Das Lehrbeispiel BDS
Wie die
Israel-Lobby den politischen Gegner verteufelt und mit
Orwellschen Methoden versucht, eine gar nicht existierende
Realität zu propagieren
Arn Strohmeyer
Von dem große Aufklärer Voltaire
stammt der Satz: „Wenn Du wissen willst, wer Dich beherrscht,
musst Du nur herausfinden, wen Du nicht kritisieren darfst.“ Der
geistreiche Franzose konnte dabei natürlich nicht die heutige
Situation um den Staat Israel im Auge haben, aber sein Satz
trifft auf diesen Sachverhalt genau zu. Abi Melzer hat in seiner
Kolumne über „Das ‚liberale‘ Frankfurt geschrieben: „Es gibt
offensichtlich nur einen Staat, der die Macht hat, in
Deutschland Politik zu beeinflussen und Politik zu machen, und
das ist der Staat Israel.“ Die von der Israel-Lobby erzwungenen
Absagen und Verbote von Veranstaltungen, die sich kritisch mit
der israelischen Politik auseinandersetzen wollen, legen davon
beredtes Zeugnis ab. Sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen
dieses Artikel sprengen, und fast täglich kommen neue Absagen
und Verbote hinzu. Zivilcourage und aufrechter Gang waren in
Deutschland noch nie vorherrschende Tugenden
Ein solches Vorgehen – besonders
gegen die BDS-Kampagne – ist nicht nur ein eklatanter Verstoß
gegen die im Grundgesetz garantierte Presse-, Meinungs-, Rede-
und Informationsfreiheit, es ist auch insofern höchst
fragwürdig, weil die Kritik an Israels Politik vom Völkerrecht
aus gesehen völlig legitim ist. So schreibt der Völkerrechtler
Norman Paech: „Der palästinensische Aufruf von 2005 ist der
legitime Ausdruck zivilen Widerstandes gegen eine Besatzungs-
und Siedlungspolitik, die in all ihren Aspekten der
Diskriminierung, der Vertreibung, der Annektion und des
Landraubs eindeutig und unbestritten völkerrechtswidrig ist.
Dies ist seit 1948 in hunderten von UN-Resolutionen sowie vom
Internationalen Gerichtshof in seinem Gutachten von 2004
wiederholt und bestätigt worden.“
Und weiter: „Dennoch haben alle
internationalen Interventionen und Friedensbestrebungen die
israelische Regierung nicht dazu bewegen können, die
grundlegenden Prinzipien der internationalen Konventionen und
des allgemeinen Völkerrechts anzuerkennen und die Besatzung und
Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung aufzugeben.
Scheitert die internationale Politik, Israel zur Beachtung des
Völkerrechts zu bewegen, verbleibt der palästinensischen und
internationalen Zivilgesellschaft als letztes Mittel des
gewaltfreien zivilen Widerstandes der Boykott gegen Israel, so
wie sie es seinerzeit gegen die völkerrechtswidrige
Apartheid-Politik Südafrikas praktiziert hat.“
Interessant und aufschlussreich
ist nun, wie Israel selbst und seine Anhänger den Mangel an
Argumenten zu überbrücken versuchen: Da gibt es nicht nur den
stets wiederholten Antisemitismus-Vorwurf, der schon deshalb
unsinnig ist, weil der legitime Widerstand gegen eine
völkerrechtswidrige Besatzungspolitik niemals antisemitisch sein
kann – unter der Voraussetzung, dass das internationale Recht
eingehalten wird. Aber damit nicht genug. Da werden ganz neue
politische Fakten erfunden und den Kritikern der israelischen
Politik und den BDS-Aktivisten unterstellt: Sie
dämonisierten
und delegitimierten Israel, sie leugneten sein Existenzrecht und
wollten den jüdischen Staat zerstören. Den Kritikern ginge es
gar nicht um die Menschenrechte, das Völkerrecht und die
Palästinenser, diese seien nur ein Mittel zum Zweck, damit die
Aktivisten ihren Hass auf Israel ausleben könnten. Sie
arbeiteten eng mit palästinensischen Terrorgruppen und Neonazis
zusammen und und...
Den Gipfelpunkt
solch abstruser Unterstellungen leistete sich der britische
Rabbi Sacks in seiner Rede vor dem Europa-Parlament im
vergangenen Jahr. Der heutige Antisemitismus trete als
„Antizionismus“ auf und bedeute: „den Juden das Recht
abzusprechen, mit den gleichen Rechten wie alle anderen Menschen
als Juden zu existieren.“ Den „Antisemiten“ wirft er folgende
Argumentation vor: „Wir [die Antisemiten] sind unschuldig, sie
[die Juden] sind schuldig. Um frei zu sein, müssen wir sie, die
Juden oder den Staat Israel, zerstören. So beginnen die schweren
Verbrechen.“ Wer das genau ist – die Antisemiten und
Antizionisten, die die Juden eliminieren und den Staat Israel
zerstören wollen – , sagt der Rabbi nicht. Aber da Antisemiten
dem Rabbi zufolge „davon überzeugt sind, nicht antisemitisch zu
sein“, kann mit diesem Vorwurf eigentlich jeder konfrontiert
werden.
Und gerade die
Aktivisten, die sich für Menschenrechte und Humanität in Israels
Politik gegenüber den Palästinensern und eine friedliche Lösung
des Konflikts einsetzen, sind offenbar die gefährlichsten
Antisemiten. Der Rabbi schreibt: „Heute sind Menschenrechte die
oberste Autoritätsquelle der Welt. Daher wird Israel – die
einzige uneingeschränkt funktionierende Demokratie mit einer
freien Presse und unabhängigen Justiz im Nahen Osten –
regelmäßig einer der fünf Todsünden des Menschenrechts
bezichtigt: Rassismus, Apartheid, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, ethnische Säuberung und versuchter Völkermord.“
Der Rabbi vermeidet es natürlich tunlichst, auf diese Vorwürfe
im Einzelnen einzugehen, dann müsste er ja belegen, dass sie
unberechtigt sind, was er gar nicht kann. Für ihn sind sie aber
ein Beweis für den infamen und verleumderischen Antisemitismus
der Kritiker der israelischen Politik.
Ganz besonders
abstrus, absurd und geschichtsvergessen ist der Vorwurf, die
BDS-Kampagne sei die moderne Variante der Nazi-Parole „Kauft
nicht bei Juden!“ Denn diese Parole hat damals ein
terroristisches Regime ausgegeben, das die Vernichtung einer
„rassischen“ Minderheit vorbereitete. Die BDS-Kampagne kommt
aber aus der Mitte der internationalen Zivilgesellschaft und
will mit den Boykott- und Sanktionsmaßnahmen die Einhaltung von
Menschenrechten und Völkerrecht durch die israelische Regierung
erzwingen. Der Boykott würde in dem Augenblick enden, wenn
dieses Ziel erreicht würde. Zudem: Dieser Vorwurf der
Israel-Lobby verharmlost die Verbrechen der Nazis und verhöhnt
die Opfer des Holocaust. Der Vergleich ist auch deshalb falsch,
weil die Forderungen der BDS-Bewegung sich nicht gegen eine
ethnische Minderheit wie im Hitler-Staat richten, sondern gegen
den wirtschaftlich und militärisch stärksten Staat im Nahen
Osten, der ein ganzes Volk seit 50 Jahren unter seiner brutalen
Besatzungsherrschaft hält.
Der erste
Verlierer in jedem Krieg ist die Wahrheit, heißt ein alte
Sentenz. Im Meinungskrieg um Israels Politik soll – das ist das
Ziel der israelischen Propaganda und der Israel-Anhänger – die
Wahrheit keine Chance haben. Die UN-Beamte Rina Khalaf, die im
Auftrag ihrer Organisation einen Bericht über die
Menschenrechtssituation in Israel und den besetzten Gebieten
erstellt hat und nun wegen des politischen Drucks aus den USA
und Israel zurücktreten musste, hat es in ihrem Abschiedsbrief
klar ausgesprochen: „Ich bin Zeugin der schrecklichen
Konsequenzen, die es hat, wenn Menschen unterdrückt und daran
gehindert werden, die Wahrheit über ihr Leiden mit friedlichen
Mitteln zu äußern.“ Man kann auch den früheren und des
Antisemitismus sicher unverdächtigen Mossad-Chef Gili Cohen
zitieren, der jetzt gesagt hat, dass die israelische Besatzung
und der Konflikt mit den Palästinensern die einzige
existentielle Bedrohung für Israel seien. Aber die israelische
Regierung stecke den Kopf in den Sand und tue nichts, um diese
Bedrohung abzuwenden.
Die israelische
Regierung und ihre propagandistischen Helfer tun aber etwas
anderes: Frei nach Georges Orwells Roman „1984“ versuchen sie,
den Konflikt zu vertuschen sowie eine fiktive Realität zu
erfinden und zu verbreiten, die es gar nicht gibt: Dass Israel
ein friedliebendes Land ist und die einzige Demokratie im Nahen
Osten – (bei 4,5 Millionen Menschen im israelischen
Herrschaftsbereich, die keine bürgerlichen und politischen
Rechte haben!); dass es gar keine Besatzung gibt und dass Gewalt
und Terror ausschließlich von den „antisemitischen“
Palästinensern kommen; dass Israel eben das Opfer ist.
Wer das
bestreitet, wird als „Antisemit“ diffamiert, mit all den
beabsichtigten Folgen, die ein solcher Rufmord haben kann. Das
ist eine Methode, die dem „Gaslighting“, dem Gaslichtern,
nahekommt. Dieser englische Begriff stammt aus der
Therapie-Sprache und bezeichnet eine Form des psychologischen
Missbrauchs, bei dem der Realitätssinn von Menschen erschüttert
werden soll. Auf die Politik angewendet heißt das: Der Gegner
soll möglichst zermürbt, wenn nicht zerstört werden. Ziel ist es
, das Vertrauen in Fakten und die Wahrheit durch ständiges
Wiederholen von Propaganda und das Demontieren des Gegners zu
untergraben und dem eben eine neue fiktive Realität
entgegenzustellen. Nicht nur der neue US-Präsident Donald Trump
handhabt diese Methode meisterhaft, auch Israel und seine
Verteidiger wenden sie permanent an.
Aber die Kluft
zwischen der wirklichen Realität in Israel/Palästina und der von
der Propaganda geschaffenen wird immer größer. Die Menschen
lassen sich nicht mehr so leicht belügen. Zumal auch von
jüdischer Seite zunehmend Unterstützung kommt – etwa wie jetzt
von dem jüdisch-orthodoxen Religionsphilosophen Daniel Boyarin.
Er rief jetzt dazu auf: „Freunde Israels, boykottiert diesen
Staat!“ Gegen das autoritäre, rassistische und militaristische
Verhalten der israelischen Regierung aufzubegehren, sei keine
Illoyalität gegenüber dem eigenen Volk, sondern vielmehr die
höchste Form von Loyalität. „Ich bin um keinen Deut mehr ein
Antisemit, als ein deutscher Demonstrant gegen die AfD ein
Volksverräter ist“, schrieb er.
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