Von Arn Strohmeyer
Die Linkspartei will die Anerkennung des
Existenzrechts Israels in ihrem Parteiprogramm
festschreiben. Das klingt zunächst ganz harmlos und sehr
einleuchtend. Denn Israel ist seit 63 Jahren ein
wirklich existierender Staat, der 1947 von der UNO ins
Leben gerufen und von vielen - wenn auch nicht von allen
- Staaten der Welt anerkannt wurde. Und nicht zuletzt:
Der Staat Israel ist nicht nur eine starke Regionalmacht
im Nahen Osten, er ist mit seiner High-Tech-Armee und
seinen Atomwaffen sowie den USA im Rücken - eine kleine
Supermacht. Aber wenn Israel eine so überaus starke
Realität ist, ergibt sich ja von selbst die Frage: Warum
sollte man dann seine „Existenz“ anerkennen? Allein
diese Fragestellung ist schon absurd, denn warum soll
man etwas zweifellos Existierendes als „existent“
anerkennen?
Niemand zweifelt doch an Israels
Realität, und die Völker um diesen Staat herum bekommen
sie bisweilen sehr schmerzhaft zu spüren. Auch wenn
dieser Staat vielen Menschen wegen seiner zügellosen
Aggressivität unheimlich vorkommt und Angst macht,
Israel abschaffen zu wollen, würde eine unendliche neue
Tragödie über die Menschen im Nahen Osten
heraufbeschwören, was niemand wünschen kann. Also
wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Israels Existenz, die
ist unbestritten, sondern um die Frage der Anerkennung
seiner Existenz, das ist etwas ganz anderes.
Die Linkspartei hat ein Problem. Sie hat
ein paar Realisten und renommierte Experten in ihren
Reihen, die das Nahost-Problem so sehen, wie es ist, und
das auch aussprechen. Und das bedeutet in Deutschland,
sich dem Vorwurfs des Antisemitismus auszusetzen. Lassen
wir also einen Israeli, den Anthropologen Jeff Halper,
den Kern des Nahost-Konflikts benennen: „Der exklusive
Anspruch meines Volkes auf das gesamte Land Israel [d.h.
ganz Palästina] und die sowohl implizite als auch
praktisch durchgesetzte Negierung der natürlichen
Ansprüche, Rechte und sogar der Existenz der
Palästinenser können in der Tat so lange nicht versöhnt
werden wie die [jüdische] Ethnokratie in dieser Form
existiert.“ Oder um mit einem Satz Ben Gurions zu
sprechen: „Wir wollen, dass das Land uns gehört, die
Araber beanspruchen es auch für sich (...) Deshalb gibt
es keine Lösung! Es gibt keine Lösung!“ Das ist die
Realität der Status-quo-Politik, die Netanjahu heute
noch betreibt, die jeden Kompromiss in Bezug auf das
Land ausschließt - und deshalb existiert keine
Perspektive für den Frieden.
Nun gibt es in der Linkspartei neben den
Nahost-Realisten auch die kritiklosen Israel-Freunde, ja
sogar einen starken Flügel der sogenannten
„Antideutschen“. Für diese Leute ist alles, was Israel
tut, offenbar ein höheres Gesetz, dem man blind folgen
muss. Und es gibt auch Leute in der Partei, die Israels
Politik durchaus durchschauen und verstehen, die aber
große Angst vor der eigenen Courage haben und den
Antisemitismus-Vorwurf so sehr fürchten, dass sie sich
opportunistisch dem Mainstream anpassen und nun dafür
sind, das Existenzrecht Israels in ihr Parteiprogramm zu
schreiben. Haben die führenden Köpfe überhaupt
verstanden, was sie da machen?
Der amerikanisch-jüdische Politologe und
Sprachforscher Noam Chomsky schrieb schon 2003 in seinem
Buch „Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und
die US-Politik“ über diese Frage: „Wenn man über diese
keineswegs ungewöhnlich klingende Wortwahl etwas
nachdenkt, wird man erkennen, dass sich dahinter eine
weitere Finte amerikanischer und israelischer Hardliner
verbirgt, mit der sie die Möglichkeit friedlicher
politischer Lösungen blockieren. In diplomatischen
Beziehungen und dem internationalen Recht gibt es keinen
relevanten Begriff von staatlicher ‚Legitimität‘ oder
dem ‚Recht auf Existenz‘. Staaten werden anerkannt, weil
sie existieren und funktionieren, nicht weil sie
‚Legitimität‘ oder ein ‚Existenzrecht‘ besitzen.“ Also:
Ein „Existenzrecht“ gibt es im Völkerrecht nicht, auch
nicht seine Anerkennung. Und warum Israel dies fordert,
ist auch klar: um eine unannehmbare Bedingung für
Verhandlungen zu stellen. Da man weiß, dass sie nicht
erfüllt wird, verhindert man damit eben Verhandlungen.
Noch deutlicher wird Brian Klug, ein
britisch-jüdischer Philosoph von der Universität Oxford.
Auch er weist darauf hin, dass es im Völkerrecht keinen
solchen Begriff „Existenzrecht“ gibt. Dort gelte für
souveräne Staaten, dass sie einer gegenüber dem anderen
gewisse Rechte haben, von denen sich die meisten auf
Prinzipien zurückführen lassen, die in Artikel 2 der
Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Diese
Rechte setzten aber die Existenz des Staates, um den es
geht, voraus - ein nicht existierender Staat können eben
keine Rechte haben, wobei man die Frage, ob ein Staat zu
Recht existiere, offenlassen müsse. Klug weist
daraufhin, dass es zur Zeit auf der Welt 192 Staaten
gebe, von denen viele eine sehr zweifelhafte Legitimität
besäßen, aber nur Israel bestehe auf der Anerkennung
seines Existenzrechts.
Klug folgert daraus, dass es sich beim
„Existenzrecht“ also nicht um eine rechtliche, sondern
eher um eine politische oder moralische Kategorie
handele. Er konstatiert, dass sich hinter dieser
Formulierung ein politisches Bedürfnis, ja eine
unerlässliche Bedingung verberge, die unbedingt erfüllt
werden müsse. Sie verzerre aber die ganze Debatte um
Israel und Palästina, sei nichts als ein „Knäuel der
Verwirrung“: „Die Formulierung‚ Israel hat ein
Existenzrecht‘ ist in jeder ihrer Teile und als Ganzes
so vage wie eine Wolke oder so glitschig wie ein Aal.“
Nähme man die Forderung Israels nach
Anerkennung seines Existenzrechts - sei sie nun
politisch oder moralisch gemeint - ernst, dann ergeben
sich - so Klug - automatisch einige Israel betreffende
Fragen, die dringend einer Antwort bedürfen. Erstens:
Welcher Natur oder Identität ist der Träger dieses
„Existenzrechtes“? Denn auch wenn Israel ein souveräner
Staat ist - über welches Staatsterritorium verfügt er?
Welches sind Israels rechtsverbindlich festgelegte
Grenzen? Klug fragt: „Was bedeutet es, von einem Staat
zu sagen, er habe ein ‚Existenzrecht‘, wenn wir die
Ausdehnung des Territoriums, auf dem dieses Recht
ausgeübt wird, gar nicht kennen?“ Und gerade im
Nahost-Konflikt spielten die Grenzen ja eine
entscheidende Rolle. Zweitens: Was ist mit dem Begriff
Israel gemeint: der Staat als solcher, der alle seine
Bürger einschließt, also auch die zwanzig Prozent
Palästinenser, oder ein exklusiv jüdischer Staat
oder der Staat der Juden? Drittens: Wer gilt als
jüdisch? Also auch die Frage nach dem Staatsvolk ist
ungeklärt. So werden z.B. Hunderttausende von aus der
Sowjetunion in Israel eingewanderten Juden vom Rabbinat
nicht als solche anerkannt.
Weil diese Dinge unbedingt einer Klärung
bedürfen, kommt die Anerkennung des Existenzrechtes für
Klug der Unterzeichnung eines Blankoschecks für die
Zukunft gleich. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn Israel
morgen völkerrechtswidrig das Westjordanland annektieren
würde, hätte man die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens mit
der Anerkennung des Existenzrechtes auch mit
unterschrieben.
Aber man würde mit einem solchen
Blankoscheck noch viel mehr unterschreiben. Denn die
andauernde Betonung des Existenzrechts durch Israel
unterstellt - so Klug - , dass Israel unter einer
andauernden Bedrohung seiner Existenz steht, entweder
durch die Palästinenser oder die Araber. Die
Anerkennung des Existenzrechts trage also dazu bei, eine
ganze Weltanschauung - „Wir gegen die Welt“ - zu
verstärken und zugleich den israelischen Militarismus zu
fördern, den sie unweigerlich nach sich ziehe. Und sie
rechtfertige Israels völkerrechtswidriges und in jeder
Beziehung illegales politisches und militärisches
Vorgehen, das es ja mit der Behauptung, extrem bedroht
zu sein, für sich in Anspruch nehme. Und das kann
ausgesprochen gefährliche Folgen haben - auch für Israel
selbst.
Klug schreibt: „Wenn Israel seine
kriegerische Haltung nicht ändern kann; wenn die
Mentalität des fortgesetzten Krieges weiterhin
vorherrscht, bei dem sich jedes Grenzgeplänkel zur
Schlacht um das Überleben des jüdischen Volkes
auswächst; dann werden die Konsequenzen für Israel
ebenso fatal sein, wie sie für andere tödlich sind. Die
israelische Rhetorik von der ‚Existenz‘, die Teil seiner
kriegerischen Haltung ist, gefährdet genau dies, seine
Existenz.“
Die Anerkennung des Existenzrechts
Israels als Bestätigung seiner kriegerischen Haltung und
Nicht-Bereitschaft zum Frieden ist so gesehen
existenzgefährdend für das Land. Denn wenn man immer
erst die conditio sine qua non erfüllen muss
(also die Anerkennung der Existenz), macht dies jede
offene Diskussion über den Frieden im Nahen Osten
unmöglich. Vermutlich ist es genau das, was Israel will,
denn es kann mit dem gegenwärtigen Status quo ja sehr
gut leben. Aber ob es mit diesem Weg seine eigene
Zukunft verspielt, ist eine ganz andere Frage.
Im Übrigen ist diese Argumentation
Israels relativ neu. Früher hat Israel in
entgegengesetzter Weise argumentiert. So schrieb ein
israelischer Außenminister einmal: „Niemand erweist
Israel einen Dienst, indem er sein ‚‘Existenzrecht‘
proklamiert. Es ist beunruhigend, dass so viele, die
Israel wohl gesonnen sind, diese verächtliche
Formulierung im Munde führen.“ Es war Abba Eban, der
dies am 18. November 1981 in der New York Times
schrieb. Und der israelische Ministerpräsident Menachim
Begin bekannte 1977 in der Knesset: „Ich möchte hier
feststellen, dass die Regierung Israels keine Nation,
sei sie nah oder fern, mächtig oder klein, darum
ersuchen wird, unser Existenzrecht anzuerkennen.“
Welcher Teufel außer blindem
Opportunismus oder nackter Angst vor dem
Antisemitismus-Vorwurf treibt die Linkspartei also an,
die Anerkennung des Existenzrechtes in ihr
Parteiprogramm aufzunehmen? Hätte sie nicht besser daran
getan, die Dinge endlich ehrlich beim Namen zu nennen.
d.h. eine klare Analyse der nahöstlichen Situation zu
liefern und vor allem für das deutsche Publikum die
Begriffe zu klären: Was ist Antisemitismus heute? Denn
der alte Rassen-Antisemitismus der Völkischen und der
Nazis existiert ja - außer in rechtsradikalen
Randgruppen - kaum noch. Israel und seine Anhänger sehen
dagegen überall einen „neuen“ Antisemitismus am Werk,
der jede Kritik an Israels Politik mit diesem
Totschlagargument zum Schweigen bringen will. Ist aber
Kritik an Israels Politik nicht wirklich berechtigt und
ist sie antisemitisch? Ist Zionismus (die Staatsideologe
Israels) mit Judentum identisch und Anti-Zionismus mit
Antisemitismus? Das sind Fragen, über die in der
Bevölkerung weitgehend Unklarheit herrscht und auf die
die Linke in einer breiten Diskussion hätte Antworten
geben müssen. Das hätte die Debatte über den
Nahost-Konflikt in Deutschland ein Stück weiter
gebracht. Aber sie hat nicht einmal auf die
verzweifelten Stimmen der israelischen Linken, die
Solidarität für ihre überaus schwierige Lage
einforderten, gehört.
Zuguterletzt: Dass die Anerkennung des
Existenzrechts nur ein „Knäuel der Verwirrung“ (Klug)
oder eine Bedingung ist, die Friedensverhandlungen
verhindern soll, ist hinlänglich belegt. Was aber
wirklich ansteht, ist die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser durch Israel.
Ein solcher Schritt steht seit Jahrzehnten aus und er
würde wirklich den Weg in Richtung Frieden weisen.