Die Entstehung Israels als
Heldenepos
Eine Antwort auf Bastian Berbners ZEIT-Artikel: „70 Jahre
Israel. Warum kommt der Staat nicht zur Ruhe?“
Arn Strohmeyer
Man kann die Geschichte eines Staates aus historisch-kritischer
oder mythisch-idealistischer Perspektive beschreiben. Für die
zweite Sicht hat sich der Publizist Bastian Berbner in einem
umfangreichen ZEIT-Artikel (Ausgabe vom 12.04.2018) über die
Entstehung Israels entschieden, das zur Zeit seinen 70.
Gründungstag begeht. Berbner reduziert den Entwicklungsweg, den
dieser Staat von seinen Anfängen bis heute genommen hat, auf das
Heldenepos zweier jüdischer Politiker: Arthur Ruppin und Pinchas
Wallerstein. Ein solches Vorgehen liest sich sehr gefällig,
birgt aber das Risiko, dass die historische Realität (um nicht
von historischer „Wahrheit“ zu sprechen) dabei aus dem Blick
gerät oder sogar ganz verschwindet. Der Autor – das sei als
Resultat schon vorweggenommen – ist dieser Gefahr auch voll
erlegen. Den inhumanen Realitäten, die der der Zionismus (bei
allen Erfolgen, die er für sich selbst auch erzielt hat) im Lauf
seiner Geschichte im Nahen Osten geschaffen hat, geht Berbner
lieber aus dem Weg.
Der Autor erweckt den Eindruck, als sei der Beginn der
zionistischen Besiedlung in Palästina vorrangig das Werk eines
Mannes gewesen, des deutschen Juden Arthur Ruppin, der 1907 nach
Palästina ausgewandert war. Er wird als „Architekt eines
jüdischen Palästina, als Meister des Faktenschaffens“
geschildert. Ruppin kümmerte sich Berbner zufolge um alles,
kaufte vor allem Land von den Arabern (nicht immer mit
ehrenhaften Methoden), baute Straßen und Siedlungen, richtete
Schulen und Kindergärten ein und hatte die Vision, auf einem
Dünengelände bei Jaffa die Stadt Tel Aviv zu bauen. Nur sehr
zurückhaltend deutet der Autor an, worum es den Zionisten als
Fernziel eigentlich ging: einen rein jüdischen (Staat ohne
Araber) zu schaffen.
Berbner teilt die Pläne und Visionen seiner Helden, ja er
bewundert seine beiden Hauptdarsteller maßlos. Dabei
unterschlägt er mehrere zum Verständnis der zionistischen
Gründungsphase in Palästina wichtige Fakten: Der Autor
behauptet, dass die Gründerväter der Bewegung keine Strategie
gehabt und mehr aus dem Instinkt heraus gehandelt hätten. Das
Ziel der Zionisten (und daraus ergab sich auch ihre Strategie)
hatte aber schon der Gründer der Bewegung Theodor Herzl klar
formuliert und vorgegeben: eben die Schaffung eines homogenen
jüdischen Staates. Da die dort lebenden Araber bei der
Realisierung dieses Zieles störten, sollten sie – so Herzl –
„unbemerkt außer Landes geschafft“, also vertrieben werden. Dass
auch die seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden dort
lebenden Palästinenser einen Anspruch auf das Land haben, hat
die Zionisten bis heute nicht interessiert. Der ZEIT-Autor
erwähnt diesen Umstand an keiner Stelle seiner Ausführungen.
Die sehr geschickte Strategie der zionistischen Bewegung bestand
darin, nicht nur „Fakten“ zu schaffen, sondern vor allem
„vollendete Tatsachen“ (“faits accomplis)“, die weder von den
einheimischen Arabern noch von auswärtigen Mächten wieder
rückgängig gemacht werden könnten. Nicht ein einzelner Mann war
da also tätig, sondern eine mächtige Bewegung, die ihren
Siedlerkolonialismus mit massenhafter und teilweise illegaler
Einwanderung von Juden, nicht immer koscheren Landkäufen, dem
Aufbau von bewaffneten Verbänden, der Schaffung von
Institutionen und Siedlungen nach strategischen Gesichtspunkten
in Angriff nahmen, bis sie so mächtig geworden war, dass die
Briten, die seit 1922 die Mandatsmacht über Palästina waren,
erst die Teilung des Landes vorschlugen, dann nach massiven
Terroranschlägen der Zionisten ihr Mandat aufgaben und das Land
1948 verließen, womit der Weg zur Staatsgründung für die
Zionisten frei war.
Ihre wahren Ziele hielten diese lange Zeit hinter wohlklingenden
Floskeln verborgen. War zuerst vom „friedlichen Zusammenleben
mit den Palästinensern“ die Rede (ab 1897), war die nächste
Stufe die „Errichtung einer jüdischen nationalen Heimstätte“
(1918), dann folgte die Forderung nach einem binationalen Staat
(1929), ab dieser Zeit kam es zu gewaltsamen
Auseinandersetzungen mit den Palästinensern, und schließlich
postulierten die Zionisten ihren eigenen Staat (1942), der dann
im Mai 1948 auch gegründet wurde – mit der gleichzeitigen
Vertreibung eines Großteiles (genau gesagt der Hälfte) der
palästinensischen Bevölkerung in der Nakba.
Die Zionisten standen von Anfang an unter dem
Rechtfertigungsdruck, den Anspruch zu begründen, den sie auf das
Land erhoben. Neben den Angaben des Alten Testaments, die die
historisch-kritische Forschung heute zum großen Teil aber als
Legenden beziehungsweise Mythen betrachtet, führte die
zionistische Bewegung den Zustand des Landes zur Zeit ihrer
frühen Einwanderung an: es sei unter den Arabern zu einer Ödnis,
zu einem Brach- und Sumpfland verkommen. Die Zionisten würden
nun Zivilisation und Fortschritt dort einführen, „die Wüste zum
Blühen bringen“, einen „paradiesischen Garten“ aus ihr machen,
ja das Land „erlösen“, wie sie es mit einem religiösen Begriff
bezeichneten.
Berbner glaubt an diesen Mythos und bedient ihn mit den üblichen
Stereotypen: Sein Held Ruppin kam in ein Land, in dem es keine
Straßen gab, geschweige denn gepflasterte Straßen, nicht einmal
„Wege für Sonntagsspaziergänge“ existierten und schon gar keine
Duschen und ordentliche Toiletten. Nun war Palästina zweifellos
durch die jahrhundertelange Herrschaft und Ausbeutung durch die
Türken ein rückständiges Land, aber Reisende, die die Region im
19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts besuchten,
hatten einen ganz anderen Eindruck. So bescheinigt etwa der
Baedecker von 1912 den Städten Haifa und Jaffa – aber auch
Nazareth, Bethlehem, Hebron, Tiberias, Nablus usw. – eine hohe
Stadtkultur und hebt unter anderem die pittoresken Moscheen und
die schönen Gärten hervor. Im Besonderen preist dieser
Reiseführer die Fruchtbarkeit vieler Landstriche mit ihren
Orangenbäumen, Olivenplantagen und Getreidefeldern.
Der protestantische amerikanische Missionar William McClure
Thomson, der im 19. Jahrhundert Palästina besucht hatte, sah
weite Gebiete, die mit Getreide, Oliven, Feigen, Melonen,
Mandelbäumen und Weinstöcken kultiviert waren. Er registrierte,
dass vor allem um die großen Städte herum „alles Land agrarisch
genutzt werde und sehr fruchtbar“ sei. Ganz ähnliche Eindrücke
beschreibt Mark Twain in seinem Palästina-Reisebericht „The
Innocent Abroad“. Man könnte noch viele andere Quellen nennen,
die das arabische Palästina als ein Land beschreiben, dessen
prosperierende Wirtschaft ihre Produkte sogar in großem Stil
nach Europa exportieren konnte. (Siehe: Klaus Polkehn: Damals im
Heiligen Land. Reisen ins alte Palästina, Hamburg 2005)
Berbner negiert solche Berichte aber völlig und schreibt: „Der
Blick hinüber ins Jordantal, zum Kibbuz Degania, wo Ruppin
begraben liegt, zeigt die unfassbare Entwicklung, die er
angestoßen hat. 1908 war diese Landschaft tot, heute blüht hier,
bewässert von Higtech-Anlagen, die das Jordanwasser in der
ganzen Region verteilen, ein Paradies aus Orangenhainen,
Melonenfeldern und Mandelbäumen. Im Zentrum Tel Avivs, wo einst
die ersten Bewohner durch den Sand stapften, trinkt heute die
Hipsterjugend Cashewmilch-Capuccinos.“
Nun sollen die jüdischen Leistungen im Land gar nicht bestritten
werden. Sie beruhen zum großen Teil aber auf dem Raub des Bodens
und der Ressourcen. Die Palästinenser hätten vermutlich auch
sehr vorzeigbare landwirtschaftliche Erfolge vorzuweisen, wenn
die Israelis ihnen nicht im wahrsten Sinne des Wortes den
Wasserhahn zudrehen würden. Berbner ist der Vorwurf zu machen,
dass er ungeprüft zionistische Mythen übernimmt – wie eben die
„Wüste zum Blühen“ gebracht zu haben. Die zionistische Ideologie
braucht solche künstlich erzeugten Mythen zur Rechtfertigung des
immer noch umstrittenen Anspruchs auf das Land. Die Mythen
brauchen auch nicht einmal einen Kern Wahrheit zu enthalten. Der
Zionistenführer und erste israelische Ministerpräsident Ben
Gurion begründete das so: „Starker Glaube kann den Mythos in
Wahrheit verwandeln oder zumindest in so gut wie in Wahrheit.“
Der ZEIT-Autor hat aber keinen Zweifel an dem berechtigten
Anspruch Israels auf das Land. Er leitet ihn auch aus den Leiden
und Verfolgungen ab, die das jüdische Volk – gipfelnd im
Holocaust – durchgemacht hat. Aber auch hier benutzt die
zionistische Argumentation wieder den Mythos, ohne dass die
Leiden der Juden in der Geschichte geleugnet werden sollen. Denn
es hat in der Geschichte auch lange Zeiten einer sehr
friedlichen moslemisch-jüdischen Symbiose gegeben, aus der nicht
nur eine arabisch-sprachige jüdische, sondern auch eine
jüdisch-arabische oder gar jüdisch-islamische Kultur
hervorgegangen ist
Auch im Abendland sind Juden nicht ständig und immer verfolgt
worden. Sie genossen bis zum Aufkommen des Kapitalismus sogar
eine Vorzugsstellung in der wirtschaftlichen Zirkulations- und
Handelssphäre. In der feudalistischen Epoche hatte das jüdische
Kapital große Ausdehnungsmöglichkeiten. Mit den Begriffen „Exil“
und „Vertreibung“, die auch Berbner benutzt, muss man eher
vorsichtig umgehen. Zur Zeit der Zerstörung des Tempels 70 n.u.Z
lebten die meisten Juden – freiwillig emigriert – schon lange
außerhalb Palästinas, verstreut über das ganze römische Reich
und darüber hinaus, nicht zuletzt auch in Babylon.
Die Vertreibungen der Juden im Jahr 70 und 135 (nach dem Bar
Kochbar-Aufstand) werden heute selbst von israelischen
Historikern als Legenden eingeschätzt. So führt Shlomo Sand an,
dass für Vertreibungen nach diesen Ereignissen keinerlei
historische oder archäologische Beweise vorlägen. Er schreibt,
dass es nach der Rebellion harte Repressionen gegen die Juden
gegeben habe, aber: „Kein einziger Einwohner Judäas wurde im
Jahr 135 in die Verbannung geschickt.“ Wie übrigens auch nach
dem Aufstand im Jahr 70, nach dem es auch keine Vertreibungen
gab. Sand weist darauf hin, dass die Römer so gut wie nie
vertrieben hätten, denn ihr Imperium lebte von den
Steuereinahmen der Unterworfenen. Mit Vertreibungen hätte das
Imperium sich selbst geschadet.
Aber selbst wenn es die Vertreibungen in den Jahren 70 und 135
gegeben hätte, wären sie ein Argument und eine Rechtfertigung
für den gewaltsamen Landraub an den Palästinensern, den die
Zionisten in der Gegenwart vorgenommen haben? Gäbe es ein
„historisches Recht“ auf Rückkehr in den früheren Lebensraum
nach 2000 Jahren, in der Welt würde eine furchtbare Anarchie
herrschen: Die Indianer könnten verlangen, dass die Weißen
Amerika verlassen müssten; die Griechen, die 3000 Jahre in
Kleinasien sesshaft waren, könnten von der Türkei die Rückgabe
des Landes fordern und und…
Weil der ZEIT-Autor um die Dürftigkeit dieser Argumente weiß,
zieht er seine stärkste Trumpfkarte hervor, den Holocaust: „In
Europa haben die Nazis damit begonnen, Juden in
Konzentrationslagern zu ermorden. Der Antisemitismus,
jahrhundertealt, gipfelt im Holocaust – diesem
Menschheitsverbrechen, das endgültig zeigt: Wenn es überhaupt
jemanden gibt, dem es zusteht, sich ein Land anzueignen, um dort
Zuflucht zu finden, dann sind es die Juden. Das jüdische Volk
sehnt sich nicht nach Macht, sondern nach Sicherheit.“ Und gegen
alle Kritiker gewandt, die es wagen, Israels völkerrechts- und
menschenrechtswidrige Politik zu kritisieren, führt er an: „Zur
Tragik der Geschichte gehört, dass Antisemiten in den folgenden
Jahrzehnten auch das gegen die Juden wenden werden: Haben sie
sich gierig Land zusammengerafft?“
Einmal abgesehen davon, dass hier der Holocaust schändlich
instrumentalisiert wird, um ein neues Verbrechen zu
rechtfertigen, muss auch gefragt werden: Ist dieses Argument
wirklich stichhaltig? Die zionistische Besiedlung Palästinas hat
1880 begonnen, also 60 Jahre vor dem Holocaust – und später
machten die Flüchtlinge vor den Nazis bzw. Überlebende des
Holocaust auch nur einen Teil der israelischen Gesellschaft aus.
Dass Holocaust-Überlebende in Israel wie Parias behandelt
wurden, weil sie nicht dem Ideal des tatkräftigen, wehrhaften
„neuen Juden“ entsprachen, sei nur am Rande erwähnt. (Siehe das
Buch des israelischen Historikers Tom Segev: „Die siebte
Million“ und die Bücher von Moshe Zuckermann, der dieses Thema
auch immer wieder aufgreift.)
Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang aber eine Argumentation,
die der palästinensische Intellektuelle Edward Said vorgebracht
hat: „Wir [die Palästinenser] wohnten in einem Land, das
Palästina hieß; waren unsere Verluste und unsere Enteignung
[durch die Zionisten] – in deren Verlauf nahezu eine Million
Menschen Palästina verlassen musste und unser
Gesellschaftszusammenhang aufgelöst wurde – auch dann
gerechtfertigt, wenn es um die Rettung der europäischen Juden
ging, die dem Nationalsozialismus entkommen konnten? Auf Grund
welcher moralischen und politischen Norm wird von uns erwartet,
dass wir unser Anrecht auf unsere nationale Existenz, unsere
Forderungen nach Land und der Einlösung der Menschenrechte
beiseite fegen? In was für einer Welt leben wir denn, in der die
Argumente schweigen und einem ganzen Volk weisgemacht werden
soll, dass es juristisch nicht existent sei, wobei aber
gleichzeitig Armeen gegen eben dieses Volk ins Feld geführt,
Kampagnen gegen seine Namensgebung initiiert und historische
Fakten derart manipuliert werden, dass seine vermeintliche
weltgeschichtliche Abwesenheit ‚bewiesen‘ ist?“
Der ZEIT-Autor sieht das Wirken der Zionisten in Palästina also
mit sehr einseitigem philosemitischen Blick. Das wird auch in
der Sicht auf seinen Helden Ruppin deutlich. Er wird als
moderater Zionist beschrieben, der sich mit den Arabern um ein
friedliches Zusammenleben bemühte und sogar meinte, dass in
Palästina genug Platz für beide Völker sei. Da waren andere
Zionisten später ganz anderer Ansicht. Der frühere Direktor des
Jüdischen National-Fonds (JNF) Joseph Weitz schrieb: „Nach dem
Zweiten Weltkrieg stellten wir uns die Frage nach dem
Territorium Israels und dem Problem der Juden. Es ist vollkommen
klar, dass für beide Völker in diesem Land kein Platz ist. (…)
Die einzige Lösung wird Eretz Israel [Groß-Israel] heißen,
zumindest ein westliches Eretz Israel ohne Araber. Es gibt
keinen Raum für Kompromisslösungen! (…) Die Araber müssen in die
Nachbarländer abgeschoben werden – und zwar alle. (…) Wir dürfen
kein einziges Dorf, keine einzige Ansiedlung auslassen. Die
Umsiedlung der Araber muss in den Irak, nach Syrien, sogar nach
Transjordanien erfolgen. Es gibt keinen anderen Weg.“
Und David Ben Gurion hatte schon 1937 bekannt: „Ziel und
Prüfstein des Zionismus ist die vollständige Umsetzung der
Kolonisierung aller Gebiete des Landes Israel durch die Juden.
Jede Teilung Palästinas, jede grüne Linie, jedes Abkommen und
jeder Vertrag, die ein Stück des Landes Israel gegenüber der
jüdischen Kolonisierung verschließen, ist aus Sicht des
Zionismus höchstens eine Durchgangsetappe, darf aber niemals für
immer gelten.“ Das waren keine leeren Worte, die Zionisten haben
sie konsequent in die Tat umgesetzt. Und der Gedanke eines
„Transfers“ – eine schöne Umschreibung für Vertreibung – spukt
heute noch in den Köpfen vieler Israelis (auch führender
Politiker) herum.
Insofern muss man fragen, ob die Äußerungen Ruppins, die den
Wunsch nach friedlichem Zusammenleben mit den Palästinensern
ausdrückten, wirklich ernst gemeint oder reine Rhetorik waren,
um die Gegenseite und die Weltöffentlichkeit zu beruhigen. Denn
die völlige Negierung und Diskriminierung der Palästinenser war
von Anfang an ein wichtiges ideologisches Wesenselement des
Zionismus. Die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir behauptete
sogar (siehe das Zitat von Edward Said), dass es gar kein
palästinensisches Volk gebe. Insofern sind auch die Äußerungen
Ruppins mit Vorsicht zu beurteilen.
Derselbe Ruppin, der friedlich mit den Palästinensern
kooperieren wollte, war einer der wichtigsten Baumeister der
„nationalen jüdischen Heimstätte“, aus der dann der Staat Israel
hervorgehen sollte. Ruppin war einer der Erfinder der „jüdischen
Arbeit“, das heißt, arabische Arbeitskräfte wurden aus jüdischen
Unternehmen ausgeschlossen, arabische Produkte wurden von den
Juden boykottiert und arabisches Land systematisch aufgekauft,
wodurch Tausende von palästinensischen Bauern arbeitslos wurden.
Ziel dieses Vorgehens, an dessen Durchführung Ruppin maßgeblich
beteiligt war, sollte die Schaffung einer rein jüdischen,
geschlossenen Wirtschaft sein, in der Konsumenten,
Zwischenhändler und Produzenten allesamt jüdisch sein mussten.
Die Trennung der beiden Bevölkerungen sollte mit allen Mitteln
durchgeführt werden. Eine solche Politik hat wenig mit einem
friedlichen Zusammenleben mit den Arabern zu tun.
Ist Arthur Ruppin in Berbners Heldenepos der Heros der ersten
Epoche des zionistischen Wirkens in Palästina, so ist es Pinchas
Wallerstein für die Gegenwart. Dieser orthodoxe Anführer der
Siedler im besetzten Westjordanland (er war der Generalsekretär
des Jesha-Rates der Siedler) wäre nach bürgerlichen Maßstäben
(etwa nach dem deutschen Strafgesetzbuch) schlicht als Mörder,
also als Verbrecher, zu bezeichnen. So jedenfalls schildern die
beiden Israelis – die renommierte Historikerin Idith Zertal und
der Publizist Akiva Eldar – Wallerstein in ihrem Standardwerk
über die Siedlerbewegung „Die Herren des Landes. Israel und die
Siedlerbewegung (München 2007). Wallerstein hat den Autoren
zufolge, ohne sich in Notwehr zu befinden, mehrere Palästinenser
erschossen und auch zu Morden aufgerufen. Vor Gericht kam er mit
milden Strafen davon. Ein Strafmaß von drei Jahren für die
Tötung eines Palästinensers gilt als Obergrenze, bisweilen
kommen die Mörder auch mit der Verurteilung zu gemeinnütziger
Tätigkeit davon.
In welchem politisch-religiösem Klima sich die Siedler im
Westjordanland bewegen, beschreiben Zertal und Eldar so: „Die
Siedler erlauben sich vorzugehen, als gebe es überhaupt kein
Gesetz, und taten, was immer sie in den besetzten Gebieten für
nötig erachteten.“ Sie zitieren einen Israeli, der die Situation
so schildert: „Das ist Anarchie erster Klasse. Jeder kann
machen, was er will. Es ist ein anderer Planet. Du bist das
Gesetz.“ Die beiden Autoren fügen dann hinzu, dass der
israelische Staat die gewalttätigen Siedler mit „behutsamer
Hand“ gewähren lässt, wohingegen er gegenüber den Palästinensern
eine Politik der „harten Hand“ verfolgt.
Zertal und Eldar schreiben: „In den Jahren zwischen der ersten
Intifada und dem Oslo-Abkommen mehrten sich die gewaltsamen
Übergriffe und Gesetzesverstöße der Siedler. Indem sie die
Politik der ‚behutsamen Hand‘, welche die Gerichte ihnen
gegenüber an den Tag legten, ausnutzten, schufen sich die
Siedler ihr eigenes Recht und änderten die Bestimmungen zum
Gebrauch der Schusswaffen. Der allgemein gültige Grundsatz, dass
von Schusswaffen nur Gebrauch zu machen sei, wenn akute
Lebensgefahr bestünde, wurde ad acta gelegt. Die Siedler wiesen
ihre Anhängerschaft explizit an, das Feuer ‚zum Zweck der
Abschreckung‘ zu eröffnen, immer wenn Steine flogen und selbst
wenn die Steinewerfer die Flucht ergriffen.“ Die Initiativen und
Aktionen der Siedler gegen Palästinenser sehen Zertal und Eldar
zufolge so aus: wilde Straßensperren mit dem Ziel zu errichten,
den normalen Lebensablauf der Palästinenser zu stören,
Wassertanks in arabischen Dörfern zu beschießen, Fahrzeuge in
Brand zu setzen und die Ernteerträge zu vernichten. Das ist auch
heute noch tägliche Praxis.
Diese Siedler werden, wie Zertal und Eldar schreiben, von einem
Großteil der israelischen Gesellschaft als „Helden“ verehrt. Der
ZEIT-Autor schließt sich offenbar diesem Urteil an, denn Kritik
äußert er an seinem Heros Wallerstein nicht, er bewundert ihn
maßlos. Er ist wie Ruppin ein Pionier, der aus der Ödnis und
Wüstenei des Westjordanlandes Neues schafft: „Im gesamten
Westjordanland lassen sich Gruppen religiöser Juden nieder. Es
ist erstaunlich, wie sich die Entwicklung gleicht. Aus Wegen
werden Straßen, aus Dörfern Städte, aus Vorläufigem wird
Dauerhaftes. In Ruppins Zeit wanderten 500 000 Juden nach
Palästina ein, zu Wallersteins Zeit 400 000 ins Westjordanland.“
In diesem Zusammenhang unterlaufen dem ZEIT-Autor einige
entscheidende und peinliche Fehler. Denn er erweckt den
Eindruck, als sei die Besiedlung des Westjordanlandes in der
Hauptsache das Werk Wallersteins und seines Anhanges. Diese
Behauptung ist nach der Darstellung von Zertal und Eldar
grundfalsch. Sie legen dar, dass die Siedler zwar direkt nach
der Eroberung des Westjordanlandes durch das israelische Militär
1967 vorpreschten und die ersten Siedlungen errichteten, aber
ohne die moralische und finanzielle Unterstützung des Staates –
und zwar aller israelischen Regierungen bis heute – überhaupt
nichts gelaufen wäre: „Zwar waren es Siedler, die Besitz von
diesem Land ergriffen, jedoch war es der Staat, der es
konfiszierte und seinen Bürgern ermöglichte, sich dort
anzusiedeln. (…) Es ist dies die miteinander verschränkte
Geschichte der Siedler und des israelischen Staates in den
letzten 40 Jahren.“ Inzwischen sind es 50 Jahre!
Zertal und Eldar sprechen von der „systematischen Methode“, mit
der immense Beträge staatlicher Zuwendungen direkt oder indirekt
über unzählige Kanäle und in allen erdenklichen Formen der
Verschleierung diesem Siedlungsprojekt zugeführt worden seien.
Sie resümieren: „Betrug, Scham, Verschleierung, Leugnen,
Verdrängung haben das Verhalten des Staates in Bezug auf den
Kapitalfluss an die Siedlungen charakterisiert. Man kann sagen,
dass dies einer der großen Akte von Irreführung der
Öffentlichkeit gewesen ist, an dem sämtliche Regierungen Israels
Anteil hatten. Dieser massive Selbstbetrug wartet noch auf eine
Studie, die seine ganze Ungeheuerlichkeit offenbaren wird. Die
Bürger Israels sind nicht nur berechtigt, den vollen
ökonomischen Preis der Siedlungen zu erfahren, sondern schulden
sich selbst auch eine Antwort auf die Frage, warum ihr Staat
seit Jahrzehnten in ein politisches Projekt von unabsehbaren
historischen Implikationen verstrickt ist und die ganze Zeit
versucht, die Spuren seiner Beteiligung zu verwischen.“
Inzwischen leugnet der israelische Staat seine Beteiligung an
dem Siedlungsprojekt nicht mehr, aber dennoch sind diese Zeilen
sehr aufschlussreich, zumal der ZEIT-Autor von solchen
Realitäten gar nichts wissen will.
Ganz im Gegenteil, er produziert eine Fake-Nachricht von
klassischem Format. Er schreibt, dass die USA Widerstand gegen
Israels Siedlungspolitik geleistet hätten. Und dann wörtlich:
„Tatsächlich schafften es die amerikanischen Präsidenten Bill
Clinton, George W. Bush und Barack Obama, alle drei Gegner der
israelischen Siedlungspolitik, dass Israel während ihrer
Amtszeit keine neue Siedlung baut, seit 1992.“ Das würde
bedeuten, dass von Clintons Amtsantritt1993 bis zum Ende der
Amtszeit Obamas 2017 keine neuen Baumaßnahmen im Westjordanland
in Angriff genommen worden seien. Diese Behauptung entbehrt
jeder Grundlage und ist schlicht falsch. Woher hat der
ZEIT-Autor diese Information?
Nach Angaben der größten israelischen Menschenrechtsorganisation
Betselem sind zwischen 1967 (Ende des sogenannten
Sechs-Tage-Krieges) bis Mitte 2013 genau 125 Siedlungen gebaut
worden. Im Zeitraum von 1967 bis 2016 waren es derselben Quelle
zufolge mehr als 200. Dazu kam, dass die bestehende Siedlungen
ständig weiter ausgebaut wurden. Die Palästinenser konnten es
1993 in den Oslo-Verträgen nicht durchsetzen, ein Ende des
Siedlungsbaus zu erreichen, deshalb ging er in der Folgezeit
ungebremst weiter und war ein Grund für das Entstehen des
zweiten Aufstandes der Palästinenser (Intifada) im Jahr 2000.
Der israelische Regierungschef Ehud Barak brüstete sich sogar
damit, dass seine Regierung (von 1999 bis 2001) viermal so viele
Siedlungen gebaut habe wie die erste Regierung Netanjahu (1996
bis 1999). Der israelische Publizist Uri Avnery sagte in einem
Interview mit Linksnet am 28.2.2001: „Der Eindruck, dass Barak
ein Friedensministerpräsident war, ist eine Legende. Barak hat
die Siedlungen in den besetzten Gebieten mehr vorwärtsgetrieben
als alle seine Vorgänger. Er hat überall in den besetzten
Gebieten die Siedlungen erweitert, neue Landstraßen für die
Siedler gebaut, Häuser demoliert, Bäume entwurzelt. Der Krieg
gegen die Palästinenser ging unter Barak uneingeschränkt weiter.
Die Aussage, er hätte den Palästinensern Zugeständnisse gemacht,
die ein Frieden ermöglicht hätten, ist auch eine Legende, denn
in den wichtigsten Punkten war Barak weit davon entfernt das zu
tun, was nötig war, um einen Frieden zu ermöglichen.“ Es gab
also kein Ende des Siedlungsbaus in der angegeben Zeit. Dass
diese Baumaßnahmen im Westjordanland nicht ohne Landraub in
großem Stil möglich war und ist, versteht sich von selbst.
Betselem beschreibt die Folgen des Siedlungsbaus für die
Palästinenser so: „Die völkerrechtswidrige Existenz von
Siedlungen führt zur Verletzung vieler Menschenrechte der
Palästinenser, einschließlich der Eigentumsrechte, der
Gleichheit, eines angemessenen Lebensstandards und der
Freizügigkeit. Darüber hinaus schließen die radikalen
Veränderungen, die Israel auf der Westbankkarte vorgenommen hat,
jede reale Möglichkeit aus, einen unabhängigen, lebensfähigen
Staat in Erfüllung des Rechts auf Selbstbestimmung zu errichten.
Obwohl das Westjordanland nicht zu Israels Hoheitsgebiet gehört,
hat Israel die meisten seiner nationalen Gesetze auf die
Siedlungen und ihre Bewohner angewandt. Infolgedessen genießen
die Siedler fast die gleichen Privilegien wie Bürger, die in
Israel leben.“
Und weiter: „Die Palästinenser leben weiterhin unter dem
Kriegsrecht und werden dadurch systematisch ihrer Rechte beraubt
und ihnen wird die Möglichkeit genommen, in Bezug auf das
Gebiet, in dem sie leben, wirklichen Einfluss auf die
Politikgestaltung zu haben. Bei der Schaffung dieser Realität
hat Israel ein Regime geschaffen, in dem die Rechte eines
Menschen von seiner nationalen Identität abhängen.“ Man kann
diesen Zustand auch Apartheid nennen.
Diese Zeilen stammen wohlgemerkt von einer israelischen
Menschenrechtsorganisation. Der ZEIT-Autor Bastian Berbner nimmt
solche Realitäten nicht zur Kenntnis. Die Palästinenser kommen
in seinem Heldenepos nur am Rande vor, wenn überhaupt. An einer
Stelle erwähnt er die zunehmende Gewalt der Palästinenser in den
20er und 30er Jahren gegen Juden, verschweigt aber die Gründe
für den zunehmenden Widerstand der einheimischen Bevölkerung.
Die Palästinenser hatten inzwischen verstanden, dass die
Zionisten die vollständige Machtübernahme in Palästina in
Angriff nahmen. Was bedeutete: Es wurde manifest, dass die
Zionisten, um in Palästina leben zu können, den Palästinensern
das Lebensrecht dort nehmen wollten. Was in der Nakba von 1948
und in der Folgezeit bis heute furchtbare Realität wurde.
Der deutsche Soziologe Walter Hollstein stellte in seinem 1972
(also vor fast 50 Jahren!) erschienenen Buch „Kein Frieden um
Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts“ fest: „Die
ungeschichtlichen Erklärungsmuster des Nahost-Konflikts nützen
Israel wie auch dem Abendland. Das erstere lässt dergestalt
vergessen, dass der Zionimus mit seinem Machtanspruch überhaupt
erst die Auseinandersetzung mit der arabischen Welt
herausforderte; das letztere kaschiert erleichtert, dass sein
Antisemitismus am Ursprung des Zionismus stand und also die
andauernde Auseinandersetzung im Nahen Osten wesentlich
mitbedingte. So umgeht man bequem die wirklichen Ursachen des
Nahost-Konflikts und akzeptiert das Gesetz des Schweigens über
die schreiendsten Wahrheiten der Geschichte, die vornehmlich so
unerfreuliche Phänomene wie Kolonialismus, Imperialismus und
Flüchtlingselend betreffen.“
Diese Sätze sind heute noch so wahr wie im Jahr 1972. Man kann
den von Hollstein genannten Begriffen noch einige hinzufügen,
die den Palästina-Konflikt gegenwärtig ausmachen und bei dem
ZEIT-Autor Bastian Berbner keine Erwähnung finden:
Siedlerkolonialismus, Besatzung, Land- und Ressourcenraub,
Unterdrückung, Mauer, Errichtung von Reservaten oder Bantustans,
völlige Abriegelung des Gazastreifens, Völkerrecht,
Menschenrechte, tausende politische Gefangene (sogar Kinder),
Folter… Berbner unterwirft sich vollständig dem von Hollstein
genannten Gesetz des Schweigens.
Ich habe in dieser Woche zufällig in einem SPIEGEL-Essay ein
Zitat gefunden, in dem es um den Zusammenhang von Wirklichkeit
und Fake-News geht. Es trifft auf das Heldenepos Bastian
Berbners über Israel genau zu: „Wer genau hinschaut, wer
recherchiert und Fakten benennt, kann ein Urteil fällen, über
Ursachen, über Verantwortung, über Schuld. Das aber ist nicht
gewünscht.“ Der Artikel dieses Autors ist Geschichtsklitterung
in schlimmsten Sinne und kein Ruhmesblatt für die so auf ihre
Reputation bedachte ZEIT.
19.04.2018
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