Die deutschen Medien brauchen offenbar ihren permanenten Antisemitismus-Skandal
Der Streit um die Kasseler Documenta ist nur das letzte traurige Beispiel
Arn Strohmeyer - 1.05.2022
Wenn in diesem Land jemand „Antisemitismus“ schreit, dann läuten alle Alarmglocken und Deutschlands Politik- und Kulturredakteure in den Leitmedien stehen dann sofort stramm und stimmen in den Chor ein. Das große Lamentieren und Anklagen beginnt dann umgehend. Das vorletzte Beispiel war der Auftritt des Pop-Sängers Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel. Dass diese peinliche Ein-Mann Show – geboren aus Geltungsbewusstsein, Publicity-Sucht oder jüdischer Paranoia – allerdings ein Schuss nach hinten bzw. ein Rohrkrepierer war und dem nötigen Kampf gegen den Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen hat, war ein Beleg dafür, wie aufgeladen und hysterisch in dieser Beziehung die politische Atmosphäre hierzulande ist. In diesem Fall haben die ermittelnden Staatsanwälte aber kühlen Kopf bewahrt und Zivilcourage gezeigt. Sie ließen sich von den Antisemitismus-Hysterie der Medien nicht beeinflussen, sondern haben nüchtern und sachlich die Fakten ermittelt. Und die sahen ganz anders aus, als Gil Ofarim es uns weismachen wollte.
Aber die deutschen Medien brauchen offenbar ihren permanenten Antisemitismus-Aufreger. Sie haben ihn gegenwärtig Gottseidank in der Kunstschau Documenta in Kassel gefunden. Da haben zwei obskure antideutsche Gruppen (eine in Kassel, die andere in Essen) dem indonesischen Kuratorenkollektiv ruangrupa Antisemitismus vorgeworfen, weil es eine Künstlergruppe aus Ramallah im besetzten Westjordanland zur Documenta eingeladen hat. Diese Gruppe trägt den Namen des palästinensischen Intellektuellen Khalil Sakakini (1878 – 1953). Sie soll BDS nahestehen und deshalb natürlich antisemitisch sein. Und der Namensgeber Sakakini wurde gleich als Nazi-Anhänger denunziert.
Der Journalist Thomas E. Schmidt schrieb auf ZEITonline: „Al-Sakakini war ein arabischer Nationalist und Nazi-Sympathisant. Er rief zum Kampf gegen Juden auf und ist heute ein palästinensischer Säulenheiliger.“ Der ZEIT-Journalist schätzt den Fall als so schwerwiegend ein, dass er die „Strahlkraft“ der Documenta als beschädigt ansieht und warnend prophezeit: „Wenn sich die Documenta nicht überzeugend aus dem Gestrüpp der Israel-Feindschaft und des Antisemitismus befreit, könnte die 15. [Documenta] die letzte ihrer Art sein.“
Nun kann man von renommierten und seriösen Journalisten erwarten, dass sie nicht einfach irgendwelche Verdächtigungen von Denunzianten übernehmen, sondern der Sache mit eigenen Recherchen nachgehen, soll heißen: zu recherchieren, welche Positionen die palästinensische Künstlergruppe wirklich vertritt und wer Khalil Sakakini war. Daran anzuknüpfen wären dann die Frage, ob es sich da tatsächlich um Antisemitismus handelt, das heißt, ob hier wirklich antisemitische Stereotypen auf den Staat Israel und seiner Politik angewandt werden, oder ob es sich um berechtigte Kritik am zionistischen Vorgehen gegen die Palästinenser handelt.
Dass es sich bei Menschen, die seit über 50 Jahren unter der brutalen Besatzungsherrschaft Israels leben müssen, nicht um Verehrer und Anhänger des Zionismus handeln kann, versteht sich von selbst. BDS ist ein programmatischer Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft, der mit gewaltfreien, friedlichen Mitteln, die auch Boykott einschließen, ein Ende der militärischen Unterdrückung dieses Volkes, seine Freiheit, Selbstbestimmung und die Einhaltung von Menschenrechten und Völkerrecht einfordert. Was ist daran antisemitisch?
Der Wissenschaftler Jens Hanssen, ein Experte für die Geschichte des Nahen Ostens, der an der Universität von Toronto lehrt, hat nun Recherchen zur Biographie von Khali Sakakini angestellt und kommt zu ganz anderen Ergebnissen als die Denunzianten aus Dortmund und Kassel sowie der ZEIT-Journalist. Er zitiert zunächst, was Wikipedia über den palästinensischen Intellektuellen schreibt: „In den 1930er Jahren wurde er zu einem Anhänger des Nationalsozialismus, in der Hoffnung, dass Nazideutschland die Briten schwächen würde. [Großbritannien war damals die Mandatsmacht in Palästina und arbeitete eng mit den eingewanderten Zionisten zusammen.] Er befürwortete die Politik von Adolf Hitler und übernahm die von ihm propagierte Idee der jüdischen Weltverschwörung.“ Hier haben sich die Kasseler und Dortmunder Antideutschen ganz offensichtlich bedient, ohne eigene Nachforschungen anzustellen.
Nun weiß man um die Fragwürdigkeit mancher Wikipedia-Aussagen gerade über den Nahen Osten. Es ist kein Geheimnis, dass hier die Israel-Lobby kräftig mitschreibt. Jens Hanssen nennt die Vorwürfe gegen Sakakini völlig „unangemessen“ und fügt hinzu: „Gerüchte entstehen in der Regel durch die Wiederholung von falschen Informationen, sie verbreiten sich besonders schnell über Gruppen, die sich nicht wehren können oder wehren dürfen.“
Hannsen erhebt dann schwere Vorwürfe gegen die Verbreiter solcher Informationen: „Solche Unterstellungen sind alles andere als harmlos und liefern in diesem Kontext auch indirekt Rückendeckung für die israelische Misshandlung von Palästinensern/innen und für antipalästinensischen Rassismus in Deutschland. Dennoch werden diese und ähnliche Anschuldigungen seit Monaten wiederholt, ohne dass sich die Nahost-Wissenschaft in Deutschland die Mühe macht, sie zu widerlegen.“
Hannsens Recherchen ergaben: Sakakini war ein Lehrer, Reformpädagoge und universal gebildeter Schriftsteller und kosmopolitischer Geist, ein Aufklärer im besten Sinne. Er schrieb ab 1907 an einem Tagebuch, das jetzt in acht Bänden vorliegt. Zu seiner politischen Einstellung schrieb er: „Was ist Nationalismus? Wenn Nationalismus heißt, dass ein Mensch gesund, stark, energisch, klardenkend, edelmütig und großzügig ist, dann bin ich Nationalist. Wenn aber Nationalismus heißt, von Ideologie getrieben zu sein oder einen Bruder abzulehnen, der aus einem anderen Land kommt, oder eine andere Ideologie hat, dann bin ich kein Nationalist.“ Als Lehrer unterrichtete er auch Juden. Einer seiner Schüler, der deutsche Jude Gideon Weigert, schrieb später über ihn in einem Nachruf: „Dein Anstand und Deine Menschlichkeit hatte auf uns einen trutzigen Einfluss. Dein Unterricht und Deine Vorlesungen pflanzten in uns Ideen für die Zukunft. Du lebst in unserem Geist weiter.“
In einem Brief vom 23. Januar 1934 warnte Sakakini seinen Sohn vor den Nazis. Er bezeichnete sie als „neue religiöse Bewegung in Deutschland“ und fügte hinzu: „Glaube ja nicht, dass Hitler der Luther unserer Zeit ist.“ Nazismus sei vielmehr eine Folge von Krisen und Katastrophen, die die gesamte Menschheit auf den Holzweg führen werde und uns alle noch zu Bestien werden lasse. 1936 unterstützte er die Palästinenser in ihrem Aufstand gegen die britische Mandatsmacht. Dieses Engagement bereitete ihm aber Sorgen. Er schrieb an seinen Sohn, dass er „den Schmerz der Revolte für Araber, Engländer und Juden gleichermaßen fühle. Deshalb wirst Du mich manchmal auf der Seite der Araber finden, manchmal auf Seiten der Engländer und manchmal auf der der Juden.“
In den Tagebuchpassagen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegers feiert er nicht die Nazis, sondern hadert mit der Doppelmoral der Alliierten und der Art, wie der Zionistenführer Ben Gurion die jüdischen Flüchtlinge zu Siedlern instrumentalisiert. Hanssen schreibt, dass Sakakini tatsächlich hier und da mit den Achsenmächten sympathisiert habe – aber in Nordafrika, nicht in Europa; und aus der Perspektive Palästinas, nicht aus der Deutschlands. Es versteht sich von selbst, dass er sich wegen der zunehmenden Landnahme der Zionisten in Palästina und dessen Besiedlung Sorgen um die Zukunft seines Volkes machte. In einem Gespräch mit dem Direktor der Hebräischen Universität in Jerusalem, Judah Magnes, erklärte Sakakini, er habe Rommels Vormarsch in Libyen deshalb unterstützt, weil er hoffte, dass dann die Masseninhaftierungen von Palästinensern, die Ausgangssperren und Wohnungszerstörungen in Palästina endlich aufhören würden.
Der israelische Historiker Tom Segev hat das Leben und politische Wirken Khalilis in seinem Buch Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels ausführlich beschrieben. Er schildert ihn als einen weltbürgerlichen Humanisten, der in der äußerst unruhigen und bewegten Zeit der britischen Mandatsherrschaft über Palästina und des Zweiten Weltkrieges im Konflikt stand zwischen seinem kosmopolitischen Anspruch und dem nationalen Engagement für sein Volk, dessen Existenz von einer fremden Macht bedroht wurde. Das Wort „Antisemit“ benutzt Segev in Bezug auf Sakakini kein einziges Mal.
Wie die Denunziation des afrikanischen Intellektuellen Achille Mbembe als „Antisemit“ ist auch die Affäre um die Kunstschau Documenta nichts weiter als ein von interessierter Seite aufgeputschter Skandal, der in Wirklichkeit gar keiner ist. Der wirkliche Skandal besteht darin, dass man einem unterdrückten Volk verbietet, sein geschichtliches und politisches Narrativ zu erzählen und jede Äußerung in dieser Richtung sofort als Antisemitismus denunziert. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat jetzt in einem Brief an die Kulturstaatsministerin Claudia Roth gefordert, dass im Rahmen der Documenta keine antisemitischen Kunstwerke ausgestellt und kein Israelhass propagiert werden dürften.
Aber wo verläuft die Grenze zwischen wirklichem Israelhass und berechtigter Kritik an der Politik eines Apartheidstaates – so haben Amnesty International, die israelische und die amerikanische Menschenrechtsorganisationen Betselem und Human Rights Watch Israel bezeichnet. Schusters Vorstoß ist nicht nur deshalb höchst fragwürdig, er ist auch ein massiver Eingriff in die vom Grundgesetz garantierte Meinungs- und Kunstfreiheit. Warum sollen Menschen, die von zionistischen Juden unterdrückt werden und unter einem brutalen Okkupationsregime leben müssen, ihre verzweifele Lage nicht künstlerisch darstellen können. Was hat das mit Antisemitismus zu tun? Hier liegt wieder ein anschauliches Beispiel dafür vor, wie Israel mit seinem verbrecherischen Vorgehen gegen ein ganzes Volk mit dem Antisemitismus-Vorwurf vor Kritik geschützt werden soll.
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