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Über „Lücken“ und „doppelte
Standards“ in der Israel-Berichterstattung
Eine Studie des Politologen Ulrich Teusch
gibt aufschlussreiche Einblicke in den deutschen
Mainstream-Journalismus
Arn Strohmeyer
Das Wort „Lügenpresse“ hat in Deutschland
die Runde gemacht – ein Begriff, der in Pegida- und
AfD-Kreisen aufgekommen ist und deshalb mit äußerster
Vorsicht zu behandeln ist. Nun wird zweifellos in der
Politik und im Journalismus bisweilen gelogen, oder
Journalisten verbreiten von Politikern in die Welt gesetzte
Lügen. Da die Behauptung einer „Lügenpresse“ aber ein
diffuser Vorwurf ist, der ausschließlich polemisierend und
diffamierend gemeint ist, taugt das Wort wenig als Beitrag
zu einer Debatte, die an sich begrüßenswert und nützlich
ist: über den Vertrauensverlust, der sich in der
Gesellschaft gegenüber den Medien herausgebildet hat.
Der Politologe und Betreiber eines
medienkritischen Blogs, Professor Ulrich Teusch, lehnt den
Begriff „Lügenpresse“ denn auch ab und spricht vielmehr von
einer „Lückenpresse“. Unter diesem Titel hat er jetzt ein
Buch herausgebracht. Die „Lücken“ sind für ihn das
eigentliche Problem der heutigen Medienwelt. Er
konkretisiert seine Kritik: Lücken entstehen, wenn bestimmte
Nachrichten regelrecht und ganz gezielt unterdrückt werden.
Der Begriff bezieht sich aber auch auf die Bewertung von
Nachrichten. Soll heißen: Die eine Nachricht wird künstlich
hoch gespielt, die andere wird irgendwo gemeldet, aber
bewusst unten gehalten oder sogar weggelassen. Entscheidend
ist auch der Kontext, in dem Nachrichten erscheinen: Die
eine Nachricht wird tendenziös eingebettet, mit einem „spin“
versehen, die andere aber nicht.
All diese Mechanismen verstärken sich
wechselseitig, und wenn sie regelmäßig auftreten oder sich
bei bestimmten Themen zu einem flächendeckenden Phänomen
anwachsen, entstehen Narrative, also große journalistische
Deutungsmuster oder Erzählungen. In diese Narrative werden
dann alle neu einlaufenden Informationen eingeordnet. Wenn
sie ins Narrativ passen, ist ihnen Aufmerksamkeit gewiss,
falls nicht, trifft sie das Lückenschicksal. Teusch weist
auf die Gefahren solcher Narrative hin: „Dass Journalisten
solche Narrative bedienen, halte ich für absolut
inakzeptabel und indiskutabel.“ Ein Journalismus, der sich
Narrativen fügt, ist ein Widerspruch in sich selbst. Er kann
schlimme Folgen haben. Aber natürlich erfordert es Courage,
sich einem dominanten Narrativ zu widersetzen, womit das
Thema Selbstzensur angesprochen ist. Als weiteres Kriterium
für die Vertrauenskrise der Medien führt Teusch die
„doppelten Standards“ an. Das heißt: Nachrichten werden in
tendenziöser Weise bewertet, es wird also mit zweierlei Maß
dabei gemessen. Alle diese Merkmale hängen eng miteinander
zusammen und verstärken sich wechselseitig. Zudem kommen
diese Phänomene nicht zufällig zustande, sondern sind
strukturell verankert und natürlich interessengeleitet.
Teusch konkretisiert seine Kritik am
Mainstream-Journalismus, indem er die genannten Merkmale vor
allem auf die Berichterstattung über Russland und dessen
Staatschef Putin sowie die Ukraine anwendet. Dass die
Mainstream-Medien ein Russland-Bashing betreiben und sich
fast wieder im Kalte-Kriegs-Modus befinden, ist bekannt. Als
gutes Beispiel für einen „doppelten Standard“ führt der
Autor die Kritik der meisten Medien an Russlands Vorgehen
auf der Krim an. Wenn man die Annexion der Halbinsel als
„völkerrechtswidrig“ bewerte (was man natürlich könne), die
völkerrechtliche Dimension bei den gewaltsamen
Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, (bei
denen der Westen eine entscheidende Rolle spielt) aber
komplett ausblende, dann zeige das das ganze Dilemma auf.
Der Autor geht leider nicht auf die
„Lücken“ und „doppelten Standards“ der Berichterstattung
über Israels Politik gegenüber den Palästinensern ein, er
wäre hier natürlich außerordentlich fündig geworden. Denn
noch viel mehr als bei den Themen Russland und Ukraine
bestimmen hier die Merkmale „Lücken“ und „doppelte
Standards“ die journalistische Agenda, nirgendwo sonst
klaffen politische Realität und ihre journalistische
Abbildung so weit auseinander. Wohl in keinem anderen
Bereich gibt es so fest gefügte, fast schon zu Dogmen
gewordene „Narrative“ und „Deutungsmuster“. Fast so gut wie
immer werden die politischen Vorgaben und ideologischen
Parameter Israels kritiklos übernommen, ohne sie zu
hinterfragen: Die einzige Demokratie im Nahen Osten, das
Opfer arabischer Gewalt, das sich gegen den
palästinensischen Terrorismus wehren muss. Das ist dann auch
das vorherrschende Narrativ, in das alles andere eingeordnet
wird.
Wann und wo hat es einmal ein objektive
und wahrheitsgemäße Berichterstattung deutscher Medien (ob
Printmedien, Rundfunk oder Fernsehen) über die Brutalitäten
der israelischen Besatzung gegeben, die nächtlichen Razzien
mit ihren Demütigungen und Verhaftungen; die Tausende von
Gefangenen in israelischen Gefängnissen – darunter Hunderte
Kinder; die Zerstörung palästinensischer Dörfer und Häuser
sowie die Vertreibung ihre Bewohner; die Schikanen an den
Checkpoints; die tägliche Gewalt der Siedler gegen die
palästinensische Bevölkerung und den staatlich legitimierten
Landraub zum Bau von Siedlungen, der einem ganzen Volk die
Existenzgrundlage entzieht. Von dem durch Israels Kriege
produzierten Elend der Menschen im völlig abgeriegelten
Gazastreifen ganz abgesehen. Wann hat man diese Politik
einmal in deutschen Mainstream-Medien mit dem Völkerrecht
und den Menschenrechten konfrontiert? Wann hat man die Dinge
einmal beim Namen genannt und Israel als das bezeichnet, was
es in Wirklichkeit ist: ein siedlerkolonialistischer Staat?
Wann hat man einmal offen ausgesprochen, dass die
Unrechtspolitik dieses Staates zu kritisieren nichts mit
Antisemitismus zu tun hat?
Wenn ein deutscher Fachmann, der
Hydrologe Clemens Messerschmidt, der seit zwanzig Jahren in
Israel/Palästina lebt und arbeitet, in einem kurzen
Statement in der „Tagesschau“ auf die von der israelischen
Besatzungsmacht bewusst herbeigeführte Wassernot der
Palästinenser hinweist, dann steht sofort der
Antisemitismus-Vorwurf im Raum, die Leitung des Senders
entschuldigt sich devot bei der israelischen Lobby für das
Missgeschick und verspricht, das Thema noch einmal
„ausführlich und objektiv“ zu behandeln. Selbstzensur,
mangelnde Zivilcourage, „Lücken“ allergrößten Ausmaßes und
„doppelte Standards“ kennzeichnen die
Israel-Berichterstattung der deutschen Mainstream-Medien.
Ulrich Teusch hat ein sehr wichtiges Buch
geschrieben, vor der konkreten Anwendung seiner Kriterien
auch auf Israel ist er aber zurückgeschreckt. Am Schluss
seines brillant geschriebenen Textes stellt er einige Regeln
auf, die ganz allgemein gelten und die deutsche
Israel-Berichterstattung zwar nicht direkt erwähnen, aber
sich gut auf sie anwenden lassen: „Guter Journalismus
fungiert als gesellschaftliches Frühwarnsystem. Um das zu
leisten, darf er keine Tabuthemen akzeptieren, sich keinen
Sprachregelungen oder irgendwelchen gerade angesagten Dogmen
der politischen Korrektheit unterwerfen. [...] Wo immer
dominante Narrative auftauchen, haben integere Journalisten
die Pflicht, sie auf den Prüfstand zu stellen, die andere
Seite zu zeigen, Gegengewichte zu schaffen. Dazu braucht es,
zugegeben, ein klein wenig Courage; man macht sich mit so
etwas nicht unbedingt beliebter, man eckt an, vermasselt
sich vielleicht sogar die Karriere. Aber was wäre die
Alternative: einfach mitzumachen?“
18.11.2016
Ulrich Teusch: Lückenpresse. Das Ende des
Journalismus, wie wir ihn kannten, Westend Verlag Frankfurt/
Main 2016, ISBN 978-3-86489-145-8, 18 Euro
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