„Das ging zwar gegen Israel als
Staat. Aber das war nur vorgeschoben, um den
Antisemitismus zu kaschieren.“
(Der Präsident
der Bremischen Bürgerschaft Christian Weber über die
Demonstrationen im letzten Sommer gegen den
Gaza-Krieg Israels.)
Dauerbrenner Antisemitismus
Warum
wird Israels Rolle bei der neuen Debatte völlig
ausgeblendet?
Arn
Strohmeyer
Der
Zentralrat der Juden in Deutschland rät deutschen Juden
davon ab, die Kippa zu tragen. Ist es schon wieder so
weit? Ist die SA schon wieder unterwegs auf deutschen
Straßen? Der Antisemitismus sei stark im Ansteigen,
heißt es. Die Muslime sind für den Zentralrat der Stein
des Anstoßes, von dieser Seite kommt angeblich die
Bedrohung. Nun mag es dumme Anpöbeleien, stupide
Schmähungen gegeben haben, von schweren Anschlägen ist
in Deutschland bisher glücklicherweise nichts bekannt.
Wirkliche Aggressionen solcher Art haben sich in den
letzten Jahren eher auf Muslime verlagert, die
eigentlich viel mehr Grund haben, sich in diesem Land
bedroht zu fühlen – siehe PEGIDA und seinen Anhang.
Islamophobie ist viel verbreiteter als Antisemitismus.
Wie ernst
sind die Warnungen vor neuem Antisemitismus zu nehmen
oder handelt es sich hier lediglich um eine
propagandistische Panik-Kampagne? Vor einem Monat gab
eine Bertelsmann-Studie über das Verhältnis der
Deutschen zum Holocaust auch Aufschluss über das
Verhältnis der Deutschen zu Juden bzw. zu Israel. Dass
die Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter das
Kapitel Nationalsozialismus und Holocaust ziehen will,
ist seit langem bekannt, aber sehr bedauerlich, denn
Schlussstriche sind meistens eine Weigerung, sich mit
einer schlimmen Vergangenheit auseinanderzusetzen – und
Verdrängung macht niemals frei. Interessant sind aber
auch andere Zahlen: Die Sympathiewerte für Israel sinken
in Deutschland dramatisch. Im Jahr 2014 hatten nur noch
36 Prozent der Deutschen eine positive Meinung von
diesem Staat, 2007 waren es noch 57 Prozent. Das ist
eine deutliche Aussage, und der Hintergrund ist klar:
Der Nahost-Konflikt, also Israels unrechtmäßiges
Vorgehen gegen die Palästinenser hat seine deutlichen
Spuren hinterlassen.
Zwischen
der ersten und der zweiten Befragung lagen zwei
Gaza-Kriege (2008/09 und 2014), in denen eine wehrlose
Bevölkerung einem furchtbaren Beschuss und Bombardement
ausgesetzt war, wobei Tausende Palästinenser getötet
wurden, bei kaum eigenen israelischen Verlusten. Und
auch die Besatzungspolitik in der Westbank mit
permanenten Landraub, Siedlungsbau, Unterdrückung der
Menschen dort, der Zerstörung von Häusern, Brunnen,
Feldern und Olivenhainen (Polizei und Armee schauen zu
und greifen nicht ein) – wen kann ein solches Vorgehen
gleichgültig lassen, wenn er sich sein Empfinden für
Gerechtigkeit und Moral bewahrt hat?
Täglich
überfallen jüdische Siedler Dörfer der Palästinenser,
Brandanschläge auf Moscheen sind an der Tagesordnung,
Sprechchöre und Graffitis wie „Tod den Arabern!“ oder
„Araber in die Gaskammern!“ oder Schmähparolen an
christlichen Kirchen gehören inzwischen zum Alltag.
Moslems in Deutschland registrieren solche Vorgänge sehr
genau, die moderne Medienwelt bringt diese Ereignisse
bis ins Wohnzimmer. Und da Israel vorgibt, für alle
Juden in der Welt zu sprechen und der Zentralrat
rückhaltlos hinter Israel steht, darf man sich nicht
wundern, dass der Hass bei Moslems und Bürgern aus
arabischen Staaten größer wird und sich auch gegen Juden
in Deutschland richtet. Ist das aber gleich
Antisemitismus? Die sinkenden Sympathiewerte für Israel
sind auch deshalb erstaunlich, weil die deutschen Medien
– wohl aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf – nur
sehr zurückhaltend oder gar nicht über Israels Vorgehen
in den besetzten Gebieten berichten.
Das
Problem eines angeblich neuen Antisemitismus ist ja
keineswegs neu. Auch die Vorgänge in Frankreich und
Dänemark haben keine neue Situation geschaffen. Schon
2008 hat der jüdisch-amerikanische Historiker und
Experte für jüdische Geschichte und Kultur, Matti Bunzl,
über den Hass junger Moslems in Frankreich geschrieben,
den er vom alten traditionellen Antisemitismus absetzt:
„Was den neuen vom alten Antisemitismus unterscheidet,
ist das übergeordnete Projekt. Die traditionelle Form
des Antisemitismus war darauf ausgerichtet, die Juden
aus den Nationalstaaten auszugrenzen. Dies konnte
verschiedene Formen annehmen, von der polemischen
Behauptung der Inkompatibilität der Juden mit der Nation
bis zum Genozid. In all diesen Varianten dieses alten
Antisemitismus wurden Juden als Außenseiter in den
europäischen Nationalstaaten hingestellt, als
Eindringlinge in einer Fantasie von ethnischer
Reinheit.“
Und
weiter schreibt Bunzl: „Sofern der neue Antisemitismus
von Rechtsextremen propagiert wird, ist diese Logik
immer noch am Werk. Wenn wir uns jedoch dem Phänomen von
seiner islamischen Seite her nähern, sehen wir einen
gänzlich anderen Plan. Wenn junge ausgegrenzte Muslime
französische Juden angreifen, dann nicht aus dem
Interesse heraus, ein ethnisch reines Frankreich zu
schaffen. Auch behaupten sie nicht, dass Frankreichs
Juden nicht zu Europa gehören. Im Gegenteil, sie greifen
Juden eben deshalb an, weil sie sie als Teil einer
europäischen Hegemonie begreifen, die sie nicht nur in
Frankreich marginalisiert, sondern die in ihrer Sicht
auch für das Leiden der Palästinenser verantwortlich
ist. In der arabischen Welt wird Israel letztlich vor
allem als europäische Kolonie begriffen. Die Gewalt von
Muslimen gegen Juden in Europa als Ausdruck
antikolonialen Kampfes zu bezeichnen, heißt nicht, sie
zu verteidigen. Es macht jedoch klar, wie sehr sich
alter und neuer Antisemitismus unterscheiden. Während
ersterer darauf angelegt war, Juden aus den
Nationalstaaten Europas auszugrenzen, greift letzterer
Juden eben deshalb an, weil sie Teil Europas sind.“
Bunzl
warnt aber vor falschem Alarm und bezeichnet den „neuen
Antisemitismus“ verglichen mit dem alten als
„irrelevant“ und „bedeutungslos“. Noch weiter geht der
Israeli Uri Avnery, der jetzt in einer Kolumne schrieb:
„All diese Gewalttaten [in Paris und Kopenhagen] wurden
von jungen Muslimen begangen, die meistens arabischer
Abstammung sind. Sie waren und sind ein Teil des
fortwährenden Krieges zwischen Israel und und den
Arabern. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie
haben nichts mit dem Pogrom in Kishinew [1903] und
nichts mit den Weisen von Zion zu tun.“ Er sieht den
Grund für die Gewaltbereitschaft junger Muslime im Hass
auf ihre Gastländer, weil sie sich dort verachtet,
gedemütigt und diskriminiert fühlten. Der zweite Grund
sei der fortdauernde arabisch-zionistische Konflikt, der
mit der Masseneinwanderung von Juden ins arabische
Palästina begonnen habe, sich mit der langen Liste von
Kriegen fortgesetzt habe und jetzt in voller Blüte
stehe. Praktisch jeder Araber in der Welt und die
meisten Muslime seien gefühlsmäßig mit diesem Konflikt
eng verbunden. Das alles habe nichts mit Antisemitismus
zu tun. Und zur angeblich neuen Antisemitismus-Welle
schreibt Avnery: „Warum also besteht die ganze
israelische Propaganda-Maschinerie einschließlich aller
israelischen Medien darauf, dass Europa einen
katastrophalen Anstieg von Antisemitismus erlebt? Um die
europäischen Juden nach Israel zu rufen!“ Was der
israelische Ministerpräsident Netanjahu in den letzten
Tagen und Wochen auch permanent getan hat.
Der
Zentralrat und die deutschen Mainstream-Medien stellen
keinen Zusammenhang zwischen Israels Politik und dem
angeblich zunehmenden Antisemitismus her. Das ist ein
absolutes Tabu. Man weigert sich also, die wirklichen
Ursachen des Hasses zur Kenntnis zu nehmen, der
„Antisemitismus“ fällt also irgendwie ursachenlos vom
Himmel. Aufgeklärte Juden bzw. Israelis haben allerdings
kein Problem, Ursachen und Gründe zu nennen. So schreibt
der israelischen Historiker Moshe Zuckermann in seinem
neuen Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus
seinen Untergang betreibt über diesen Zusammenhang:
„Je mehr sich Israel in der Gewaltausübung der
Okkupation verfing desto intensiver steigerte sich die
Betonung, selbst Opfer zu sein, mithin die Bezeichnung
aller Kritik an Israels Politik als Antisemitismus. Es
geht dabei um bewusste ideologische Manipulation, was
nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass in der
Manipulation auch eine Schuldabwehr angelegt ist.“
Israel
kann und darf seine Schuld für das Unrecht, das es den
Palästinensern angetan hat und immer noch antut, aber
nicht zugeben, will es nicht seinen eigenen Opferstatus
und das ganze zionistische Projekt in Frage stellen.
Genau dieser Sachverhalt der Aktivierung des
Antisemitismus-Vorwurfs trat während des Gaza-Krieges im
Sommer 2014 deutlich zu Tage: je brutaler Israel dort
Gewalt ausübte, desto lauter tönte dieser Vorwurf, der
natürlich vor allem die Funktion hat, jede Debatte über
Israels Politik zu unterbinden.
Am
Zusammenhang zwischen Israels Politik und der schlechten
Meinung über diesen Staat in der deutschen Bevölkerung
besteht gar kein Zweifel. Nach dem ersten Gaza-Krieg
2008/2009 veröffentlichte sogar das israelische
Außenministerium auf seiner Webseite eine Statistik, die
darstellte, wie sehr die Attacke gegen den Gaza-Streifen
„antisemitische“ Vorfälle in der Welt hat ansteigen
lassen. Aber handelt es sich dabei wirklich um
Antisemitismus? Denn was soll an einer moralischen
Ablehnung einer solchen brutalen Politik, bei der man
sich auf die Menschenrechte und das Völkerrecht berufen
kann, „antisemitisch“ sein? Hier werden die israelische
Regierung und ihre Vertreter im Ausland zum Opfer ihrer
eigenen Ideologie: Wenn jede berechtigte Kritik an einer
menschenverachtenden Politik gleich zum „Antisemitismus
erklärt wird, dann diffamiert man auch die Gutwilligen
und Aufrichtigen, die eigentlich hinter Israel stehen
möchten.
Was die
Sicherheit der Juden in der Diaspora, also auch in
Deutschland angeht, sei hier aus einem Aufsatz des
deutsche-jüdischen Historikers Dan Diner zitiert. Er
schreibt, dass die Juden, die außerhalb Israels leben am
meisten durch die Politik dieses Staates gefährdet
seien: „Ein Gemisch von latentem Antisemitismus und den
Auswirkungen israelischer Politik verschärft das Problem
jüdischer Existenz auch in solchen Ländern, in denen
bisher manifester Antisemitismus unbekannt war. Im
Unterschied zum traditionellen Antisemitismus, bei
dessen lokalem Ausbrechen Juden sich im Prinzip an einen
anderen Ort flüchten können, dehnt die israelische
Beanspruchung der Juden in der Welt für die Politik des
jüdischen Staates ihre Gefährdung weltweit aus.“
Die
Gefährdung der Juden in der Welt gehe vom
Palästina-Konflikt aus, schreibt Diner weiter, und die
Lösung des Dilemmas – also ein Mehr an Sicherheit für
die Diaspora-Juden – könne nur in einem Bemühen um
Konfliktbereinigung im Nahen Osten im Sinne einer
Anerkennung der Rechte der Palästinenser liegen – also
in einer Einmischung in die israelische Politik. Nur
indem die Juden außerhalb Israels auf Distanz zu dessen
Politik gehen und lernen, „sich ein post-zionistisches
Dasein vorzustellen“, könnten sie ihre eigenen
Sicherheit erhöhen.
Diner
schrieb diese Zeilen 1983 – also vor 32 Jahren! Sie
sind so aktuell, als hätte er sie gestern verfasst –
woraus man ersehen kann, welch politischer Stillstand in
Israel herrscht und dass auch die ideologischen
Verteidiger dieses Staates sich seitdem keinen Schritt
nach vorn bewegt haben. Dann darf man sich über die
Folgen nicht wundern, aber mit Antisemitismus hat das
wenig oder nichts zu tun.