Die
Beschwörung der Antisemitismus-Gefahr als politische
Waffe
Ein Nachwort zu der Demonstration des
Zentralrats am Sonntag in Berlin
Arn Strohmeyer
Dieter
Graumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland hatte
gerufen und alle, alle kamen – die Bundeskanzlerin, der
Bundespräsident, Minister, die Spitzen der Kirchen und
sogar der muslimischen Verbände, um Flagge zu zeigen und
Solidarität auszudrücken. Wofür und wogegen? Für einen
Staat, dessen „moralischste Armee der Welt“ gerade über
2000 Menschen umgebracht und Zehntausende verletzt und
einen ganzen Landstrich in Schutt und Asche gelegt hat.
Und gegen eine „Welle des Antisemitismus“, die angeblich
über das Land hinwegging, weil ein paar durchgeknallte
und ausgeflippte Schreihälse in der Tat judenfeindliche
Parolen gebrüllt hatten. Selbst der renommierte
Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, sicher kein Freund
der Schreihälse, wollte von einem „neuen Antisemitismus“
nichts wissen.
Der
Aufschrei vom „neuen Antisemitismus“ kam nicht zufällig.
Er hat Methode. Immer wenn Israel negativ in die
Schlagzeilen kommt, gibt es diesen gut inszenierten laut
vorgebrachten Protest. Der amerikanisch-jüdische
Politologe und Historiker Norman Finkelstein hat schon
2005 diesen Sachverhalt so dargestellt: Jedes Mal wenn
Israel durch internationalen Druck (wie jetzt beim
Überfall auf den Gaza-Streifen) dazu gebracht werden
soll, seine Kriegs- und Besatzungspolitik zu beenden,
inszenieren diejenigen, die Israel blind gegen jede
Kritik verteidigt sehen wollen, eine weitere bis ins
kleinste Detail durchkomponierte Oper, die den
Zuschauern medienwirksam die erschreckenden Ausmaße des
weltweiten Antisemitismus vor Augen führen soll.
Diese
propagandistische Aufbereitung einer angeblich
bestehenden Antisemitismusgefahr – so Finkelstein
weiter – soll erstens der Kritik an Israel die
Berechtigung entziehen, zweitens die Juden und nicht die
Palästinenser als Opfer darstellen und drittens der
arabischen Welt den Schwarzen Peter zuschieben.
Finkelstein nennt dieses Hochspielen eines „neuen
Antisemitismus“ eine „ideologische Waffe“, die
missbraucht werde, um Israel gegen berechtigte Kritik
immun zu machen. Wie schändlich eine solche
Instrumentalisierung der Opfer des Holocaust für die
Rechtfertigung von Israels menschenverachtender Politik
ist, versteht sich von selbst.
Genau
dies hat sich am Sonntag vor dem Brandenburger Tor in
Berlin abgespielt. Da wurde immer wieder von den Rednern
auf das – jetzt wieder bedrohte – Lebensrecht der Juden
in Deutschland hingewiesen. Kanzlerin Merkel meinte, auf
die selbstverständliche Stellung des Judentums in
Deutschland neben Christentum und Islam hinweisen zu
müssen. Wer hat das je bestritten? Muss man ständig
Selbstverständlichkeiten wiederholen, nur weil ein paar
Schreihälse Anderes gröhlen? Im Grunde zeigt sich an
solchen Bekundungen nur, auf wie schwachem Fundament das
deutsch-israelische Verhältnis in Wirklichkeit steht,
das nicht von echtem Vertrauen, sondern auf deutscher
Seite ausschließlich von einem höchst irrationalen
Philosemitismus getragen wird. Es bleibt festzustellen:
Es gibt in Deutschland keinen von der
Mehrheitsgesellschaft (und schon gar nicht vom Staat)
getragenen Antisemitismus, der Juden gefährden könnte.
Was soll da die ganze Aufgeregtheit?
Zumal die
Frage, was Antisemitismus heute überhaupt ist, nur sehr
schwer zu beantworten ist. Der „klassische
Rassenantisemitismus“, wie ihn die Nazis praktiziert
haben, existiert Gottseidank nicht mehr. Es bleibt die
Definition: Man hasst Juden, weil sie Juden sind. Solche
Vorurteile gibt es sicher. Aber auch diese Version
dürfte nicht mehr sehr weit verbreitet sein, weil die
„Juden“ von heute die Moslems und andere Minderheiten
sind. Der Hass hat sich auf sie verlagert. Was bleibt?
Der Zorn, die Wut und die Verzweiflung über die Politik
Israels, die gerade – nach schon so vielen anderen – in
Gaza ein riesiges Massaker angerichtet hat, das Resultat
der brutalen israelischen Besatzungspolitik, die gegen
jedes Menschen- und Völkerrecht verstößt und Millionen
Palästinensern Freiheit und Menschenwürde nimmt. Kann
man Menschen, die dagegen protestieren und sich
vielleicht auch in der Wortwahl völlig vergreifen,
gleich als „Antisemiten“ bezeichnen und mit Hitlers
Schergen auf eine Stufe stellen?
„Wer
Hitler abschütteln will, muss heute die Palästinenser
verteidigen“, sagt der deutsch-französische Publizist
Alfred Grosser, der als Jude vor den Nazis fliehen
musste. Er hat recht, heute sind die von den Israelis
unterdrückten Palästinenser die Opfer und Israelis die
Täter. Sie müssen seit Jahrzehnten den Preis für den
Holocaust zahlen – und nicht die Deutschen. Aber die
deutsche Politik will diese Realität unter gar keinen
Umständen sehen. Sie tut alles, dass es bei dieser
Nicht-Wahrnehmung der Realität bleibt.
Wenn
Israels Verbrechen nicht offen beim Namen genannt werden
dürfen und nicht zwischen Judentum und Zionismus
unterschieden wird, darf man sich nicht wundern, wenn
auf den Straßen die falschen Parolen geschrien werden.
Und wer Israel jede Hilfe leistet (einschließlich Waffen
und atomar bewaffnete U-Boote), der trägt zur
Aufrechterhaltung der unhaltbaren Zustände im Nahen
Osten und zur Unterdrückung der Palästinenser aktiv bei.
Der lädt aber so auch beträchtliche Schuld auf sich. Die
Proteste auf den Straßen sind dann die logische Folge.
Merkels Krokodilstränen über solche unschönen Vorfälle
haben einen unehrlichen und heuchlerischen Charakter –
wie die ganze deutsche Nahostpolitik. Man beklagt
Vorfälle, für die man selbst mit die Ursachen geliefert
hat.
Jüdische
Kreise und der Zentralrat haben kritisiert, dass die
Demonstration in Berlin eine rein jüdische Angelegenheit
gewesen sei und nicht aus der Mitte der deutschen
Gesellschaft heraus organisiert worden ist. „Alle
Anständigen“ hätten daran teilnehmen müssen, hieß es.
Die Mehrheit der Deutschen hat offenbar – wie Umfragen
zeigen – ein sehr gutes Gespür dafür, dass man bei einer
Bedrohung durch Antisemitismus, wenn sie denn wirklich
bestände, auf die Straße gehen müsste – nicht aber für
die Kriegs- und Eroberungspolitik eines Staates wie
Israel, der im 21. Jahrhundert noch einen klassischen,
aber völlig anachronistischen grausamen
Siedlerkolonialismus praktiziert. Was Anstand ist,
darüber lässt sich also in der Tat streiten. Man geht
aber nicht fehl, wenn man sich an die Devise des antiken
jüdischen Philosophen Hillel hält, der lehrte: „Tue
Deinem Nachbarn nicht das an, was Du nicht willst, dass
man es Dir antut.“ Wenn der jüdische Staat Israel sich
daran halten würde und mit den Palästinensern einen
wirklich gerechten Frieden schließen würde, dann gäbe es
auch kein „antisemitisches“ Geschrei auf den Straßen und
Juden könnten sich überall in der Welt sehr viel
sicherer fühlen.
Aber so
sieht die Zukunft wohl eher nicht aus. Israels Führung
denkt gar nicht daran, Kompromisse zu schließen. Wie die
Diskussion wirklich läuft, hat gerade der
stellvertretende Sprecher des israelischen Parlaments
(Knesset) Moshe Feiglin von Regierungschef Netanjahus
Likud-Partei demonstriert. Er schlug jetzt ganz
ernsthaft vor, die Stadt Gaza zu vernichten und die
Bewohner des Gazastreifens zu vertreiben. Die
israelische Armee solle an der Grenze zum Sinai KZ’s
errichten, in denen die vertriebenen Palästinenser so
lange untergebracht würden, bis man Auswanderungsziele
für sie gefunden habe. Nun ist das noch keine offizielle
israelische Politik, aber es ist immerhin interessant,
in welche Richtung man denkt. Die Knesset-Abgeordnete
Ayelet Shared forderte kürzlich, alle palästinensischen
Mütter zu töten, damit sie keine Söhne mehr zur Welt
bringen könnten. Das passt zu Sprüchen an Mauern und
Wänden in Israel und den Palästinensergebieten : „Tod
den Arabern!“ und „Araber ins Gas!“
Auf der
Demonstration in Berlin waren von den Leiden der
Palästinenser und solchen rassistischen Auswüchsen in
Israel nicht die Rede. Stattdessen kündigte Graumann an,
in Zukunft – wohl mit Hilfe des Gesetzgebers – scharf
gegen jede Kritik an Israel (wo ist da genau die Grenze
zum wirklichen Antisemitismus?) vorgehen zu wollen. Das
wäre ein Angriff auf die im Grundgesetz verbürgte
Pressefreiheit. In Bundestag in Berlin wird sich für ein
solches Vorhaben sicher eine Mehrheit finden lassen,
aber da ist Gottseidank noch das Verfassungsgericht in
Karlsruhe davor.
15.09.2014