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„Ohne
den Zionismus gäbe es keinen arabischen Antisemitismus“
Der französisch-libanesische Politologe
Gilbert Achcar untersucht in seinem neuen Buch das
Verhältnis der muslimischen Welt zum Holocaust
Arn Strohmeyer
Der wissenschaftliche Streit um die
historische Wahrheit dessen, was sich in den Jahrzehnten in
Europa und im Nahen Osten (Stichworte: Holocaust und Nakba)
ereignet hat, ist längst zu einem Propagandakrieg der
Narrative verkommen. Er wird deswegen so heftig und
unerbittlich geführt, weil die Historiografie hier
Legitimationen für politische Interessen und Ansprüche
liefern soll. Darüber hinaus kämpfen an dieser ideologischen
Front auch die Vertreter des Neokonservatismus und
Neoliberalismus in globalen Rahmen mit, denen es um ihre
geostrategische imperiale Herrschaftssicherung geht. „Krieg
gegen den Terror“ und „Islamfaschismus“ sind die
Kampfbegriffe, unter denen diese Kreuzzüge geführt werden,
die auch eine starke rassistische Komponente haben.
Die historische Wahrheit ist die Verliererin
in diesem Krieg, der auch in Deutschland mit großem
Medienaufwand geführt und in erster Linie von dem durch die
Schuldgefühle gegenüber Israel und den Juden getragenen
Philosemitismus bestimmt wird. Das abgrundtiefe Böse
verkörpert sich für diese neokonservative Agenda im Islam.
Den Muslimen wird ein hinterhältiger Charakter und eine
Schurkenmentalität unterstellt. Sie sind die neuen Nazis,
die sich gegen den Westen und Israel verschworen haben und
beide samt ihres Wertesystems zerstören wollen. Das
Abendland ist also wieder einmal in Gefahr.
So argumentieren etwa der einflussreiche
Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns Mathias Döpfner
und das antideutsche Lager. Israel ist für diese
neokonservativen Streiter eine Insel der Freiheit inmitten
eines Meeres der muslimischen Barbarei. Wenn dieses
„Warschauer Getto“ fällt, „dann fallen langfristig auch der
Westen, Europa und Deutschland“, argumentiert Döpfner.
Obwohl in solchen Äußerungen viel von westlichen Werten die
Rede ist, gelten diese Werte – also Menschenrechte,
Völkerrecht und UNO-Resolutionen – ganz offensichtlich nicht
für Palästinenser. Ganz im Sinne Döpfners behauptet der
neokonservative Historiker Götz Aly: „Wer den
‚Befreiungskampf des palästinensischen Volkes‘ gerecht und
links findet, wird in der Nazi-Welt Geistesverwandte
treffen.“ Man muss angesichts solcher Äußerungen nach dem
Realitätsverständnis dieser Leute fragen: Gibt es in Israels
kolonialem Siedlersystem keine Besatzung, keinen Landraub,
keine Unterdrückung, keine Diskriminierung und keine
Apartheid?
Von arabischer Seite ist dieser völlig
einseitigen und fast schon totalitären Sicht der Dinge im
Westen bisher wenig entgegengehalten worden – entweder weil
arabische Intellektuelle kaum oder gar nicht zu Wort kommen,
und wenn, dann finden sie wenig Beachtung. Dabei hatte der
Palästinenser mit amerikanischem Pass Edward Said in seinem
Klassiker „Orientalismus“, der auch in Deutschland
erschienen ist, eigentlich alle Vorurteile und Stereotypen,
die Westler gegen den Islam vorbringen, ausführlich und
bestens widerlegt. Denn was Leute wie Döpfner und Aly da
ausführen, ist immer noch von der exekutiven
Selbstherrlichkeit des europäischen Kolonialismus aus dem
19. Jahrhundert geprägt: Ihre Wahrnehmung der Araber ist in
diesem Sinne „orientalistisch“: Westler verorten die Araber
essentialistisch, legen sie also auf ein stereoptypes,
unveränderliches Wesen und eine feststehende Mentalität
fest, ein Vorgehen das man mit Recht bei Juden schärfstens
ablehnt. Danach werden die Araber gleichgesetzt mit
„Bosheit, List, schwülem Laster, exzessiver Sinnlichkeit und
geistiger Dumpfheit“ (Said). In den letzten Jahrzehnten kam
nun der ideologische Vorwurf hinzu, dass alle Araber
Antisemiten seien. Weiße Europäer, auch jüdische Zionisten,
sind dagegen: vernünftig, friedfertig, liberal, logisch,
prinzipientreu und arglos (Said).
In der Tradition Edward Saids tritt nun der
aus dem Libanon stammende Politologe Gilbert Achcar, der an
der Universität London Entwicklungspolitik und
internationale Beziehungen lehrt, diesem vorherrschenden
Trend entgegen. In seinem Buch „Die Araber und der
Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der
Geschichtsschreibungen“ unternimmt er es, die arabischen
Ansichten zu Holocaust und Juden bzw. Zionisten in den
historischen und intellektuellen Kontext zu stellen. Das
Erste, das er dabei vermittelt, ist, dass die Araber
politisch-weltanschaulich und religiös genau so wenig ein
monolithischer Block sind wie die Juden. Und die
Aussage, dass die Araber alle Holocaust-Leugner und
Antisemiten sind, ist ebenso falsch wie die Behauptung, dass
alle Juden Zionisten sind.
Im ersten Teil seines Buches untersucht der
Autor die arabischen Reaktionen in den verschiedenen
politischen Strömungen auf den Nationalsozialismus und
dessen Antisemitismus. Er kann dabei konstatieren, dass die
große Mehrheit der Araber den deutschen Faschismus ablehnte.
Der Hauptgegner war für die Araber in den verschiedensten
politischen Gruppierungen immer der Zionismus und nicht
die Juden, das gilt auch und gerade für die arabischen
Marxisten. In nationalistischen und religiös
fundamentalistischen Kreisen fanden sich allerdings auch
Anhänger der Nazis, bei den letzteren gab es eine extreme
Judenfeindschaft. Insgesamt waren die Anhänger Hitlers aber
deutlich in der Minderheit.
Wenn der aus Deutschland kommende Judenhass
und Antisemitismus im arabischen Raum Verbreitung fand, dann
muss dies als Folge des sich zuspitzenden Konflikts zwischen
Arabern und Zionisten in Palästina gesehen werden. Ohne
diese Auseinandersetzung und die gewaltsame Eroberung
Palästinas durch die Zionisten hätten antisemitische
Stereotypen und Ideologeme wohl kaum eine Chance zur
Entfaltung im arabischen Raum gehabt. Denn der
Antisemitismus hat im islamischen Kulturkreis nie so Wurzeln
geschlagen wie im christlichen Europa.
Lange Passagen seines Buches widmet Achcar
der Hauptfigur auf palästinensischer Seite in diesen für den
Nahen Osten so wichtigen 1930er und 40er Jahren: dem Mufti
von Jerusalem Amin al-Husseini. Das Hauptmotiv seiner
politischen Tätigkeit war es zweifellos, die weitere
jüdische Einwanderung nach Palästina zu verhindern, denn er
sah deutlich die Gefahr, die diesem arabischen Land durch
die Immigration von immer neuen Wellen jüdischer Immigranten
drohte. Dass er sich, um dieses Ziel zu erreichen, mit dem
„Teufel“ verbündete, also zum Komplizen und Kollaborateur
der Nazis wurde und auch über den Völkermord an den Juden
informiert war und ihn ganz offensichtlich auch billigte,
macht die Tragik und Schande dieses palästinensischen
Führers aus. Der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler,
hatte ihn im Sommer 1943 zum Mitwisser gemacht. Der Mufti
hoffte darauf, dass Hitler nach dem deutschen Sieg im Krieg
die sogenannte jüdische nationale Heimstätte in Palästina
vernichten werde und berief sich dabei auf deutsche Zusagen.
Die Rolle des Mufti war verhängnisvoll und
nicht entschuldbar, daran lässt Achcar gar keinen Zweifel.
Eine ganz andere Frage aber ist, wie groß sein politischer
Einfluss wirklich war und ob sein politisches Wirken sich
dafür eignet, den Palästinensern eine Mitschuld an der
Ermordung der europäischen Juden zu geben, wie es
zionistische und neokonservative Ideologen bis heute tun und
noch die Gleichung anhängen: Die Palästinenser sind die
neuen Nazis, die Israel vernichten wollen.
Achcar schätzt den politischen Einfluss des
Mufti nicht so hoch ein und kann dafür sogar einen
israelischen Zeugen anführen: den Historiker Simcha Flapan.
In seinem Buch „Die Geburt Israels“ schreibt dieser: „In der
Tat war es so, dass vor der einseitigen
Unabhängigkeitserklärung Israels viele palästinensische
Persönlichkeiten und Gruppen mit dem Mufti und seiner
politischen Partei nichts zu tun haben wollten und diverse
Versuche unternahmen, einen Modus vivendi mit den Zionisten
zu finden. Doch Ben Gurions [der Führer der Zionisten und
Israels erster Ministerpräsident] zäher Widerstand gegen die
Errichtung eines Palästinenserstaates machte die Opposition
gegen die Blut-und-Donner-Politik des Mufti zunichte.“
Achcar macht den Mufti und seine verhängnisvolle Führung
mitverantwortlich für die Katastrophe der Palästinenser, die
Nakba, weil er sich jeder anderen politischen Lösung – etwa
der Schaffung eines bilateralen Staates – verweigerte. Aber
in diesem Punkt war er mit den Zionisten einig, denn auch
die wollten diese Lösung unter gar keinen Umständen.
Die Behauptung, dass die Palästinenser im
Gefolge des Mufti die „neuen“ Nazis sind und Israel
vernichten wollen, ist ein ideologisches Konstrukt, das
zionistische Kreise nach Israels triumphalen Sieg im
6-Tage-Krieg von 1967 in Umlauf brachten, weil man
befürchtete, dass Israel nach seinem spektakulären
militärischen Erfolg über die Araber in der Welt nun weniger
Beachtung finden würde, weil es seine Opferrolle verloren
hatte. Es musste ein neues Bedrohungsszenario her. Der
amerikanisch-jüdische Historiker Peter Novick hat die
Entstehung dieser Ideologie in seinem Buch „Nach dem
Holocaust“ ausführlich dargestellt, und Achcar kann sich auf
ihn berufen. Novick sieht in dem Vorwurf einer
palästinensischen Mitschuld an der Ermordung der
europäischen Juden eine Verteidigungsstrategie, eine
Präventivantwort von zionistischer Seite auf die Klage der
Palästinenser, dass die Schaffung Israels die
Widergutmachung oder Entschädigung für den Holocaust sei.
Denn es sei höchst ungerecht, dass die palästinensischen
Moslems für die Verbrechen der europäischen Christen zahlen
sollten.
Achcars Buch ist deshalb so wichtig, weil er
der neokonservativen und zionistischen Propaganda wichtige
Argumente entgegensetzt und auch klarmacht, wie sehr sich
westlicher und arabischer Antisemitismus voneinander
unterscheiden. Achcar definiert ersteren als „krankhafte
Phantasie, die aus Juden Sündenböcke macht, um
gesellschaftliche Frustrationen abzureagieren, für die die
Juden keinerlei Verantwortung tragen, auch wenn es
Antisemiten immer wieder gelingt, einzelne Personen mit
jüdischem Hintergrund zu finden, die sich als symbolische
Zielscheibe eignen, um ihren Hass auf ‚Plutokratie‘ oder ‚Kosmopolitismus‘
auf sie zu projizieren.“
Im Gegensatz dazu sieht er den arabischen
Antisemitismus nicht als angeborenen Zug des arabischen oder
muslimischen „Wesens“ an, wie westliche islamfeindliche
Ideologen immer wieder behaupten. Für ihn liegen die
Ursachen des arabischen Antisemitismus in kultureller
Rückständigkeit geschuldeten Phantastereien, in denen sich
die Frustration der unterdrückten arabischen Nation äußert.
Die Verantwortung dafür gibt er dem Zionismus und dem von
diesem gegründeten Staat Israel. Der Antisemitismus, der
durch eine sich zum jüdischen Staat bekennende
Besatzungsarmee hervorgerufen werde, die in Palästina und im
Libanon schlimme Kriegsverbrechen begangen habe, könne nicht
mit dem Antisemitismus gleichgesetzt werden, der
beispielsweise auf der Annahme gründe, die Juden
seien verantwortlich für militärische Niederlagen
Deutschlands und Frankreichs, mit denen das Judentum absolut
nichts zu tun hatte.
Gibt es einen Ausweg aus dem nahöstlichen
Dilemma? Achcar kann sich eine Lösung des Konflikts und ein
Ende der gegenseitig zugefügten Leiden nur vorstellen, wenn
es ein gegenseitiges Anerkennen dieser Leiden gibt: Die
Araber müssen den Holocaust vorbehaltlos als historische
Tatsache akzeptieren, wovon sie oftmals der Hass auf die
Zionisten abhält. Und die Israelis müssen das Leiden, das
sie den Palästinensern zugefügt haben (die Nakba) und bis
heute weiter zufügen, anerkennen und dafür um Verzeihung
bitten, ohne dass der Holocaust dabei als das Verbrechen von
der größeren Dimension verharmlost und relativiert wird.
Der Israeli Abraham Burg hat es so
formuliert: „Wir müssen zugeben, dass wir nach der Shoah
unser Leben wertschätzen, weil wir nach so viel Tod leben
wollten. Wir waren nicht sensibel genug für das Leben
anderer und für den Preis, den sie für unser Wohl zahlten.
Bitte verzeiht uns, gemeinsam werden wir der ungesunden
Flüchtlingsmentalität ein Ende setzen, die uns alle quält.“
Das ist der Makel, der dem Zionismus anhaftet. Aber wie
viele Israelis sind schon bereit (von den Politikern ganz zu
schweigen), so offen darüber zu sprechen und um Vergebung zu
bitten wie Abraham Burg? Gilbert Achcars Botschaft geht in
dieselbe Richtung: „Es ist unmöglich, in eine friedliche
Zukunft zu blicken, solange die offenen Rechnungen der
Vergangenheit nicht beglichen und Lehren aus ihr gezogen
sind.“
Gilbert Achcar: Die Araber und der
Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der
Geschichtsschreibungen, Nautilus Verlag Hamburg 2012, 29,90
Euro
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