Was hat die Beschneidung mit
dem Holocaust zu tun?
Eine Erwiderung
auf Charlotte Knoblochs Artikel
in der Süddeutschen Zeitung vom
5.9. 2012
Arn
Strohmeyer
Sehr geehrte Frau
Knobloch,
Sie haben in
einem Artikel für die SZ das
Urteil der Kölner Richter, das
Beschneidung als Straftat
verbietet, direkt mit dem
Holocaust in Verbindung gebracht
und hängen gleich die Frage an,
ob dieses Land (Deutschland) die
Juden noch haben will. Ich kann
beim besten Willen den
Zusammenhang zwischen dem Spruch
der Kölner Richter und dem
Massenmord an den europäischen
Juden durch die Nazis nicht
sehen. Die Richter hatten eine
ganz andere Intention: Sie
wollten die körperliche
Unversehrtheit schützen, auf die
jeder Mensch nach dem
Grundgesetz ein Recht hat, und
nicht zum Mord an einer
religiösen Minderheit aufrufen.
Sie schreiben, „dass die ganze
Republik sich über das Pro und
Kontra der Entfernung eines
winzigen Hautstückes ereifert.“
Da muss man umgekehrt fragen,
wenn dieses Hautstück so winzig,
also offenbar so unbedeutend
ist, wie kann dann die jüdische
Religion, ja sogar die jüdische
Identität von diesem kleinen
Hautstück abhängen?
Ihren
Ausführungen muss man entnehmen,
als hätten die Kölner Richter
ganz bewusst ein
judenfeindliches, ja sogar
antisemitisches Urteil gefällt,
das für alle Juden in
Deutschland ein Warnzeichen ist,
dass es „wieder so weit ist“.
Dass es also höchste Zeit ist,
die Koffer zu packen. Das ist
eine dreiste Unterstellung.
Nichts davon hatten die Richter
im Sinn. Ihnen ging es allein um
die Frage: Was zählt mehr: die
unveräußerlichen und
unveränderbaren Grundrechte, zu
denen die Unverletzlichkeit der
Menschenwürde und das Grund- und
Menschenrecht auf körperliche
Unversehrtheit sowie auf
individuelle Selbstbestimmung
gehören, oder archaische und
atavistische Bräuche aus der
Vorzeit, die im Namen der - auch
in der Verfassung verbürgten -
Religionsfreiheit noch ausgeübt
werden. Die Richter haben sich
klar für das Primat der Politik
über die Religion, d.h. für die
universal geltenden
Menschenrechte entschieden, also
für die Unteilbarkeit der
Grundrechte. Hätten sie nicht so
entschieden, hätten moslemische
Gruppen für sich etwa die
Einführung der Scharia fordern
können.
Das Kölner Urteil
kann sich mit seiner Berufung
auf universalistische Prinzipien
auf die besten Traditionen der
Aufklärung und der Humanität
berufen. Hier eine Verbindung
zum Holocaust herzustellen, ist
grotesk. Universalistisches
Denken war im Übrigen immer eine
Stärke großer jüdischer Denker.
Sie scheinen sich aber vielmehr
atavistischen Stammeskriterien
verpflichtet zu fühlen und
verlangen, dass eine aufgeklärte
Gesellschaft bzw. Rechtsprechung
sich solchen Prinzipien
unterwerfen müsse. Man darf froh
sein, dass Deutschland solche
ethnisch-völkischen Atavismen
überwunden hat.
Im Übrigen haben
mich einige weitere Aussagen in
Ihrem Artikel betroffen gemacht.
Wenn ein Günter Grass vor einem
Angriff Israels auf den Iran
warnt, weil ein solche Krieg
eine Weltkatastrophe auslösen
und damit auch die Existenz
Israels bedrohen könnte, kann
ich nicht sehen, was daran so
schrecklich ist, dass Sie eine
solche Zumutung „ertragen“
müssen. Was den Aufruf angeht,
Produkte aus Israel zu
boykottieren, den Sie
kritisieren, muss ich Ihnen als
Teilnehmer dieser Aktion
widersprechen. Wir boykottieren
keine Produkte aus Israel,
sondern aus den von Israel
besetzten Gebieten, weil diese
völkerrechtlich nicht zu Israel
gehören. Waren aus diesen
Gebieten dürfen nach einem
Urteil des Europäischen
Gerichtshofes deshalb auch nicht
das Label „Made in Israel“
tragen und so in die EU
eingeführt werden.
Dass
Selbstmordattentate schrecklich
sind, bedarf keiner weiteren
Erläuterung. Aber Bombenangriffe
auf eine wehrlose Bevölkerung
(mit geächteten Waffen wie
weißen Phosphor) wie im
Gaza-Krieg 2008/2009 sind nicht
weniger schrecklich. Haben Sie
sich einmal Gedanken darüber
gemacht, warum Menschen bereit
sein können, sich selbst in die
Luft zu jagen und andere
mitzureißen in den Tod? Könnte
es mit dem unerträglichen Leben
und der Verzweiflung zu tun
haben, zu denen die Menschen
unter der israelischen Besatzung
verurteilt sind? Ein gerechter
Frieden im Nahen Osten, der auch
den Palästinensern ihre
Menschenwürde und das
Selbstbestimmungsrecht geben
würde, wäre die sicherste
Garantie, die Gewalt auf beiden
Seiten zu beenden.
Mit freundlichem
Gruß
Arn Strohmeyer