.
Den genozidalen Militäraktionen folgt die
Internierung der einheimischen Bevölkerung in „ethnischen
Gulags“. Durch diese Internierung der unterworfenen und
überflüssigen Menschen in Enklaven, Bantustans oder Lagern
kann der Siedlerstaat zwei Ziele erreichen: die Enteignung
der einheimischen Bevölkerung zu Ende bringen und die
genozidale Politik auf versteckte Weise fortführen. Denn
natürlich verschleiert Israel – mit Hilfe seiner Verbündeten
‑ seine Politik der Zerstörung der palästinensischen
Gesellschaft und führt Massaker nur in wohldosierter Form
durch. Das Endziel ist aber dennoch klar: Das Verschwinden
einer palästinensischen Nation.
Petra Wild kann diese Fakten, Zusammenhänge
und Ziele mit einer Fülle von Aussagen israelischer
Politiker belegen, die gar kein Geheimnis daraus machen, was
sie vorhatten und auch jetzt noch vorhaben. Kann eine
solcher Siedlerkolonialismus überleben? Hat er eine Zukunft?
Die Autorin sieht kaum Chancen dafür – nicht nur weil er
eine typische Erscheinung des 19. Jahrhunderts ist und im
21. Jahrhundert ein eklatanter Anachronismus ist. Da das
zionistische Projekt der Schaffung eines exklusiven Staates
für ein Volk auf dem Territorium eines anderen Volkes nur
mit dessen Unterdrückung und Zerstörung realisiert werden
kann, droht es allein an diesen inneren Widersprüchen zu
scheitern.
Die Autorin führt drei Optionen an, die in
einem kolonialem Konflikt zwischen einheimischer Bevölkerung
und Siedlerbevölkerung möglich sind: 1. Der Siedlerstaat
begeht einen Genozid an der einheimischen Bevölkerung (USA,
Kanada, Neuseeland, Australien). 2. Die einheimische
Bevölkerung bringt durch ihren Widerstand die Siedler dazu,
das Land zu verlassen (Algerien, Zimbabwe). 3. Die
Siedlerbevölkerung gibt ihre Privilegien gezwungenermaßen
auf und die einheimische Bevölkerung akzeptiert ein
Zusammenleben mit ihr in einem gemeinsamen demokratischen
Staat auf der Basis von gleichen Rechten (Südafrika). Legt
man diese Optionen zu Grunde, ergibt sich für die Autorin
eigentlich nur die Ein-Staaten-Lösung als möglicher Weg aus
den festgefahrenen Fronten im Nahen Osten. Nur diese Option
würde für beide Seiten Gerechtigkeit schaffen, ohne eine
neue blutige Tragödie in Gang zu setzen. Aber dieser Weg
setzt die Überwindung und das Ende des Zionismus voraus. Und
nicht nur das: Auch die palästinensischen Flüchtlinge
müssten zurückkehren können und ihren Besitz zurückerhalten
bzw. entschädigt werden.
Petra Wild schreibt: „Viele jüdische Israelis
haben erkannt, dass die Rückkehr der Flüchtlinge auch für
sie selbst die einzige Möglichkeit ist, Frieden mit sich zu
schließen und ihre Menschlichkeit wiederzuerlangen. Die
Nakba [die ethnische Säuberung und Vertreibung der
Palästinenser 1948] hat auch in der jüdisch-israelischen
Bevölkerung ihre Spuren hinterlassen, die, um ihr eigenes
positives Selbstbild wahren zu können, permanent verdrängen,
rationalisieren und sich belügen muss. Diese Verdrängung des
Unrechts bringt jedoch stets nur neues Unrecht hervor. Nur
ein israelisches Schuldeingeständnis und die Entschädigung
der Opfer kann diesen Teufelskreis durchbrechen. Bewusst
gewordene Israelis haben die zerstörerische Wirkung ihrer
unaufgearbeiteten Geschichte erkannt.“
Sie fügt ein Zitat des Israeli Michael
Warschawski hinzu, das in dieselbe Richtung weist: „Die
Beseitigung der fortgesetzten Ungerechtigkeit, die den
palästinensischen Flüchtlingen, Generation für Generation,
zugefügt wurde, ist eine notwendige Voraussetzung sowohl für
die Versöhnung mit dem palästinensischen Volk als auch für
die spirituelle Heilung von uns selbst, israelischen Juden.
Nur so können wir aufhören, von den Dämonen und
Verdammnissen der Vergangenheit geplagt zu werden und uns
selbst zu Hause fühlen in unserem gemeinsamen Heimatland.“
Dem kann man nicht widersprechen. Ein solcher
kollektiver Selbstheilungsprozess würde dem Nahen Osten den
Frieden bringen. Wo aber gibt es Ansätze dazu außer bei ein
paar human gesinnten Intellektuellen? Auch an dem
Optimismus, mit dem Petra Wild die Ein-Staaten-Lösung
vertritt, müssen Zweifel erlaubt sein. Natürlich wäre der
gemeinsame säkulare und demokratische Staat von
Palästinensern und Juden eine ideale Lösung, aber auch die
Gegenargumente sind ernst zu nehmen. So hat gerade der
israelische Historiker Gershom Gorenberg in seinem Buch
„Israel schafft sich ab“ vor diesem Weg gewarnt.
Er nennt einen solchen Staat einen
„Albtraum“, in dem alles nur noch schlimmer würde. Jedes
innenpolitische Problem ‑ die Fragen der Rückkehr der
Flüchtlinge und der Entschädigung, die Auseinandersetzung um
den Boden und das Eigentum – alles würde zu politischen
Sprengsätzen werden. Zwei gleich starke Volksgruppen würden
sich in einem solchen Staat wie in Belgien gegenseitig
blockieren und das Regieren unmöglich machen. Die
politischen Spannungen würden sich in permanenter Gewalt
entladen. Der Übergang zu einem einzigen Staat würde eine
neue Phase des Konflikts markieren.
Das ist aber keine grundsätzliche Kritik an
Petra Wilds wichtigem Text. Dieses Buch überzeugt durch
seine eindeutig wissenschaftlich-aufklärerische
Grundposition, die Darbietung einer Fülle unleugbarer Fakten
über die fatalen Folgen des Zionismus in der nahöstlichen
Region und eine humane, auf internationalem Recht und den
Menschenrechten beruhende Position. Die weit verbreitete
Kenntnis dieses Textes könnte so manch überhitzte und
irrationale – und deshalb zumeist ohne Kenntnis der Sache
geführte – Debatte über den Nahostkonflikt in rationalere
Bahnen lenken und damit der Hoffnung auf Frieden in dieser
leidgeprüften Region einen großen Dienst erweisen.
Petra Wild: Apartheid und ethnische
Säuberung in Palästina. Der zionistische
Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Promedia-Verlag Wien
2013, 15,90 Euro
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