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Gibt es einen "neuen"
Antisemitismus?
Eine
Begegnung mit dem britisch-jüdischen Philosoph Brian Klug
Arn
Strohmeyer
"Alter"
und "neuer" Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an
Israel - welche(r) Zeitgenosse/in kann zwischen diesen
Begriffen klare Grenzen ziehen und sie eindeutig definieren?
Arn Strohmeyer hatte Gelegenheit, ein Gespräch mit dem
britisch-jüdischen Philosophen Dr. Brian Klug von der
Universität Oxford zu führen. Er hat in vielen Büchern und
Aufsätzen zu diesem Thema Stellung genommen.
Die
Schwierigkeit des Problems macht Klug mit der Entwicklung
eines einfachen Szenarios deutlich: Ein Rabbi wird in London
von der Fahrerin aus einem Bus geworfen, weil er dort
ziemlich laut hebräische Lieder gesungen hatte. Nun kann die
Fahrerin des Busses für den Rauswurf fünf Gründe haben: 1.
weil der Rabbi ganz allgemein gegen die Verhaltensregeln in
einem Bus verstoßen hat; 2. weil er für die anderen
Fahrgäste des Busses durch seinen Gesang zum Ärgernis
geworden war; 3. weil die Fahrerin, die nichts über Juden
und Judentum weiß, den Rabbi für einen fremden Ausländer
(vielleicht einen Asylsuchenden) gehalten hat, der ihr
unheimlich ist; 4. weil die Fahrerin ihn irrtümlich als
einen Muslim eingeschätzt hat und 5. weil sie Vorurteile
gegen Juden hat, sogar antisemitisch eingestellt ist, ihn
als Juden erkannt und rausgeworfen hat, eben weil er Jude
ist.
Eine ältere
Dame (eine Jüdin), die auch in dem Bus mitfährt und die
Szene des Rauswurfs beobachtet hat, ist empört, denn sie ist
der Meinung, dass alle fünf Motive der Busfahrerein für den
Rauswurf eindeutig antisemitisch sind. Für sie ist der Fall
also völlig klar. Brian Klug hält dagegen: Nein, nur der
fünfte Grund für den Rauswurf ist antisemitisch, die anderen
sind es nicht. Die Identifizierung der alten Dame mit dem
Rabbi ist verständlich, führt aber im Hinblick auf ein
antisemitisches Motiv in allen Fällen in die Irre.
Man kann
dieses Szenario - so Klug - teilweise auf die Politik
übertragen. Kritik an Israel ist dann erlaubt, wenn dieser
Staat gegen die Regeln internationalen Verhaltens (etwa des
Völkerrechts, UNO-Resolutionen, Menschenrechtscharta usw.)
verstößt, wenn es also in der internationalen Politik für
Unruhe und Ärger sorgt. Auch wenn die Angst vor Israel und
seiner Politik von einer Xenophobie herrührt, wäre die
Kritik nicht antisemitisch. Sie wird es erst dann, wenn sie
Israel als Staat und seine Handlungen als typisch "jüdisch"
beschreiben, also von angeblichen "jüdischen"
Wesensmerkmalen ableiten würde.
An diesem
Punkt ging Klug auf das Phänomen des sogenannten "neuen"
Antisemitismus ein. Vereinfacht gesagt: Der "alte"
Antisemitismus beruht auf rassischen Kriterien; er
unterstellt den Juden als Juden bestimmte negative
Eigenschaften. Der "neue" Antisemitismus geht darüber hinaus
und hält auch jede Kritik an Israel oder seiner Politik für
"antisemitisch". Viele Verteidiger Israels argumentieren
also: Die "neuen" Antisemiten übertragen ihre Kritik an den
jüdischen Individuen ("den" Juden) auf den Staat
Israel, betrachten ihn als "kollektiven Juden", verachten
und dämonisieren ihn und sehen in ihm einen Sündenbock für
alles Mögliche. Klug nannte eine Fülle von Beispielen aus
der gegenwärtigen jüdischen bzw. israelischen Literatur, in
denen so argumentiert wird. Auch Vertreter des offiziellen
Israel benutzen diesen Vorwurf.
Was ist nun
aber das typische antisemitische Klischee? Klug definiert es
so: "Die Juden gehören zu einem finsteren Volk, das sich von
anderen nicht bloß durch seine Verhaltensweisen, sondern
auch durch seinen kollektiven Charakter von anderen Völkern
absetzt; sie sind arrogant, gleichzeitig unterwürfig;
gesetzestreu, aber korrupt; extravagant, aber
geheimnistuerisch. Sie haben immer nur ihren Vorteil
(Profit) im Auge. Juden sind ebenso hart und unbarmherzig
wie trickreich. Loyal sind sie nur untereinander. Wo immer
sie sich aufhalten, bilden sie einen Staat im Staate,
bereichern sich an den Gesellschaften, in denen sie leben.
Aus dem Verborgenen heraus kontrollieren sie die Banken, die
Märkte und die Medien. Wenn es zu Revolutionen und Kriegen
kommt, dann sind es die Juden, die - geschlossen, mächtig,
clever und eigensinnig - beständig im Hintergrund die Fäden
ziehen und dann die Ernte einfahren."
Wendet man
diese Kriterien - so Klug - auf Israel und seine Politik an,
dann handelt es sich eindeutig um "neuen" Antisemitismus.
Wörtlich formuliert er: "Wann immer ein Text, eine Artikel
oder eine Karikatur dieses Klischee erstens einzig aus dem
Grund auf Israel projiziert, weil es ein "jüdischer Staat"
ist oder zweitens auf den Zionismus, weil er eine "jüdische
Bewegung" ist, dann ist der Text, der Artikel oder die
Karikatur antisemitisch. Das gilt auch für den Fall, dass
das Klischee - individuell oder kollektiv - in Verbindung
mit den Kriterien eins und zwei auf Juden übertragen wird."
Aber natürlich wird die rote Linie, die Antisemitismus von
erlaubter Kritik an Israel trennt, von den Kontrahenten
immer verschieden ausgelegt, sie ist also nie ganz
eindeutig, was den Kern des permanenten Streits um den
Antisemitismus ausmacht.
Im Übrigen
führte Klug aus, sei der "neue" Antisemitismus gar nicht so
neu wie oft es oft dargestellt werde. Denn der Zionismus sei
ja als Reaktion auf und Alternative zum europäischen
Antisemitismus entstanden. Insofern sei Feindschaft gegen
den Zionismus (und den Staat Israel als seinen Ausdruck)
schon immer als antisemitisch angesehen worden. Die
Unsicherheit in der Beurteilung des Zionismus rühre von
seiner Doppelgesichtigkeit her. Denn er habe sich historisch
als die nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes
angesehen - die Bewegung von "Außenseitern", die in Europa
lebten, dort Ausschluss, Unterdrückung und Verfolgung
erlitten hätten, wovon sich dieses Volk nun durch
Selbstbestimmung befreien wollte.
Andererseits
war der Zionismus aber auch Teil der Geschichte des
Kolonialismus. Denn er war selbst ein Teil der Expansion
Europas in nicht-europäisches Gebiet. Im Gegensatz zu
anderen nationalen Befreiungsbewegungen besaßen die Juden
kein Land, sie mussten sich in einem anderen, fremden Land
sammeln und es besiedeln. Der Zionismus hat deshalb von
Anfang an die Sprache der Kolonisation gesprochen und
deshalb würden die Zionisten im Nahen Osten bis heute als
"Eindringlinge" betrachtet: als Juden, die sich von den
Europäern und als Europäer, die sich von den Arabern
unterscheiden.
Klug ging
nach dieser analytischen und historischen Bestimmung der
Begriffe auch auf die aktuelle Situation im Nahen Osten ein.
Er sieht kaum Chancen für einen Frieden dort. Die Asymmetrie
zwischen der "Partnern" ist zu groß. Israel ist ein
mächtiger Staat, der andere "Partner" ist staatenlos; der
eine ist Besatzer, der andere der Besetzte. Da kann es keine
gleichwertige Auseinandersetzung um die richtige Lösung
geben. Auf das Boxen übertragen: Da kämpft ein
Schwergewichtler gegen einen Fliegengewichtler. Nur Israel
als die starke Macht hat die Option, den Palästinensern
einen Frieden aufzuzwingen. Die Palästinenser haben diese
Option umgekehrt nicht. Aber ein aufgezwungener Frieden ist
eben kein Frieden.
Zu dem
furchtbaren Teufelskreis, in der die öffentliche Debatte
über das Nahost-Problem geführt wird, gehört - so Klug -
auch die ständige Forderung Israels, sein "Existenzrecht"
anzuerkennen. Er fragt: Was ist damit für ein Recht gemeint
- ein politisches oder moralisches? Und was ist in diesem
Zusammenhang mit Israel gemeint? Klug stellt fest: Israel
ist ein Staat mit einem bestimmten Territorium. Aber welches
sind seine legitimen, ihn bindenden Grenzen? Diese Frage ist
bis heute nicht beantwortet. Außerdem: Was bedeutet es zu
sagen, dass ein Staat ein "Existenzrecht" hat, wenn niemand
weiß, über welches Territorium dieser Staat seine Herrschaft
ausübt. Weiter fragt Klug: Israel ist ein Staat, aber
bezeichnet der Name Israel den Staat als solchen oder
bezeichnet er den Staat als einen "jüdischen"? Oder
bezeichnet der Name den Staat als "Staat der Juden"? Was
also heißt es genau, wenn man sagt, Israel habe ein "Recht
zu existieren"?
Klug zitiert
den gegenwärtigen israelischen Regierungschef Benjamin
Netanjahu, der Israel als "Staat des jüdischen Volkes" und
als "nationales Heimatland des jüdischen Volkes" bezeichnet.
Dann muss man aber fragen: Wer ist ein Jude? Denn der Staat
Israel hat hierfür keine eindeutigen Kriterien. Die über
eine Million jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion gelten nach rabbinischer Gerichtsbarkeit, die
staatliche Funktionen ausübt, nicht als Juden. Was aber ist
ein "jüdischer Staat"? Handelt es sich dabei um einen Staat,
dessen Kultur die ethnischen und religiösen Identitäten der
Mehrheit der Israelis widerspiegelt? Oder ist damit ein
Staat gemeint, dessen Gesetze, Institutionen und offizielle
Handlungen nur zu Gunsten von Juden ausfallen sollen? Klug
vermutet, dass die Antwort auf alle diese Fragen lautet: Die
Israelis wollen das Existenzrecht Israels bestätigt
bekommen, weil es die Quelle der moralischen Autorität ist,
aus der sie dieses Recht ableiten.
Klug fragt
weiter: Was folgt daraus, wenn man den Satz "Israel hat ein
Existenzrecht" unterschreibt? Er antwortet: Man würde damit
eine ganze politische Ideologie für berechtigt erklären -
die Ideologie des jüdischen Nationalismus, die sich auf
Palästina konzentriert. Oder anders gesagt: Man würde einen
Blankoscheck unterzeichnen, dessen Inhalt völlig unklar ist.
Dieser Scheck könnte dann in der einen oder anderen Version
eingelöst werden. Denn er könnte auf Israel als den "Staat
der Israelis" (einschließlich der in Israel lebenden
Palästinenser, wobei der Staat in den Grenzen bis 1967
gemeint ist) ausgestellt sein oder auch auf den "Staat der
Juden" (ohne Palästinenser, aber einschließlich aller Juden
in der Welt).
Klug
beschreibt weitere Konsequenzen für den Fall, dass man den
Blankoscheck auf "Israels Existenzrecht" unterschreibt:
Einerseits würde man sich in der Debatte über die Zukunft
Israels und des Nahen Ostens sehr binden und einschränken.
Außerdem würde die Bestätigung des "Existenzrechts"
bedeuten, die Sichtweise Israels anzuerkennen, dass seine
Existenz permanent bedroht ist - entweder von den
Palästinensern oder anderen Staaten der Region. Was aber
wiederum die israelische Einstellung "Wir gegen die Welt"
bestärken würde, also das ausschließlich militärische
Herangehen an das Nahost-Problem. Was ja heißt: Es gibt
keine Alternative in diesem Konflikt, dass er also nur
beendet werden kann, wenn "die Feinde Israels ihren Stiefel
aus seinem Rachen nehmen würden." Dies bedeutet aber: Diese
angebliche permanente Bedrohung rechtfertigt jeden illegalen
Akt, den Israel unternimmt oder auch seine höchst
widersprüchliche Politik.
Klug hat
angesichts der jüdischen Geschichte großes Verständnis für
die Existenzangst der Juden bzw. der Israelis und ihr
Streben, ihr "Recht auf Existenz" anerkannt zu bekommen.
Aber er sieht sie in diesem Streben dennoch fehlgeleitet und
meint, dass ihre Zustimmung hierzu die Verwirrung nur noch
steigert. Wörtlich sagt er: "Ich weiß nicht, ob oder in
welchem Sinn ein souveräner Staat ein 'Recht auf Existenz'
hat. Aber wenn er es hat, dann ist dieses Recht nicht
inhärent oder absolut. Ein Individuum hat andererseits ein
inhärentes und absolutes Recht zu existieren. Das wird
'Menschenrecht' genannt und basiert, wie man in der
UNO-Deklaration der Menschenrechte lesen kann, in der Würde
und dem Wert der menschlichen Person. Ein Staat gehört zwar
menschlichen Wesen, aber er ist selbst kein lebendes,
atmendes menschliches Wesen."
Klug wünscht
sich deshalb, dass die Anhänger und Unterstützer Israels
ihre Forderung, dass "Israel ein Existenzrecht" hat,
umwandeln in eine "Fürsorgepflicht", eine Pflicht, die allen
Bürgern Israels gleichermaßen zukommt. Gegenwärtig gibt es -
so Klug etwa 200 Staaten auf der Welt, nach 1945 sind 117
von ihnen neu entstanden. Viele von ihnen leben unter
ständiger Bedrohung. Aber keiner dieser Staaten außer Israel
fordert die Anerkennung seines "Rechtes auf Existenz".
Deshalb fordert Klug, dass Israel diesen Anspruch aufgibt,
der eine "Obsession" ist, und dass es genauso behandelt wird
wie alle anderen Staaten auf der Welt.
Die
Diskussion über den Frieden sei nicht zuletzt deshalb so
schwierig, weil jeder Beteiligte erst einmal ein Bekenntnis
zu Israels "Existenzrecht" ablegen müsse. Und Klug stellt
klar: Der Staat Israel ist nicht der "kollektive Jude" - wie
auch immer man diesen Satz versteht. Bestenfalls schlägt die
Frage seiner Existenz eine Saite in der kollektiven
Erinnerung der Juden an.
Gibt es also
gar keine Chance für den Frieden? Klug greift bei seiner
Antwort auf diese Frage tief in die jüdische Geschichte und
Tradition zurück und zitiert den Rabbi Shimon ben Gamliel,
der um 70 n. Chr. gestorben ist. Dieser hat gesagt: "Die
Welt beruht auf drei Säulen: Gerechtigkeit, Wahrheit und
Frieden." Ein paar Jahre später hat der Rabbi Rav Muna
diesen Satz so ausgelegt: "Die drei Säulen sind in
Wirklichkeit ein und dieselbe, denn wenn es Gerechtigkeit
gibt, hat sich auch die Wahrheit durchgesetzt und Frieden
hervorgebracht." Anders gesagt: Frieden hängt von
Gerechtigkeit ab und Gerechtigkeit von Wahrheit. Ohne
Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit
keinen Frieden.
Die Wahrheit
hat also Priorität, aber es gibt noch etwas, das über ihr
steht: das Verstehen. Das Problem ist nur, dass jede Seite
ihre Wahrheit hat und die Wahrheit der anderen
nicht verstehen kann. Das ist der Teufelskreis, der die
Lösung des Problems so schwierig macht. Klug hat aber die
Hoffnung, dass die beiden Rabbis das Verstehen in ihr
Konzept der Wahrheit mit einbezogen haben. Und das wird sich
durchsetzen!
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