Philosophen und Dichter haben
wieder darauf hingewiesen, dass die Geschichte ein grausames Narrenspiel auf der
großen Weltbühne sei. Das ist noch sehr zurückhaltend formuliert, wenn man die
heutige globale Situation in den Blick nimmt. Der Satz. Dass die Welt aus den
Fugen geraten sei, ist inzwischen überall zu hören. Unsicherheit, Angst und
Orientierungslosigkeit sind Merkmale der Zeit und überall gegenwärtig. Aber das
Phänomen ist nicht neu. Schon der große Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) war
der Meinung, dass die Menschen, seitdem sie sich nicht mehr instinktmäßig wie
Tiere verhalten, sondern in den Stand der Freiheit entlassen sind, keineswegs
wie gute Weltbürger nach einem guten Plan handeln und dass deshalb das Bestehen
chaotischer Zustände fast das Normale zu sein scheint.
Wenn die materielle Basis,
also die Art und Weise, wie die Menschen mit der Natur umgehen und ihre Güter
produzieren und verteilen (also die Wirtschaftsordnung) der Ausgangspunkt von
allem ist, dann wird wenigstens zum Teil klar, wo der Grund für das gegenwärtige
Chaos zu suchen ist. Denn wenn das alles beherrschende Prinzip des Wirtschaftens
der Trieb und die Gier zum Immer-mehr-Haben-Wollen, also die rein
profitorientierte Ökonomie mit all ihren sozialen Ungleichheiten und
Ungerechtigkeiten ist und nicht die allgemeine Wohlfahrt das Leben der Menschen
weltweit bestimmt, dann kann der gegenwärtige Zustand der Welt wohl kaum
Verwunderung hervorrufen.
Damit soll aber keiner
Nostalgie das Wort gegeben werden, dass früher alles besser war. Das wäre völlig
unsinnig. Denn Kant hatte auch angemerkt, dass die Geschichte ein verworrenes
Spiel menschlicher Dinge sei und dass die Hauptdarsteller in diesem Spiel – eben
die Menschen – kein besonders liebenswürdiges Bild böten. Sie seien von Ehr-,
Herrsch- und Habsucht getrieben. Und deshalb lebe das Menschengeschlecht in
einem antagonistischen Zustand „ungeselliger Geselligkeit“. Es hat sich seit
Kants Zeiten an der menschlichen Natur nichts geändert, nur die Auswirkungen
seines unfriedlichen Wesens haben durch die modernen Kommunikations- und
Verkehrsmittel in einer zusammengerückten und vernetzten, also „kleiner“
gewordenen Welt ganz andere Dimension angenommen. Vom Stand der Waffentechnik
ganz zu schweigen, die jeden großen Krieg zum letzten auf dieser Erde zu machen
droht.
Was bleibt in einer solchen
Situation? Woran kann man sich noch halten? Ich bin überzeugt, dass wir nichts
anderes als die Gedanken der Aufklärung haben, jener Philosophie, die vor über
200 Jahren die Autonomie des Menschen zur einzig lebenswerten Form des
menschlichen Daseins postulierte. Aus dieser Idee folgte für Kant automatisch
die Vorstellung einer Gesellschaft freier Menschen, die dann letzten Endes zu
einem „ewigen“ weltbürgerlichen Frieden würde. Dieser Frieden wäre nicht nur ein
vorübergehender Waffenstillstand, sondern er würde das Ende des ewigen Tötens
und Getötetwerdens bedeuten, an dem die Menschen auf Anordnung der Herrschenden
wie Maschinen oder Automaten teilnehmen müssen. Es wäre ein Friedenszustand der
Freiheit und Sicherheit für alle Völker und Staaten. Kant glaubte daran, dass
die Staaten bei Beibehaltung ihrer Souveränität in einem Völkerbund ihren
kriegerischen Eigensinn unter gemeinsame Kontrolle bringen und so Frieden
erreichen könnten. Wenn der Königsberger Philosoph die Notwendigkeit einer
solchen Lösung schon für seine Zeit sah, wie notwendig ist sie dann erst heute!
Man mag das für eine
idealistische Träumerei halten, aber welche Alternative hat die Menschheit
angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, der bevorstehenden so
gut wie unausweichlichen ökologischen Katastrophe und der Drohung eines großen
Krieges? Auch der moderne Philosoph Karl Popper (1902-1994) hatte sich zu den
Ideen der Aufklärung bekannt, obwohl ihm bewusst war, dass er damit als
„unzeitgemäßer“ Nostalgiker dastehe. Aber dieses Unzeitgemäße könne die Tatsache
nicht vergessen machen, dass die westliche Zivilisation ohne diese Ideen
(Gleichheit, Freiheit, Rechtsstaat, Selbstbestimmung, Meinungs- und
Pressefreiheit) nicht existieren würde, so unvollkommen sie in der Praxis
vielleicht auch realisiert werden. Und dass gerade Europa deshalb gute Gründe
habe, sich immer wieder erneut auf die Aufklärung zu besinnen. Wenn Popper sich
hierbei auf Kant bezog, dann meinte er die Idee der Selbstbefreiung durch
Wissen, die Idee der pluralistischen und offenen Gesellschaftsordnung und die
Idee des ewigen Friedens als Ziel der politischen Geschichte.
Warum eine so lange
Ausführung über die Aufklärung in einem Buch, das sich mit der Politik Israels
und den deutschen Reaktionen darauf beschäftigt? Ich sagte es schon, dass die
Aufklärung das einzige Ideen- und Moralsystem ist, das uns Maßstäbe und Werte
vermitteln kann, um zu besseren politischen und ökonomisch-sozialen Lösungen der
anliegenden globalen Probleme zu kommen. Wie Jürgen Habermas bekannt hat: „Wir
haben nur die Aufklärung, und selbst ihre Fehler und Versäumnisse können wir nur
mit den Mitteln der Aufklärung korrigieren.“ Diese Ideen und Maximen habe ich
mir immer zum Ausgangspunkt und zur Richtschnur meines Schreibens gemacht. Und
gerade in der Auseinandersetzung mit Israel und seiner Politik sind solche
Kriterien unbedingt notwendig. Wonach sollten wir sie sonst beurteilen als nach
den aus Aufklärung abgeleiteten Maßstäben von Demokratie, Menschenrechten und
Völkerrecht?
Israel versteht sich als
westliche Demokratie und zur westlichen Zivilisation zugehörig. Aber trifft das
auf einen Staat zu, dessen Gründung nur durch den Raub des Landes eines anderen
Volkes und eine große Vertreibungsaktion möglich war; der 70 Jahre nach seiner
Entstehung immer noch Krieg gegen die verbliebenen Reste dieses Volkes führt,
sie in Enklaven (man kann auch sagen Bantustans) hinter Mauern und Zäunen
wegsperrt und eine gnadenlose Kontroll- und Unterdrückungspolitik gegen diese
Menschen praktiziert; der die nicht-jüdischen Menschen in seinen Grenzen seit
jeher diskriminiert und jetzt ein Nationalgesetz in Kraft gesetzt hat, das diese
Menschen endgültig und ganz offiziell aus dem „jüdischen Staat“ ausschließt und
sie zu Wesen zweiter oder dritter Klasse degradiert; der 4,5 Millionen Menschen
in seinem Herrschaftsbereich (Westjordanland und Gazastreifen) die Anerkennung
der mindesten bürgerlichen und politischen Rechte verweigert. Die Rede ist
natürlich von den Palästinensern.
Diese unhaltbare Situation hat ihre inhumane
Spiegelung in der deutschen Reaktion – in der offiziellen deutschen Politik
gegenüber Israel, im medialen Mainstream und der Einstellung der Anhänger
Israels in der Bevölkerung. Ein Kritiker, der die Dinge beim Namen nennt, hat
dieses Verhältnis so beschrieben:
"Es gibt einen ernstzunehmenden
Grund dafür, dass man in Deutschland nach der Nazikatastrophe dieses
idealisierte Wunschbild von Israel zusammenphantasiert hat, von dem man unter
keinen Umständen lassen will oder lassen darf: Die durch die furchtbare
Vergangenheit belastete deutsche Seele brauchte und braucht dringend Entlastung.
Man hofft, die ersehnte Seelenruhe dadurch zu gewinnen, dass man sich auf die
‚richtige‘ Seite begeben hat und zum Philosemiten mutiert ist. Man glaubt, Sühne
für Verbrechen an den europäischen Juden zu leisten, indem man das zionistische
Projekt bedingungslos unterstützt und zu den Verbrechen der Zionisten schweigt.
Auch die Vorstellung von der deutsch-israelischen Wertegemeinschaft ist ein
Produkt dieses deutschen Bedürfnisses nach Befreiung von der alten Schuld. Nur
indem man sich in dieser realitätsfernen Wunschwelt bewegt und alles Störende
abwehrt, kann man die Politik Israels, die unseren Werten ja fundamental
widerspricht, widerspruchlos hinnehmen, und sogar tatkräftig unterstützen. Die
Wahrheit kommt dabei unter die Räder. Um die Fiktion vom gleichgesinnten Freund
Israel aufrechterhalten zu können, ist man zur permanenten Unaufrichtigkeit
gezwungen.“
Und er folgert daraus: „Das
gepriesene ‚deutsch-israelische Wunder‘ entpuppt sich als deutsch-israelisches
Dilemma. Die Deutschen, die es diesmal besonders gut machen wollen, sind mit
ihrer bedingungslosen Unterstützung des zionistischen Projekts zu Komplizen
einer anachronistischen kolonialistischen Verdrängungs- und
Unterdrückungspolitik geworden. Während sie glauben, ihren Beitrag zur
Sicherheit des kleinen bedrohten Israel zu leisten, tragen sie in Wirklichkeit
dazu bei, die brutale Herrschaft des Besatzungsregimes über ein anderes Volk zu
sichern. Weil sie nicht den Mut haben, den Tatsachen ins Auge zu blicken, kommen
sie ihrer eigentlichen Verpflichtung nicht nach. Denn eigentlich müssten sie ja
– aufgrund ihrer doppelten Erfahrung mit dem Holocaust einerseits und mit dem
Scheitern ihrer nationalistischen expansiven Gewaltpolitik andererseits – für
den absoluten Vorrang der Menschenrechte und des Völkerrechts eintreten – und
gerade in der ‚besonderen Beziehung“ zu Israel.“