Wie das Andenken an die Toten des Holocaust schändlich missbraucht wird
Anmerkungen zu einem brisanten Thema
Arn Strohmeyer - 27.
Am heutigen Holocaustgedenktag stellt sich vor allem die Frage: Wie soll man mit diesem monströsen Verbrechen Holocaust erinnernd umgehen? Der amerikanisch-jüdische Politloge Norman G. Finkelstein hat darauf eine sehr treffende Antwort gegeben: „Die edelste Geste gegenüber jenen, die [im Holocaust] umgekommen sind, besteht darin, ihr Andenken zu bewahren, aus ihren Leiden zu lernen und sie endlich in Frieden ruhen zu lassen.“
Genau das geschieht aber nicht, denn mit dem Erinnern an den Holocaust wird große Politik gemacht – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit und ganz besonders von Israel. Zu kritisieren ist also nicht das ganz selbstverständliche Erinnern, sondern die Erinnerungspolitik, so wie sie von amtlichen Stellen und Regierungen betrieben wird. Gemeint ist also auch nicht das wissenschaftliche Erinnern der Historiker. Da ist in vielen Ländern und wenn auch etwas verspätet in Deutschland sehr Gutes geleistet worden.
Beschäftigt man sich mit Israel und seiner Politik und auch mit dem Erinnern an den Holocaust muss man im Auge behalten, dass Judentum und Zionismus nicht dasselbe sind, dass man beide begrifflich unbedingt voneinander trennen muss. Um es kurz zu sagen: Zionismus ist eine politische Ideologie, die Staatsideologie Israels; Judentum ist eine Kultur im weitesten Sinne, in der die Religion nur ein Teil ist, denn es gibt ja auch areligiöse und atheistische Juden. Um es noch anders zu sagen: Nicht jeder Jude ist Zionist, und nicht jeder Zionist ist Jude. Das vorweg.
Man stellt sich ganz selbstverständlich vor, dass es in Israel und der jüdischen Welt zu dem Thema Holocaust eine große Geschlossenheit gibt, eine vollständige Übereinstimmung im Gedenken an die große Katastrophe des jüdischen Volkes. Diese Einigkeit gibt es aber nicht gibt. Einigkeit besteht natürlich unter Juden über die monströse Schrecklichkeit und Ungeheuerlichkeit dieses Mega-Verbrechens, über den Umgang mit dem Holocaust wird aber erbittert gestritten.
Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie die Einstellung von Juden bzw. Zionisten zum Holocaust verlaufen ist und wie es zur Auffassung von der Einzigartigkeit des Holocaust gekommen ist. In der britischen Mandatszeit über Palästina, die von 1922 bis 1948, also bis zur israelischen Staatsgründung, andauerte, gab es dort neben den Palästinensern die vorstaatliche jüdische Gesellschaft der eingewanderten Juden – den Jischuw. In diesem Jischuw hat man sich für den Holocaust nur sehr wenig oder auch gar nicht interessiert. Ich beziehe mich bei dieser Aussage auf das Buch Die siebte Million des israelischen Historikers Tom Segev. Die siebte Million sind die Überlebenden des Holocaust, deren Schicksal Segev in dem Buch ausführlich beschreibt.
Der Holocaust in Europa fand in den Zeitungen des Jischuw, wenn überhaupt nur auf den hinteren Seiten statt. Oft waren Sportnachrichten wichtiger als die schrecklichen Nachrichten aus Europa. Dabei lagen exakte Informationen vor, was in den Vernichtungslagern passierte. Auch die politische Führung des Jischuw zeigte kaum Interesse am Holocaust. Der Zionistenführer Ben Gurion betonte immer wieder, dass der Aufbau des jüdischen Staates in Palästina absoluten Vorrang vor allem anderen habe und dass man für die bedrohten Juden in Europa nichts tun könne, das sei Aufgabe der internationalen jüdischen Organisationen. Der jüdische Historiker Saul Friedländer, selbst ein Holocaust-Überlebender, hat Ben Gurion später vorgeworfen, den Holocaust gar nicht verstanden und nichts für die bedrohten Juden in Europa getan zu haben.
Es wäre nun die vorrangige Aufgabe des Staates Israel gewesen, möglichst viele Überlebende aus den Lagern (es handelte sich etwa um 250 000 Menschen – die sogenannten DP’s, Displaced Persons) aufzunehmen und ihnen Gehör und Geborgenheit zu verschaffen und so zur Heilung dieser zutiefst gedemütigten Menschen beizutragen. Das geschah aber nur zum Teil. Das zionistische Establishment in Palästina dachte anders. Der Jischuw hing der Idee und der Vision eines „neuen Menschen“, des „neuen Juden“, an, der ein tatkräftiger und wehrhafter Pionier sein sollte und beim Aufbau des jungen Staates hart mit anpacken konnte. In diesem Ideal steckte viel Kritik am Diaspora-Judentum.
Man warf den Überlebenden vor, feige gewesen zu sein, sich gegen ihre Vernichtung nicht gewehrt zu haben, und dass sie sich eben wie Lämmer hätten zu Schlachtbank führen lassen. Sie hätten alle Warnungen überhört, hätten sich nicht für den Zionismus entschieden und wären nicht nach Palästina gekommen, um den neuen Staat mit aufzubauen. Dann wäre der Holocaust nicht passiert. Zionistische Agenten selektierten sogar in den DP-Lagern die Menschen, die nach Palästina kommen sollten. Alte und Kranke sowie „moralisch minderwertige Elemente“ wollte man nicht haben.
Nach 1945 und bis weit in die 1950er Jahre hinein wurde der Holocaust dann im Jischuw und später im Staat Israel mehr oder weniger verschwiegen. Er war fast so etwas wie ein Tabu. Die Geschehnisse des furchtbaren Genozids waren offenbar noch zu nah, um überhaupt erinnernd verstanden zu werden. Es gab zwar einen Holocaust-Gedenktag, aber noch keine Kultur des Gedenkens.
Das Schweigen hing natürlich auch mit der Verachtung der Überlebenden zusammen, also der Diaspora-Juden. Die eingesessenen Juden des Jischuw schwiegen also, ja, sie leugneten den Holocaust fast, weil die Verachtung der Überlebenden natürlich viel Scham und viele Schuldgefühle enthielt. Und die Überlebenden selbst konnten wegen des zutiefst Abgründigen und Unbegreiflichen, das sie erlebt hatten, nicht über darüber sprechen.
Vor allem der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem brachte für Israel die Wende und eine neue Sicht auf den Holocaust. Nach Jahren des Schweigens über den Genozid hielt Ministerpräsident Ben Gurion die Zeit für gekommen, ein neues Narrativ über den Mord an den europäischen Juden zu schaffen. Er spielte dann auch die Hauptrolle in dem Geschehen um den Prozess.
Ben Gurion wollte aus aktuellen Gründen einen großen Schauprozess inszenieren, der zu einer Veränderung der Erinnerung an den Holocaust in Israel und der Welt beitragen sollte. Für ihn ging es deshalb bei der Gerichtsverhandlung gar nicht in erster Linie um den Menschen Eichmann und seine Taten, sondern darum, dass der Holocaust als Ganzes zur Sprache kommen würde. Ben Gurion verfolgte dabei zwei Hauptziele: Erstens wollte er die Länder der Welt daran erinnern, dass der Holocaust sie verpflichte, den einzigen jüdischen Staat zu unterstützen, und zweitens wollte er den Israelis, insbesondere der jüngeren Generation, eindrücklich vorführen, was sie aus dem Holocaust lernen sollten.
Die jungen jüdischen Israelis sollten sich bewusstwerden, dass sie einem starken und mächtigen Staat angehörten, der es unmöglich machte, dass sich Juden noch einmal wie Lämmer zur Schlachtbank führen ließen. Der Prozess sollte sie mit Nationalstolz erfüllen. Er war von Ben Gurion also geradezu als pädagogisches Projekt geplant.
Ben Gurion wollte vor allem auch mit dem Prozess die Einzigartigkeit des Holocaust belegen. Er, der sich früher, als der Holocaust stattfand, dafür kaum interessierte, bezeichnete den Genozid nun als „beispiellos in der Geschichte“ und machte auch die Diaspora-Juden dafür verantwortlich, weil sie nicht „in ihrem eigenen Land“ [Erez Israel] leben wollten.
Der Eichmann-Prozess war also als Propaganda-Lehrstück geplant und wurde auch so durchgeführt. Erinnern sollte in Israel fortan eine Verpflichtung werden und im Dienst der Politik stattfinden. Die Opfer des Holocaust wurden nun zu den „potentiellen Erbauern und Verteidigern“ des Staates gemacht – aus ihrer Asche sei er hervorgegangen. Es wurde durch den Prozess also eine Holocaust-Ideologie geschaffen, was aber auch den Beginn der zionistischen Instrumentalisierung dieses Mega-Verbrechens bedeutete.
Die Zionisierung des Holocausts und seines Gedenkens
Der Eichmann-Prozess hatte auf der einen Seite national-pädagogische Absichten verfolgt, auf der anderen Seite leitete er die Zionisierung des Holocaust ein. Das bedeutete aber auch die Absage an eine universalistische Sicht des Genozids. Das zionistische Israel benutzte und vereinnahmte den Holocaust von nun an so gut wie ausschließlich für das Erreichen seiner partikularen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen und Ziele. Der Massenmord an den europäischen Juden wurde nicht nur als das überzeugende Argument für die Lösung der „jüdischen Frage“ durch den Zionismus angesehen, sondern die Gründung des Staates Israel wurde nun als Antwort der Juden auf die ihnen widerfahrende Katastrophe verstanden.
Der zionistische Staat sorgte nun dafür, dass der Holocaust das gesamte Leben in Israel bestimmte und auch heute noch weitgehend bestimmt, er spielt bei jeder politischen oder militärischen Entscheidung bzw. deren Ablehnung oder Verweigerung eine wichtige Rolle. Die Folgen sind gravierend, denn „dadurch war Auschwitz nicht länger ein der Vergangenheit zugehöriges Ereignis, sondern vielmehr eine bedrohliche Gegenwart und ständige Option.“ Das bedeutet aber auch, dass Israel sich immer mehr isolierte, sich jede Kritik von außen als „antisemitisch“ verbat, sich auf diese Weise einen quasi sakrosankten Status verlieh und sich einem kritischen Dialog mit seiner Umwelt verschloss.
Wenn der Holocaust die Legitimationsideologie für den jüdisch-israelischen Staat ist, dann ergibt sich daraus auch konsequent, dass er das Monopol für die institutionalisierte Erinnerung an diesem Genozid beansprucht. Zu dieser ideologischen Haltung gehört aber unabdingbar auch das Bewusstsein, selbst das „ewige Opfer“ zu sein. Aus dem Grauen der jüdischen Erfahrung heraus wird dann alles gerechtfertigt. Immer sieht sich Israel kurz vor der Auslöschung und der kollektiven Vernichtung. Es gibt nicht wenige israelische Autoren, die in diesem Zusammenhang von Paranoia sprechen.
Die Bedrohung durch einen neuen Holocaust wird ständig bei Allem und Jedem propagiert, weshalb die militärische Sicherheit absolute Priorität genießt. Das Sicherheitsdenken hat die Sonderstellung des Militärs und der Geheimdienste zur Folge, die als „Wächter der Nation“ angesehen werden, die Sicherheit wird ideologisiert und zum Mythos verklärt. In der Innen- wie der Außenpolitik gilt sie als unantastbar, weil sie für existenziell gehalten wird.
Aus dem Holocaust und dem Sicherheitsdenken wird abgeleitet, dass Israel „alles erlaubt ist!“: jede Ausübung von Gewalt – auch außerhalb des Landes, wobei Völkerrecht und Menschenrechte keine Rolle spielen. Auch die Besetzung palästinensischen Territoriums und seine Besiedlung sowie die Unterdrückung dieses Volkes durch eine brutale und unmenschliche Okkupation werden so mit dem Holocaust gerechtfertigt. Um die unerbittliche, feindselige Haltung gegenüber den Palästinensern zu begründen, wird der Konflikt mit diesem Volk aus seinen politisch-historischen Zusammenhängen und Dimensionen herausgelöst (also dem zionistischen Siedlerkolonialismus) und mit sprachlichen und ideologischen Anleihen an den Holocaust zur Fortsetzung des Mordgeschehens durch den NS-Staat erklärt. Die Araber bzw. die Palästinenser waren und sind so gesehen eine Neuauflage der Nazis, die die Juden in einem neuen Holocaust vernichten wollten. Das Verhältnis von Tätern und Opfern wird in der Auseinandersetzung des Zionismus mit den Palästinensern also völlig auf den Kopf gestellt.
Die Erklärung der Araber bzw. Palästinenser zu den „neuen Nazis“ und die Stilisierung jedes auch noch so kleinen militärischen Konflikts als „neuen Holocaust“ ist eine gängige Aussage der israelischen politischen Elite seit der Staatsgründung. Das alles sind aber Mythen, die mit der Realität wenig oder nichts zu tun haben und eher aus der politischen Realität Israels heraus zu verstehen sind – als Vorwände für eine Absage, den Konflikt mit den Palästinensern und den Arabern insgesamt zu lösen, denn die Palästinenser hatten mit dem Holocaust nichts zu tun.
Der Holocaust wird für einzigartig erklärt
Das israelische Establishment instrumentalisierte den Holocaust also intensiv für seine partikularen Interessen. Die israelische Bevölkerung wurde und wird durch Propaganda und Erziehung stark in diese Richtung beeinflusst, um ein Holocaust-Bewusstsein wachzuhalten.
Ben Gurion hatte ja schon während des Eichmann-Prozesses festgestellt, dass der Holocaust einzigartig gewesen sei, also mit anderen Genoziden nicht verglichen werden könne. Diese Auffassung verfestigte sich in der Folgezeit in jüdischen und zionistischen Kreisen immer mehr zu einer regelrechten Ideologie. Wobei der Ausgangspunkt in Europa folgender war: Die Überlebenden mussten dort ähnlich wie im Jischuw in Palästina eine furchtbare Erfahrung machen. Sie wurden nach ihrer Befreiung aus den NS-Lagern auch in Frankreich und Belgien nicht mit allen Ehren und Empathie empfangen, sondern ignoriert, verleugnet und missachtet – und das von Juden und Nicht-Juden.
Die deportierten Widerstandskämpfer wurden dagegen mit Anerkennung und Hochachtung aufgenommen, aber als Jude deportiert gewesen zu sein, galt als Schande. Es verwundert nicht, dass die Überlebenden eine tiefe Scham und Schuld empfanden: wegen des Vorwurfs, dass sie sich gegenüber den Nazis passiv verhalten und zufällig auf Kosten anderer überlebt hätten. Das Problem der Überlebenden war also, ihre Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung durchzusetzen.
Die Wende leitete in einer ganz gezielten politischen Aktion der amerikanische Jude Elie Wiesel ein, auch ein Holocaust-Überlebender. Sein Wirken führte dazu, dass das Projekt der Aufwertung der Überlebenden eng mit dem Diskurs über die Einzigartigkeit des Holocaust verbunden war. Die Umkehrung in der Bewertung des Opferseins sollte die Schmach und Schande, die die Überlebenden bis dahin ertragen mussten, beseitigen. Aus dem Makel sollte Stolz auf den Opferstatus werden, der zugleich das Erreichen einer neuen Identität bedeutete.
Die Geburtsstunde der Idee von der Einzigartigkeit des Holocaust war ein Symposium jüdischer Wissenschaftler am 26. März 1967 in New York über „jüdische Werte“. Die Debatte dort hatte aber nach Einschätzung von Beobachtern eher theologischen oder metaphysischen Charakter als wissenschaftlich-historischen. Es war viel von der Auserwähltheit der Juden sowie von der Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte die Rede, die das „Kernstück“ der Weltgeschichte sei. Der Leiter des Symposiums Richard Popkin formulierte diese Auffassung so: „Der Holocaust scheint mir, eine messianische und keine historische Erfahrung zu sein. Nämlich in dem Sinne, dass die unsrige eine gänzlich andere Geschichte ist als alle anderen Geschichten. Sie unterscheidet sich von allen anderen Geschichten qualitativ. Es ist die einzige wirkliche Geschichte. Es ist menschliche Geschichte, weil es jüdische Geschichte ist.“
Diese Sätze stellen einmal die rein jüdisch verstandene Universalität des Holocaust heraus und bekräftigen andererseits die These von der Einzigartigkeit des Holocaust in dem Sinne, dass sich diese Singularität des Ereignisses nicht von selbst ergibt, sondern allein aus der jüdischen Identität. Nur sie macht das genozidale Geschehen in den Vernichtungslagern zum unvergleichlichen Ereignis. Was aber auch heißt: Ohne die jüdischen Opfer wäre der Holocaust nicht einzigartig – erst das Betroffensein der Juden gibt dem Geschehen seine universalistische Bedeutung im jüdischen Sinn. Die extrem vom Bösen bestimmte Aussonderung der Juden durch die Nazis wird also in die Besonderheit und Einzigartigkeit dieser Menschen umgedeutet.
Elie Wiesel nutzte das Symposium, um seine religiös missionarische Botschaft an die Welt zu richten, die dann auch bis heute eine große Wirkung entfaltete – bis zum deutschen Israel-Ideologie. Wiesel argumentierte nicht, er verkündete eher, dass es die Pflicht der Juden sei, ihre Leiden, die ausschließlich jüdische Leiden seien, herauszustellen und keiner sie ihnen nehmen könne. Er fragte: „Warum den Toten das Einzige nehmen, was ihnen bleibt – ihr Judentum und ihre Einzigartigkeit? Haben sie nicht wenigstens das verdient?“ All das bedeutete natürlich die totale Überwindung der Scham, die die Überlebenden nach der Befreiung gequält hatte und die Verklärung ihrer Erfahrungen als „einzigartig“. Zugleich betonte Wiesel, dass man seine Botschaft nicht mit den Regeln der Wissenschaft (was ja heißt: mit rationalen Maßstäben) beurteilen und diskutieren könne.
Wie der Holocaust zur ausschließlich jüdischen Tragödie wurde
Die These von der Einzigartigkeit des Holocaust hat eine große Wirkung entfaltet. Sie wurde vor allem ein Politikum ersten Ranges. Der israelische Historiker Shlomo Sand ist dem Phänomen in Israel nachgegangen und ist zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen. Er hat den verschiedensten Menschen in Israel immer dieselbe Frage gestellt: „Wie viele Menschen haben die Nazis in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie in weniger geordneten Massakern umgebracht?“ Die Antwort war immer dieselbe: sechs Millionen.
Als Sand darauf hinwies, dass er umgebrachte Menschen insgesamt meine und nicht allein Juden, waren seine Gesprächspartner sehr erstaunt. Sand gab dann selbst die Antwort: Zwischen zehn und elf Millionen Menschen wurden im Holocaust ermordet. Unter Berufung auf den Holocaust-Forscher Raul Hilberg gibt er die Zahl der ermordeten Juden mit etwa fünf Millionen an – also nicht sechs Millionen, wie sonst behauptet wird. Der israelische Historiker stellt dann die entscheidende Frage: „Warum ist die ‚Gesamtzahl‘ verschwunden und warum wurde nur die ‚jüdische‘ Zahl bewahrt?“
Sand konstatiert: „Vom letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an verschwinden beinahe alle Opfer, die von den Nazis nicht als ‚Semiten‘ bezeichnet wurden. Der industrielle Mord wurde zur ausschließlich jüdischen Tragödie. Die westliche Erinnerung an Konzentrations- und Vernichtungslager entledigte sich fast gänzlich aller anderen Opfer, darunter geistig Behinderte, Sinti und Roma, Angehörige des kommunistischen und sozialistischen Untergrunds bzw. Widerstands, Zeugen Jehovas, polnische Intellektuelle sowie sowjetische Kommissare und Offiziere, aber auch große Teile der slawischen Bevölkerung in den besetzten Ländern sowie die sowjetischen Kriegsgefangenen. Bis auf die Homosexuellen vielleicht wurden all jene, die die Nazis parallel zur systematischen Ermordung der Juden austilgten, durch die hegemonialen Erinnerungsnetzwerke ein weiteres Mal ausgelöscht. Wie konnte es dazu kommen, und wie prägt diese neue Erinnerungskonstruktion die heutige jüdische Identität?“
Die Erinnerung an den Holocaust spielte in Israel – wie geschildert – bis zum Eichmann-Prozess 1961 und dem Krieg von 1967 eine eher marginale Rolle. Dann änderte sich die Situation: Deutschland war nach den Wiedergutmachungszahlungen an Israel und den Entschädigungsleistungen an Überlebende in die westliche Staatengemeinschaft aufgenommen worden. Israel war gestärkt aus dem Krieg von 1967 hervorgegangen und war zum engen Partner der NATO und der USA geworden. In dieser Situation – so Sand – fand auch ein Umdenken über den Holocaust statt. Hatte man in Israel zunächst die Schwäche der Opfer infolge der Verachtung der Diaspora eher kaschiert, begann man nun, sie zu verherrlichen und zu Märtyrern zu stilisieren. Die Marginalisierung des Judenmords in der westlichen Zivilisation wurde aufgehoben.
Sand bilanziert die neue Entwicklung so: „Die neue zionistische und pseudojüdische Politik wollte mehr. Es genügte ihr nicht, dass die Erinnerung an die Ermordeten im westlichen Bewusstsein eingeschrieben war; sie beanspruchte Einzigartigkeit, Exklusivität und die totale nationale Verfügungsgewalt über den Schmerz. Damals begann, was zu Recht als ‚Holocaust-Industrie‘ bezeichnet wird: Diese war darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel politisches Prestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich. Deshalb wurden nach und nach fast alle anderen Opfer ausgeblendet, und der Genozid geriet zu einer ausschließlich jüdischen Angelegenheit. Jeder Vergleich mit anderen Völkermorden war von nun an untersagt“, so Shlomo Sand. Ja, wurde sogar als „antisemitisch“ diffamiert.
Die Opfer anderer Genozide in der Geschichte oder der Gegenwart galten da also nichts mehr. Die jüdischen Opfer erlangten wegen ihrer „Einzigartigkeit“ einen Sonderstatus. Diese „einzigartigen“ Opfer standen nun im Mittelpunkt des Interesses und nicht mehr die Mordmaschinerie der nationalsozialistischen Schergen und Henker.
Dieses neue Verständnis des Holocaust, dass es also einen ausschließlich jüdischen Anspruch auf das Vermächtnis des Massenmordes durch die Nazis gebe, ist im säkularen Judentum zu einem Identität stiftenden Faktor geworden. Das zionistische Israel hat es auch geschafft, diese Ideologie des nicht nur „auserwählten“, sondern auch des ausschließlich jüdischen Opfers zur beherrschenden Leitidee des verpflichtenden Umgangs mit dem Holocaust im Westen zu machen. Kein Politiker und keine Politikerin aus dem Westen würde es wagen, die Ausschließlichkeit der jüdischen Opfer in Frage zu stellen und auch die anderen Opfer an herausragender Stelle zu erwähnen. Wenn sie in ihren Reden von „Nie wieder!“ sprechen, meinen die westlichen Politiker partikularistisch und ausschließlich nur die Juden und nie universalistisch alle Menschen. Womit der Zionismus bewiesen hat, über welch ungeheure propagandistische Macht er verfügt – vor allem, weil er immer mit der Waffe des Antisemitismus-Vorwurfs drohen kann. Was ich hier vorgetragen habe, ist heute das Erinnerungsdogma der westlichen Welt.
Deutschland und der Holocaust
Wie sieht es nun mit dem deutschen Erinnern des Holocaust aus, bzw. mit der deutschen Erinnerungspolitik? Um dies verstehen zu können, muss ich zunächst auf das deutsch-israelische Verhältnis eingehen. Die drückende Schuld, die die NS-Vergangenheit mit ihren Verbrechen bei den Deutschen verursacht hat, suchte nach seelischer Entlastung. Man meinte diese erreichen zu können, indem die politische Elite sich nach 1945 umgehend zum Philosemitismus bekannte. Die Sühne für den Holocaust glaubte sie zudem dadurch leisten zu können, indem sie sich vorbehaltlos hinter Israel stellte, den zionistischen Siedlerstaat bedingungslos politisch, materiell und auch mit Waffen unterstützte und zu den Verbrechen des zionistischen Unternehmens in Bezug auf die Palästinenser schwieg. Was bedeutete, dass man ständig die „gemeinsamen Werte“ betonte, auf denen das gegenseitige Verhältnis angeblich beruhen sollte.
Problematisch an diesem Verhalten war und ist auch, dass die deutsche Politik und der Großteil der deutschen Bevölkerung die zionistische Version der Geschichte Palästinas als historische Wahrheit weitgehend übernommen hat, ohne zu sehen, dass es sich dabei um reine Mythen handelt, die die Ansprüche und Rechte der Palästinenser ignorieren, abwerten und delegitimieren. So wird z.B. deutscherseits die Nakba mit all ihren Folgen gar nicht zur Kenntnis genommen. Diese Identifizierung mit der israelischen Sicht der Geschichte verhindert aber, dass Deutschland sich in sinnvoller, das heißt realistischerweise politisch in den Konflikt einbringen kann.
Die Widersprüche im deutsch-israelischen Verhältnis lagen also von Anfang an offen zu Tage und zwangen zu einer großen gegenseitigen Unaufrichtigkeit, denn mit ihrer bedingungslosen Unterstützung dieses Staates machte sich die deutsche Politik zum Verbündeten, ja zum Komplizen der brutalen und völkerrechtswidrigen Unterdrückung des palästinensischen Volkes, die kolonialistischen und Apartheids-Charakter hat. Was auch in diametralem Gegensatz zu der eigentlich aus dem Holocaust folgenden Verpflichtung steht. Denn die Schlussfolgerung aus diesem Mega-Verbrechen kann nur sein: der Durchsetzung und dem Einhalten der Menschenrechte und des Völkerrechts absoluten Vorrang einzuräumen. Das Dilemma, in das die deutsche Israel-Ideologie geführt hat, ist also ganz offensichtlich. Um aber jede Kritik daran abzuwehren, wird die schärfste Waffe eingesetzt, die zur Verfügung steht: der Antisemitismus-Vorwurf.
Da die Erinnerungspolitik immer die Magd der offiziellen Politik ist, bedeutet das, dass die deutsche Erinnerungspolitik vollständig identisch mit der israelischen ist, die deutsche Erinnerungspolitik hat das israelische Holocaust-Gedenken ohne Wenn und Aber übernommen. In Bezug auf das immer gelobte „Nie wieder!“ heißt das in der zionistischen Version, das darf den Juden nie mehr geschehen. Die universalistische Version besagt aber: Das darf keinem Menschen in der ganzen Welt mehr geschehen!
Ich will Ihnen zwei anschauliche Beispiele für das deutsche Erinnern geben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt im März 2008 anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels in der Knesset in Jerusalem eine Rede. Acht Mal versicherte sie in dieser Rede, dass Deutschland und Israel dieselben politischen Werte teilten. Da muss man fragen: Welche gemeinsamen Werte kann es mit diesem Staat angesichts der brutalen Unterdrückung von Millionen Palästinensern in den besetzten Gebieten geben? Und auch im Kernland Israel sind die Palästinenser nur Menschen zweiter oder dritter Klasse. Das ist durch das Nationalstaatsgesetz von 2019 sogar gesetzlich festgeschrieben.
Ein anderes Beispiel. Der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hielt am 23. Januar 2020 in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz eine Rede. Viele führende Politiker aus der ganzen Welt hatten sich dort versammelt. Steinmeier sprach von deutscher Schuld wegen des Mega-Verbrechens, das die Nazis an den Juden begangen haben. Er sei dankbar, dass Israel Deutschland die Hand zu Versöhnung gereicht habe. Er sah das Böse vor allem im Antisemitismus, versicherte, dass Deutschland alles tun werde, um ihn zu bekämpfen. Es dürfe keinen Schlussstrich unter die Erinnerung geben. Deutschland werde jüdisches Leben schützen und stehe an der Seite Israels. Auf das Böse gebe es nur eine Antwort: Nie wieder!
Steinmeiers Rede zeigt nicht die universalistische, sondern die ausschließlich auf die partikularen Interessen Israels ausgerichtete Aufarbeitung des Holocaust auf, dass eben den Juden so etwas nie wieder passieren dürfe und eben nicht allen Menschen auf der Erde.
Eine sehr scharfe Kritik an dieser Rede kam von einem Juden, nämlich von dem israelischen Journalisten Gidon Levy von der Tageszeitung Haaretz. Levy betont, wie wichtig es sei, an die Vergangenheit zu erinnern und damit auch an den Holocaust, dabei dürfe man aber die Augen nicht vor der Gegenwart verschließen. Genau das wirft er aber den in Yad Vashem versammelten Regierungschefs – also auch Steinmeier – vor. Mit ihrem Schweigen, mit ihrer Missachtung der gegenwärtigen Realität in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten und dem bedingungslosen Bekenntnis zu Israel würden sie die Erinnerung an die Vergangenheit verraten, in deren Namen sie nach Jerusalem gekommen seien.
Wie könnten sie Gäste Israels sein, ohne die Verbrechen dieses Staates zu erwähnen; des Holocaust zu gedenken und gleichzeitig seine Lehren zu ignorieren; Jerusalem zu besuchen, ohne am Internationalen-Holocaust-Gedenktag in das Ghetto von Gaza zu reisen – könne man sich eine größere Heuchelei vorstellen? Es sei bedauerlich, dass die Regierungschefs es überhaupt nicht zur Kenntnis nähmen, was die Opfer des Holocaust – also die Israelis – den Menschen eines anderen Volkes zufügten.
Levy empört sich weiter: „Der Holocaust war eine Katastrophe für das jüdische Volk. Aber genau aus diesem Grund darf man das Verhalten seiner Opfer [der Juden] gegenüber den sekundären Opfern des Holocaust, dem palästinensischen Volk, nicht ignorieren. Ohne den Holocaust hätten sie [die Palästinenser] ihr Land nicht verloren und wären heute nicht in einem gigantischen Konzentrationslager in Gaza gefangen oder würden unter einer brutalen militärischen Besatzung im Westjordanland leben.“
Levy geht dann auf den Appell des „Nie wieder!“ ein und fordert die in Yad Vashem versammelte politische Prominenz auf, ehrlich die Augen nach Süden und Osten zu richten, nur wenige Kilometer von Yad Vashem entfernt: „Dort gibt es keinen Holocaust, nur Apartheid. Keine Vernichtung, sondern eine systematische Verrohung einer Nation – eben Israels. Nicht Auschwitz, sondern Gaza. Wie kann man das am Internationalen Holocaust-Gedenktag ignorieren? Es ist schwer zu glauben, dass es nicht einmal einem Weltführer in den Sinn gekommen ist, der wegen der Zeremonie nach Jerusalem kam, nach Gaza zu reisen. Wenn einer von ihnen den Mut dazu hätte, würde er oder sie das Gedenken an den Holocaust nicht weniger ehren als mit einem Besuch in Yad Vashem. Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, an denen die Worte ‚nie wieder!‘ so nachhallen sollten wie in den Grenzen dieses riesigen Ghettos, das durch den Staat der Holocaust-Überlebenden entstanden ist. Nicht nach Gaza zu gehen und zu sehen, was dort geschieht? Sich nicht mit dem Schicksal von zwei Millionen Menschen zu identifizieren, die seit 14 Jahren in einem Ghetto, eine Stunde von Jerusalem entfernt, eingesperrt sind? Wie ist das möglich? Nicht in Gaza ‚nie wieder!‘ zu weinen? Wie kann man das nicht?“
Es ist aufschlussreich, dass im deutschen Gedenken – das belegt auch die Steinmeier-Rede – die Palästinenser keinen Platz haben. Denn schließlich ist ihre unerträgliche Lage auch eine Folge der verbrecherischen NS-Politik. Ohne den Holocaust gäbe es aller Wahrscheinlichkeit nach den Staat Israel nicht in der heutigen Form, dieser Staat beruht aber auf der Unterwerfung und Unterdrückung der Palästinenser. Aber aus Angst anzuerkennen, dass Juden zu Tätern geworden sind, schweigt die deutsche Erinnerung zu diesem dunklen Kapitel des zionistischen Staates. Auch Bundespräsident Steinmeier erwähnte es mit keinem Wort und musste sich erst von einem couragierten Juden darauf hinweisen lassen.
Warum die deutsche Erinnerungspolitik gescheitert ist
Aus dem Gesagten ist sicher einsichtig geworden, dass die deutsche Erinnerungspolitik sich in einer tiefen Krise befindet, ja im Grunde gescheitert ist. Nach den Worten Gideon Levys wird klar, warum. Die Behauptung von der Einzigartigkeit des Holocaust, wie sie sich in Israel und den USA herausgebildet hat, ist von der ganzen westlichen Welt übernommen worden, sie wird natürlich auch von der deutschen Erinnerungspolitik vertreten. Diese These von der Einzigartigkeit und das offizielle deutsche Erinnern gehören zusammen, sind nicht voneinander zu trennen. Nun gibt es aber gute Gründe und Argumente gegen die Einzigartigkeit des Holocaust. Ich will die wichtigsten nennen.
Der amerikanisch-jüdische, Historiker Peter Novick nennt die These von der Einzigartigkeit einen „Taschenspielertrick“. Er schreibt. „Man braucht nur einen Moment lang nachzudenken, um zu erkennen, dass der Begriff der Einzigartigkeit ziemlich leer ist. Jedes historische Ereignis, einschließlich des Holocaust, ähnelt in verschiedener Hinsicht anderen Ereignissen, mit denen es verglichen werden kann, und unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht von ihnen. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede sind ein sinnvoller Diskussionsgegenstand. Nur die Aspekte des Holocaust zu berücksichtigen, die einzigartig waren, und die Aspekte zu ignorieren, die er mit anderen Gräueltaten gemeinsam hatte, und ihn auf der Grundlage dieser Manipulation für unvergleichbar zu erklären, ist hingegen ein intellektueller Taschenspielertrick. Die Behauptung, der Holocaust sei einzigartig – wie die, er sei unfassbar oder nicht darstellbar – , ist tatsächlich zutiefst beleidigend. Was könnte sie anders bedeuten als: ‚Eure Katastrophe ist im Gegensatz zu unserer gewöhnlich, fassbar und darstellbar‘.“ Es gibt gewichtige andere Argumente gegen die Einzigartigkeitsthese, die hier aber nicht alle dargestellt werden können.
In der Geschichtswissenschaft kommt man immer mehr zu der Auffassung, dass die Sicht auf die Einzigartigkeit des Holocaust nicht zu halten ist. Der Holocaust stellt sich in neuerer Sicht als ein sehr komplexes Gesamtgeschehen dar, das ganz unterschiedliche Täter und verschiedene Opfergruppen umfasst. Natürlich stand die Vernichtung der Juden im Zentrum der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, aber zu dieser rassistischen Politik gehört eben auch die Ausrottung anderer als „gefährlich“ und „minderwertig“ definierter Gruppen.
Einzigartigkeit ist also im Zusammenhang mit dem Holocaust ein falscher Begriff, denn er ergibt nur Sinn, wenn das historische Ereignis in der Erinnerung so hervorgehoben wird, dass es als unvergleichbar außerhalb der Geschichte steht, so wie Elie Wiesel es dargestellt hat. Deshalb ist es sinnvoll, Vergleiche anzustellen, denn die relativieren und verharmlosen nicht, sondern machen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar, sorgen also für Klärung und Erkenntnis.
Es sollen hier die Hauptthesen aufgeführt werden, warum die deutsche Erinnerungspolitik sich in einer tiefen Krise befindet bzw. schon gescheitert ist.
1.Die Einzigartigkeitsthese ist Teil der deutschen Israel-Ideologie, die mit allen Mitteln, vor allem mit dem Antisemitismus-Vorwurf, gegen Kritiker verteidigt wird. Ich habe ihre Zweifelhaftigkeit dargestellt.
2.Die deutsche Erinnerungspolitik ist nicht universalistisch, obwohl sie das von sich behauptet. Der Universalismus müsste ja eigentlich das unbedingte Vermächtnis der Opfer des Holocaust sein. Die deutsche Erinnerungspolitik ist aber partikularistisch und nationalistisch, weil sie vollständig identisch mit dem israelischen Gedenken ist, und das ist eben nationalistisch, zionistisch, also stammesbezogen. Statt aber das deutsche Erinnern in die universalistische Richtung zu lenken, haben die deutsche politische Elite und die Mainstreammedien das Gedenken fetischisiert, routinisiert und zu einer Ideologie ausgebaut.
3. Die deutsche Erinnerungspolitik mit ihrer Überidentifizierung mit Israel hat verheerende Folgen gezeitigt. Was diese Akteure mit ihrer Erinnerungsideologie, an die zu glauben zum Staatsdogma erklärt wird, geschaffen haben, ist ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Denunziation, das die Öffentlichkeit weitgehend beherrscht. Der deutsch-jüdische Intellektuelle Micha Brumlik hat für dieses bedrückende politische und kulturelle Klima den Begriff des McCarthyismus wiederbelebt. Der Begriff wurde am Beginn der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von dem amerikanischen Senator McCarthy geprägt und beschreibt die Jagd auf Kommunisten oder Menschen, die man dafür hielt.
Die deutsche Erinnerungspolitik hat also einen neuen Illiberalismus hervorgebracht, der das wichtigste Verfassungsgut einer Demokratie – die Presse-, Meinungs-, Informations- und Kunstfreiheit – im höchsten Maße gefährdet. Zudem ist Deutschland nach seiner Verfassung verpflichtet, das Völkerrecht und die Menschenrechte einzuhalten. Durch das enge Bündnis mit Israel und die Übernahme von dessen Erinnerungspolitik verletzt die deutsche Politik aber das Völkerrecht und die Menschenrechte in grober Weise, weil sie zu der brutalen Unterdrückung der Palästinenser schweigt und durch die politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung Israels, die ja deutsche „Staatsräson“ ist, die Besatzung und die Unterdrückung der Palästinenser sogar noch fördert und festigt. Die deutsche Politik will also durch das enge Bündnis mit Israel Schuld für die NS-Verbrechen abtragen und lädt durch die Nichtbeachtung der Rechte der Palästinenser und die Unterstützung der Besatzung neue Schuld auf sich!
4. Zu Durchsetzung seiner Politik – auch der Erinnerungspolitik – setzt Israel den Antisemitismus-Vorwurf ganz bewusst ein, um jede Kritik an ihrer brutalen Unterdrückung der Palästinenser abzuwehren. Der israelische Historiker Daniel Blatman nennt das eine völlige Verzerrung und einen instrumentalisierenden Missbrauch des Antisemitismus. Aber die deutsche Politik und auch die Erinnerungspolitik machen in treuer Gefolgschaft zu Israel auch diesen Missbrauch des Antisemitismus mit und setzen sogar beamtete Wächter (die sogenannten Antisemitismus-Beauftragten) ein, um über die Gebote der deutschen Israel-Ideologie wie Inquisitoren zu wachen und jede Verletzung mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu belegen, was für die Betroffenen existenzgefährdend sein kann.
5. In der deutschen Holocaust-Erinnerung kommen die Palästinenser gar nicht vor, obwohl sie doch indirekte Opfer der Hitlerschen Politik sind. Ja, es wird inzwischen in Deutschland um alles, was mit Palästina zu tun hat, ein Bannkreis gezogen, vor dem ein Warnschild steht: „Vorsicht Antisemiten! Nicht nähern!“ So wird die Erinnerung an den Holocaust eine Waffe, die sich gegen jene richtet, die mit diesem Verbrechen gar nichts zu tun hatten. In Deutschland dürfen die Palästinenser ihr Narrativ (also das, was sie unter dem Zionismus in Palästina erlitten haben) nicht öffentlich darstellen, das wird sofort als Antisemitismus untersagt.
Die deutsche Politik ordnet sich also dem zionistischen Erinnerungsdiktat unter, obwohl die Israelis mit sehr schlechtem Beispiel vorangehen. Denn sie haben bis heute ihre eigene Geschichte nicht aufgearbeitet: die Nakba – also die große Vertreibung der Palästinenser 1948 – ist immer noch ein völliges Tabu, wohl deshalb, weil dem ganzen ideologischen Gebäude des Zionismus moralisch der Boden entzogen würde, wenn die volle Wahrheit über diese ethnische Säuberung bekannt würde.
Es gibt nur einen Weg, aus der Krise des Erinnerns herauszukommen: Die deutsche Politik muss sich aus den Fesseln ihres eigenen und des zionistischen Erinnerungsdogmas und -diktates befreien und den Gerechtigkeitsanspruch der Palästinenser frei und unabhängig von der Last des Holocaust anerkennen. Das deutsche Erinnern an den Holocaust muss wirklich universalistisch werden.
Es ist hier sehr ausführlich die israelische und die deutsche Erinnerungspolitik kritisiert worden. Wie aber müsste ein authentisches Erinnern aussehen, das den Opfern dieses Mega-Verbrechens gerecht würde? Der israelische Philosoph Moshe Zuckermann hat eine sehr gute Definition für ein den Opfern gerechtes Erinnern formuliert hat. Er schreibt:
„Wirkliches Erinnern findet nur statt, wenn es der Opfer im Stande ihres Opferseins, also um ihrer selbst willen und völlig zweckfrei gedenkt. Israel maßt sich aber selbst den Status als ‚Opfer‘ an, um daraus heteronomes Kapital zu schlagen, mithin entleert es den Begriff des Täter-Opfer-Verhältnisses auf das Schändlichste und verkehrt ihn nachgerade. Zum wirklichen Erinnern gehört zudem auch das Gedenken der historischen Situation, die wehrlose Opfer hat entstehen lassen. Nur so kann man verstehen, wie solche Situationen in Zukunft verhindert werden können.“
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