Das fatale Schweigen der evangelischen Kirche zu Israels
Unrechtspolitik
Der
Theologe Peter Bingel unterzieht in einem neuen Buch die
Nach-Auschwitz-Theologie einer radikalen Kritik und wirft
ihr „Verrat an der christlichen Ethik“ vor
Arn
Strohmeyer
Als
deutsche Christen nach 1945 von den furchtbaren Untaten der
Nazis erfuhren, fragten sie sich: „Was haben wir getan?“ Das
Schuldbewusstsein war groß, denn Christen waren nicht nur
über Jahrhunderte für den Judenhass verantwortlich, sie
hatten durch ihre Zusammenarbeit mit dem verbrecherischen
NS-System auch ihren Anteil am monströsen Höhepunkt
antisemitischen Wütens: der Vernichtung der europäischen
Juden im Holocaust. Deutsche protestantische Theologen
begannen aus ihrem Schuldempfinden heraus in einem
schmerzvollen Prozess eine „neue“ Theologie zu entwickeln,
die sich von dem bisher gültigen Glaubenssatz abwandte, dass
das Christentum durch seine Botschaft das Judentum
„abgelöst“ und „überwunden“ habe. Eine solche Auffassung
wurde nun schon als „antisemitisch“ angesehen.
Die
„neue“ protestantische Theologie – die sogenannte
Nach-Auschwitz-Theologie – suchte eine größtmögliche Nähe
zum Judentum, die sich auch darin ausdrückte, dass die Juden
als das eigentliche „Volk Gottes“, als das bis heute
„erwählte“ Israel der Hebräischen Bibel (des Alten
Testaments) angesehen werden. Es wird also eine durchgehende
Kontinuität zwischen den Juden der Antike und dem heutigen
Judentum, das sich vor allem im Staat Israel manifestiert,
hergestellt. In dieser Sicht bedeutet das Erscheinen Jesu
mit seiner Botschaft nicht eine neue Stufe der
Heilsgeschichte über das Judentum hinaus, sondern in dieses
Israel als „Volk des Heils“ sei die Kirche ‚hineingenommen‘
worden (Synodenbeschlüsse der Evangelischen Kirche im
Rheinland 1980 und 2015).
Dieser
enge Anschluss des Christentums (sozusagen als Anhängsel) an
das Judentum, die man fast als eine Rückkehr bezeichnen
kann, hatte und hat aber immense politische Bedeutung, denn
er beinhaltete nicht mehr und nicht weniger, als dass die
Nach-Auschwitz-Theologie und die protestantische Kirche, die
diese Lehre in ihren Institutionen, Gremien, Gemeinden und
Gliederungen vertritt, den Juden als bevorzugten Partnern
Palästina als Geschenk überlassen hat. Damit wurde aber das
Unrecht, das die Zionisten bzw. der Staat Israel mit seiner
Kolonisation den Palästinensern angetan hat und immer noch
antut, völlig negiert, weil ein Eintreten für Gerechtigkeit
in Palästina die christlich-jüdischen Beziehungen, die man
ja gerade verbessern, ja neu schaffen wollte, gefährden
würde. Von Juden hätte ein solches Ansinnen zudem sofort als
„antisemitisch“ gedeutet werden können, ein Verdacht, den
man unter allen Umständen ausschließen wollte.
Diesen
tragischen Konflikt haben die protestantische Theologie und
die Kirche bis heute nicht gelöst, er wird dadurch
verstärkt, dass Theologie und Kirche durch ihr Schweigen und
Nicht-Handeln neue Schuld auf sich geladen haben. Vor etwa
einem Jahrzehnt analysierte der amerikanisch-jüdische
Psychologe Mark Braverman dieses theologische und kirchliche
Dilemma in seinem wichtigen Buch „Verhängnisvolle Scham.
Israels Politik und das Schweigen der Kirche“, das viel
Aufsehen erregte, aber in Kirchenkreisen nicht zu einem
Umdenken beitrug.
Diesen
Ansatz hat der deutsche Theologe Peter Bingel nun in seinem
neuen Buch „Kirche – Altes – Testament – Nahost-Konflikt.
Vom christlichen und israelisch-jüdischen Umgang mit der
hebräischen Bibel und den politischen Folgen“ fortgeführt –
mit einer radikalen Kritik der Nach-Auschwitz-Theologie, der
er vorwirft, einen „Verrat an der christlichen Ethik“ zu
begehen. Um das zu verstehen, beginnt er mit einigen
Begriffsklärungen: Das Christentum ist eine Religion, dass
Judentum ist natürlich auch eine Religion oder
Religionsgemeinschaft, aber zugleich auch ein Volk im Sinne
einer Nation. Die Aussage, dass jemand Jude oder jüdisch
ist, bezeichnet also zunächst die Zugehörigkeit zu einer
Religion, sie steht aber auch für die ethnisch-politische
Zugehörigkeit eines Juden zur israelischen Nation. (Dass zum
Staat Israel auch Nicht-Juden gehören oder dass Juden auch
säkular oder atheistisch sein können, zudem auch in der
Diaspora leben, soll in diesem Zusammenhang ausgeklammert
werden.)
Im
Altertum war das Judentum nicht nur eine
Glaubensgemeinschaft, sondern auch eine religiös bestimmte
politische Gesellschaft. In dieser Zeit gab es also die
jüdische Gemeinschaft ohne Politik nicht. Nach der
Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.u.Z. existierte das
Judentum während Jahrhunderten nur noch unpolitisch als
Religions- und ethnische Gemeinschaft, wurde mit dem
Aufkommen des Zionismus und der Staatsgründung Israels in
Palästina 1948 aber auch wieder eine politische
Gesellschaft, die ursprünglich säkular ausgerichtet war,
heute aber extrem nationalistische und nationalreligiöse
Züge angenommen hat und in seinen politischen Zielen stark
an das alte Israel anknüpft. Die Grundlage für dieses
Anknüpfen ist die Hebräische Bibel (Alte Testament), die im
heutigen Israel nicht nur als religiöses Buch, sondern auch
als säkulares Geschichtsbuch des jüdischen Volkes verstanden
wird, das in hohem Maße die politischen Maßstäbe (vor allem
der regierenden national-religiösen Parteien) setzt und nach
dem in allen Schulen des Landes der Geschichtsunterricht
ausgerichtet ist.
Die
Nach-Auschwitz-Theologie teilt diese säkulare Auffassung des
staatlichen Israel nicht, sie sieht im aktuellen heutigen
Judentum, gerade auch im Staat Israel und der israelischen
Gesellschaft nichts anderes als das israelitisch-jüdische
Volk des Glaubens, eben das „Volk Gottes“, das „erwählt“ ist
und mit dem der jüdische Gott Jahwe einen Bund geschlossen
hat. Die politische Dimension bzw. die nationale, auf
säkularer Basis machtvolle Existenz des heutigen Israel wird
völlig übersehen und negiert. Judentum und Israel werden
ausschließlich geistlich bzw. religiös gedeutet und bei
Abwertung des Christentums das Judentum philosemitisch
überhöht in der Art, dass – wie schon gesagt – „die Kirche
durch den Juden Jesus in das Heil des jüdischen Volkes
hineingenommen ist“. Das Christentum wird sozusagen zum
Anhängsel des Judentums. Daraus ergibt sich aber konsequent,
dass das Alte Testament höher geschätzt wird als das Neue.
Hier
setzt nun die Kritik von Bingel an, denn die Texte des Alten
Testaments kann er von seiner christlichen Position aus nur
teilweise akzeptieren. Dieses Buch vermittelt ein für heute
geltende zivilisatorisch-humane, von der Aufklärung
bestimmte Maßstäbe erschreckend archaisches und grausames
Menschenbild. Unter Anleitung und Befehl ihres Gottes Jahwe,
der selbst ein kriegerischer Gott war, begingen die alten
Israeliten furchtbare Untaten: Massaker an ihren Feinden,
bei denen niemand geschont wurde, Zerstörungen von Städten
und Dörfern sowie Raub und Plünderungen. Jahwe befahl auch
Landnahme und Vertreibungen. Bingel zählt diese Untaten
seitenweise auf. Es ist wissenschaftlich gar nicht
abgesichert, ob diese Beschreibungen schrecklicher
Verbrechen wirklich einen historischen Hintergrund haben
oder nicht Sagen und Legenden sind, aber sie stehen in einem
„Heiligen Buch“ und ihre Wirkung auf spätere Generationen
darf man nicht unterschätzen. Diese Schilderungen sagen auch
viel über das Menschenbild aus, das ihnen zu Grunde liegt.
Bingel
verschweigt nicht, dass im Alten Testament auch der Begriff
„Nächstenliebe“ vorkommt (3. M 19), belegt aber überzeugend,
dass dieses Gebot sich nicht universalistisch auf alle
Menschen bezieht, sondern nur auf „Stammesgenossen“, was
klar aus dem Zusammenhang hervorgehe. Denn da sei von den
„Kindern Deines Volkes“ die Rede (3. M 119,11-18). Der
Nächste ist also nur der israelitisch-jüdische
Volksangehörige. Das verwundert auch nicht, denn die antiken
Israeliten haben sich sehr scharf von ihren nicht-jüdischen
Nachbarvölkern abgegrenzt und abgesondert. Ganz ähnlich
steht es mit dem Gebot, „Fremde“ zu achten und gastlich
aufzunehmen. Da der Hass auf Vertreter anderer Religionen
sehr groß war, können auch hier nur Stammesgenossen im
weitesten Sinn gemeint sein.
Das
Menschenbild des Alten Testaments ist also in weiten Teilen
von archaischen Denkstrukturen geprägt, die aber – darauf
weist Bingel nachdrücklich als sein vorrangiges Anliegen hin
– auf die Mentalität und das politische Verhalten des
heutigen Staates Israel großen Einfluss haben. So stellt er
zahlreiche Parallelen zwischen Sachverhalten, Vorstellungen
und Maßstäben des Alten Testaments und der israelischen
Politik der Gegenwart fest, die sich so gleichen, dass er
von „Blaupausen“ spricht. Beispiele sind etwa: Massaker,
Landraub, Vertreibungen, Zerstörungen, Raub von Besitz und
Hass auf Nicht-Juden, in diesem Fall die muslimischen
Palästinenser.
Bingel
schreibt über das heutige Vorgehen der Israelis: „Die ganze
Unmenschlichkeit des in der Bibel berichteten
Landeroberungs- und Vertreibungsprozesses dient [dem
heutigen Israel] als Stütze und Vorbild. Aller Raub von Land
und Kulturen, von Häusern und allem Inventar, von
Bankguthaben und Infrastruktur, alle Unterdrückung und
Vertreibung, ob militärischer oder Elendsvertreibung, alle
Zerstörungen von Leben und Familien, alle Widerrechtlichkeit
und alle Demütigung und Erniedrigung von Millionen Menschen
wird dadurch [durch die Hebräische Bibel] gerechtfertigt.
Die Hebräische Bibel/ Alte Testament hat, im Sinne der
nationalreligiösen [israelischen] Staatsideologie genutzt,
eine volksverhetzende, verbrechensfördernde Wirksamkeit.“
Bingel
kann diese sehr harte Aussage mit einem wichtigen
Literaturhinweis belegen. Der israelische General und
sechste Präsident Israels Chaim Herzog (1918 – 1997) hat
zusammen mit dem Militärhistoriker Morchedai Gichon mehre
Bücher geschrieben, in der die in der Hebräischen Bibel
dargestellten Kriege als Vorbild für die heutige israelische
Kriegführung erscheinen. Diese Bücher sind auch in
Deutschland erschienen: „Mit Gottes Hilfe. Die biblischen
Kriege“ (München 1998) und „Die biblischen Kriege“ (Augsburg
2000 )sowie „Die biblischen Kriege – Schauplätze,
Strategien, Taktiken“ (München 2000).
Gegen all
dies haben die Nach-Auschwitz-Theologie und die Kirche
nichts einzuwenden, sie schweigen dazu. Sie weigern sich,
das schreiende Unrecht von jüdisch-israelischer Seite gegen
ein ganzes Volk im Nahen Osten wahrzunehmen, weil sie das
moderne politische Israel mit dem geistlichen Israel der
Bibel bzw. der christlichen Tradition verwechseln und
identifizieren und sie das Judentum als die eigentliche
ursprüngliche Religionsgemeinschaft ansehen. Diese Position
macht es dieser Theologie und der ihr anhängenden Kirche
aber unmöglich, die unverantwortlichen Teile des Alten
Testaments kritisch zu sehen. Sie verschließt ihnen auch
jeden kritischen Blick auf die Völkerrechts- und
Menschenrechtsverbrechen Israels. Juden bzw. jüdische
Israelis sind in dieser theologischen Sicht immer nur Opfer,
sie können keine Täter sein. Selbst den Landraub und die
Vertreibung rechtfertigt die Kirche im Sinne der
Nach-Auschwitz-Theologie. In einer kirchlichen Erklärung
heißt es ausdrücklich: „Wir respektieren jüdisches
Selbstverständnis, auch in Bezug auf das Land.“
Es ist
kein Geheimnis, dass das Weltjudentum heute tief gespalten
ist: in Partikularisten, das heißt in extreme
jüdisch-israelische Nationalisten (vor allem
Nationalreligiöse), also Zionisten, die eng zu Israel
stehen, und Universalisten, also Anhänger und Verteidiger
von Menschenrechten und Völkerrecht. Die
Nach-Auschwitz-Theologie und damit auch die protestantische
Kirche halten es mit dem partikularistischen Zionismus, weil
sie ihn für die Manifestation des „Judentums“ halten. Bingel
ist Universalist und von dieser Position aus attackiert er
die Nach-Auschwitz-Theologie, weil sie in Bezug auf Israel
ein vormodernes, anti-aufklärerisches, archaisches
Menschenbild und Politikverständnis vertritt und
unterstützt, das weder mit einer richtig verstandenen
christlichen Ethik noch mit dem internationalem Recht in
Einklang zu bringen sei. Wie bedenklich die theologische und
kirchliche Position ist, wird auch dadurch deutlich, dass in
Israel ganz offen gegen Völkerrecht und Menschenrechte
Stellung bezogen wird. So betont die Justizministerin dieses
Staates Ayelet Shaked immer wieder, dass der Zionismus über
sein eigenes Recht verfüge und dies verfolge und mit dem
internationalen Recht nichts zu tun habe.
Bingel
fasst seine in diesem Sinne verstandene Kritik so zusammen:
„Durch ihr völliges Schweigen in menschen- und
völkerrechtlichen, also in politisch-ethischen Fragen
unterstützt die Nach-Auschwitz-Theologie die massiv
repressive, landraubende Unrechtspolitik Israels, die seit
Jahrzehnten Frieden unmöglich macht. Sie verführt damit
Theologen, Kirchenführer und die Masse der Christen zur
gleichen Verantwortungslosigkeit. In mangelnder Klarsicht
über eine angemessene Einordnung alttestamentlicher Texte
wird das real existierende ‚Israel‘ bzw. Judentum mit
biblischer Begründung ideologisch überhöht, und in
entsprechender politischer Einseitigkeit werden die
rechtlichen und menschlichen Realitäten in Nahost völlig
übersehen. Das ist ein Verrat am christlichen Menschenbild
und an der christlichen Ethik. In der Konsequenz der
Nach-Auschwitz-Theologie liegt so auf neue Weise schwere
Schuld an Millionen Menschen vor, diesmal Schuld an
nicht-jüdischen Menschen.“
Bingel
bezeichnet die Nach-Auschwitz-Theologie als „Irrweg“ und
fordert sie auf, ihre Position zum Alten Testament und damit
auch zum heutigen Staat Israel zu klären. Er ruft sie dazu
auf, den Machtmissbrauch des heutigen jüdischen Staates
Israel kritisch wahrzunehmen und ihm mit allen Mitteln
entgegenzutreten: „Christen haben den Staat Israel ohne eine
besondere Heiligung oder Verklärung als einen normalen Staat
zu betrachten und zu beurteilen. Gerade die deutsche Schuld
infolge der Nazizeit verpflichtet dazu, nicht noch einmal in
vergleichbarer Weise schuldig zu werden.“
Hier
trifft sich Bingels Kritik mit der des Amerikaners Mark
Braverman, der schreibt: „Aber die Herausforderung [für die
Theologie und die Kirche] besteht nicht länger darin, die
Vergangenheit in Ordnung zu bringen. Die dringende
Herausforderung besteht darin, nach vorne zu sehen. Die
Aufgabe, der sich die Glaubensgemeinschaften heute
gegenübersehen, ist es nicht, einen christlich-jüdischen
Dialog um seiner selbst willen zu führen oder eine
Versöhnung im Hinblick auf vergangene Sünden und Tragödien
zu erreichen. Vielmehr ist gewissenhaft und bewusst das
Augenmerk darauf zu richten, die Grundursache für den
israelisch-palästinensischen Konflikt zu beseitigen: die
Vertreibung der Palästinenser und die Etablierung von
Apartheidstrukturen der Diskriminierung. Wir stehen vor
einer prophetischen Herausforderung, die uns vereinigen muss
– dabei ist es ohne Bedeutung, ob wir Christen, Juden,
Muslime, Amerikaner, Deutsche, Südafrikaner oder Israelis
sind.“
Dem ist
nichts hinzuzufügen. Bingels Buch ist deshalb nicht nur für
Theologen und gläubige Christen wichtig, sondern auch für
säkulare Leser, weil es auf schlüssige Weise aus der
religiösen Perspektive heraus erklärt (es gibt daneben
natürlich auch noch politische, historische und ideologische
Gründe), warum die Politik der westlichen Staaten und
größtenteils auch die westliche Öffentlichkeit Israels
inhumane Okkupationspolitik ohne Empörung und Protest
entweder nachsichtig oder sie sogar verteidigend und
unterstützend hinnehmen. Auch in dieser säkularen Zeit sind
die Kirchen noch mächtige gesellschaftliche Organisationen
und ihr Einfluss entsprechend groß. Vielleicht schlummert da
nach fast 2000 Jahren Christentum im Unbewussten vieler
Menschen im Westen doch noch die Vorstellung, dass Israel
Gott auf seiner Seite hat. Dass das nicht der Fall ist, hat
Peter Bingel in seinem Buch klar und eindeutig bewiesen.
Bingel,
Peter: Kirche, Altes Testament und der Nahost-Konflikt. Vom
christlichen und israelisch-jüdischen Umgang mit der
Hebräischen Bibel und den politischen Folgen, Gabriele
Schäfer Verlag Herne, ISBN 978-3-944 487-61-8, 15,90 Euro
|