„Deutschland ist mitverantwortlich für
den Teufelskreis der Gewalt im Nahen Osten“
Interview mit Yahav
Zohar vom „Israelischen Komitee gegen Häuserzerstörungen“ (ICAHD),
der zur Zeit eine Vortragsreise durch Deutschland macht
Arn Strohmeyer
Die Aktivisten von ausländischen
Friedens- und Menschrechtsgruppen werden nach einem Beschluss der
israelischen Regierung in Zukunft Probleme haben, Visa für eine
Aufenthaltsgenehmigung in den besetzten Gebieten zu bekommen. Das
heißt, sie müssen ihre Arbeit für die Menschen dort einschränken
oder sogar aufgeben. Was bezweckt die Regierung mit diesem
Beschluss?
Die israelische Regierung ist sehr
besorgt, wenn Europäer engen Kontakt zu Palästinensern haben und
dabei mitbekommen, was bei den Palästinensern in den besetzten
Gebieten wirklich passiert. Denn wenn sie nach Europa und in die USA
zurückkehren, berichten sie natürlich darüber, was sie gesehen und
erlebt haben. Die offizielle israelische Version der Geschehnisse
hat wenig mit der Wirklichkeit in der Westbank zu tun. Die
israelische Regierung ist natürlich sehr besorgt, dass die Wahrheit
ans Licht kommt.
Warum ist in Israel selbst die
Opposition gegen die Besatzung so schwach?
Die Besatzung ist ein integraler
Bestandteil der israelischen Gesellschaft und der israelischen
Politik. Die Gegner der Besatzung werden mit allen Mitteln der
Politik und der Medien aus dem gesellschaftlichen Konsens
ausgeschlossen. Sie werden einfach an den Rand gedrängt, die Presse
berichtet nicht über ihre Aktivitäten und die Parteien hören gar
nicht auf das, was die Gegner der Besatzung sagen.
Es gibt nicht eine
einzige Partei im israelischen Parlament, die mit einem Plan für den
Frieden an die Öffentlichkeit geht. Wie ist das möglich? Hat man
eine Friedenslösung völlig abgeschrieben?
Es
gibt die Hadasch, sie tritt für eine Ein-Staatenlösung ein. Die
israelische Regierung hat aber alles dafür getan und tut alles
dafür, jede Aktivität und Bemühung für eine Friedenslösung zu
unterminieren.
Welche Rolle spielt
die Europäische Union (EU) im Nahost-Konflikt? Tut sie etwas für das
Zustandekommen einer Lösung?
Nein, die EU ist ein Teil des Problems.
Sie finanziert die Palästinensische Autonomie-Behörde (PA), die
korrupt und sehr schwach ist. Sie ist nur deshalb an der Macht, weil
sie mit der israelischen Besatzungsmacht kooperiert. Die EU hat
Israels Boykott der gewählten palästinensischen Regierung, die aus
den Wahlen 2006 hervorgegangen war, unterstützt. Die EU stand hinter
Israel bei allen diesen illegalen Aktivitäten und Handlungen,
einschließlich der Blockade des Gaza-Streifens. Es besteht ein
Handelsabkommen zwischen der EU und Israel, in dem Israel wie ein
Mitgliedsstaat der EU behandelt wird. In diesem Abkommen gibt es
einen Artikel (Nummer 2), der besagt, dass die Ausführung des
Abkommens davon abhängig ist, dass Israel die
Menschenrechtsstandards in den besetzten Gebieten einhält. Die EU
täte also gut daran, dass das auch wirklich geschieht. Es liegen ja
die Berichte der Menschenrechtsorganisationen von Betselem und
Amnesty International vor. Deswegen ist es erstaunlich, dass die EU
einfach darüber hinwegsieht und weiter Handel mit Israel treibt.
Deutschland hat wegen
seiner Geschichte ein besonderes Verhältnis zu Israel. Die
Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten ist sehr eng – auf vielen
Gebieten auch in der Rüstungskooperation. Deutschland beliefert
Israel mit U-Booten, die nuklear auszurüsten sind. Und es liefert
andere Waffen an Israel, die auch gegen die Palästinenser eingesetzt
werden. Was ist von einer solchen Zusammenarbeit zu halten?
Das steht in krassem Widerspruch zum
deutschen Gesetz, das besagt, dass keine Waffen in Spannungsgebiete
geliefert werden dürfen. Deutschland darf nach seinem eigenem Gesetz
keine Waffen in Gebiete exportieren, in denen sie gegen Zivilisten
eingesetzt werden können oder in denen etwa eine
bürgerkriegsähnliche Situation herrscht. Sie dürfen auch nicht
eingesetzt werden, wenn dabei völkerrechtliche Bestimmungen verletzt
werden, etwa bei der Unterdrückung von Bevölkerungen. Was Israel
tut, steht aber im Widerspruch dazu, denn es hat deutsche Waffen
auch im Gaza-Krieg eingesetzt. Das war eindeutig illegal, hier
werden deutsche Gesetze gebrochen.
Hat Deutschland nicht
nur eine Verantwortung für Israel, sondern auch für die
Palästinenser?
Deutschland hat eine historische
Verantwortung, aber die Art und Weise, wie es sich verhält, ist
unverantwortlich. Israel behandelt die Palästinenser, als seien sie
eine existentielle Bedrohung – mit Blockaden, mit der Mauer, mit
Checkpoints usw. Aber sie sind keine Bedrohung. Denn Israel hat
F-16-Bomber, Atomwaffen, Panzer und U-Boote. Israel hat ein
Militärbündnis mit den USA. Die Palästinenser haben nichts von
alledem. Die großen Verteidigungsbemühungen Israels haben sicher
etwas mit dem Trauma durch den Holocaust zu tun. Dieses Trauma macht
die Israelis sicher nicht rationaler, netter und freundlicher. Im
Gegenteil: Es passiert sehr oft, dass Kinder, die geschlagen werden,
später ihre Kinder misshandeln. Es gibt hier einen verhängnisvollen
Kreislauf.
Welche Rolle spielt der Holocaust bei
der Rolle Deutschlands im Nahen Osten?
Wenn Deutschland sich wirklich
verantwortlich fühlt und dieses traumatisierte Kind Israel nicht
dadurch unterstützt, indem es ihm Geld und Waffen in die Hände gibt
und ihm obendrein auch noch sagt: „Was immer Du tust, das ist schon
richtig!“, dann würde es dazu beitragen, dass es zu einem
dauerhaften und sich selbst tragenden Frieden in der Region kommt.
Dann würde die Regierung in Berlin Israel natürlich nicht mit Waffen
und U-Booten beliefern und dabei über die Verletzung von
Menschenrechten einfach hinwegsehen. Deutschland ist
mitverantwortlich für den Teufelskreis der Gewalt, und die
Palästinenser sind ein Teil dieses Kreises. Abgesehen von der
Verantwortung – die Lehre, die man aus dem Holocaust ziehen muss,
kann nicht lauten, dass die Menschenrechte für alle gelten mit
Ausnahme der Palästinenser. Die Lehre aus dem Holocaust muss eine
universelle sein, von der weder Israelis noch Palästinenser
ausgeschlossen sein dürfen.
Was kann Deutschland zum Frieden im
Nahen Osten beitragen?
Deutschland könnte zuerst einmal seine
eigenen Gesetze anwenden. Es könnte sagen: Waffenexporte werden
unterbunden, so lange sie gegen die Palästinenser eingesetzt werden.
Es könnte den Handel stoppen, solange Israel die Menschenrechte
nicht einhält, also Menschen unter Blockade leben lässt und durch
Mauer oder Checkpoints in ihrem Leben einschränkt. Deutschland
könnte sich auch mit den Staaten zusammentun, die den arabischen
Friedensplan aus dem Jahr 2002 unterstützen. Dieser sieht die
Anwendung internationalen Rechts und die Anerkennung Israels in den
Grenzen vor dem Junikrieg 1967 vor. Voraussetzung ist natürlich,
dass Israel die besetzten Gebiete zurückgibt. Dieser Plan hat auch
zum Inhalt, das Recht der Flüchtlinge von 1948 anzuerkennen und ihr
Problem zu lösen. Bei Erfüllung dieser Bedingungen haben alle
arabischen und islamischen Staaten angeboten, die Beziehungen zu
Israel zu normalisieren. Ein solcher Frieden bietet viel mehr
Sicherheit als es alle Waffen und U-Boote tun könnten.
Deutschland hat
aufgrund seiner Geschichte das Problem, dass jede Kritik an der
israelischen Politik von Israel und seinen Verteidigern sofort als
„Antisemitismus“ ausgelegt wird. Sollten Deutsche die Politik
Israels kritisieren?
Menschen, die an Menschenrechte
glauben, sollten aufstehen und Menschenrechte auch einfordern. Sie
sollten für die Einhaltung von Menschenrechten eintreten – in
Israel, in Ägypten und im Iran – überall, wo Regierungen
Menschenrechte verletzen. Israel darf dabei keine Ausnahme sein. Die
Menschenrechte sind für alle von Vorteil. Der Kreislauf der Gewalt,
in den Israel sich verstrickt hat, ist schlecht auch für mich, für
meinen Bruder, der in der israelischen Armee dient, schlecht auch
für die israelische Gesellschaft insgesamt. Ich sehe keine
Verbindung zwischen Antisemitismus und dem Protest gegen die
israelische Politik. Ich denke, dass Kritik an der israelischen
Politik gut ist für die Juden in Israel und der ganzen Welt, weil
die Fortsetzung dieses Konfliktes Antisemitismus geradezu schürt.
Dagegen sollte man seine Stimme erheben wie gegen jeden anderen
Konflikt in der Welt auch.
Auch in Deutschland
gibt es eine Diskussion über den Boykott von israelischen Produkten,
die aus den besetzten Gebieten kommen. Sollten Deutsche sich daran
beteiligen?
Israel verstößt mit seiner Besatzung
systematisch gegen die Menschenrechte, das Völkerrecht und
demokratische Grundsätze. Die Palästinenser leben unter einer Art
Militärdiktatur. Sie haben nicht die Möglichkeit, sich demokratisch
zu äußern oder sogar zu protestieren. Sie können auch nicht
israelische Produkte boykottieren, weil es bei ihnen nur israelische
Produkte gibt. Die Leute in der EU können am ehesten etwas gegen
diese Unterdrückung tun, weil die EU der größte Handelspartner
Israels ist. Und die Deutschen können etwas tun, weil sie innerhalb
der EU der größte Handelspartner Israels sind.
Der israelische
Präsident Shimon Peres hat sich kürzlich im Deutschen Bundestag für
einen Frieden im Nahen Osten auf der Grundlage der Menschenrechte
und des Völkerrechts ausgesprochen. Aber die israelische Politik hat
ja große Probleme mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten, vor
allem mit den UNO-Resolutionen, die sie meistens gar nicht beachtet.
Wie kommt Peres zu dieser Aussage?
Shimon Peres hat eine sehr schöne Rede
im Bundestag gehalten. Dann sollten wir aber auch so leben und
Politik machen, wie Peres das gesagt hat, ihn also beim Wort nehmen.
Und das hieße: ohne Diskriminierung und Hass zu leben. Wie sind aber
die realen Zustände in der Westbank? Dort leben Juden auf kleinen
Inseln in völliger Freiheit und mit allen demokratischen Rechten.
Rundherum leben Palästinenser, die nichts haben: keine
demokratischen Rechte, keinen Zugang zu Wasser, zu guter Bildung und
zu einem guten Gesundheitssystem. Man sperrt sie ohne
Gerichtsverhandlungen in die israelischen Gefängnisse. Shimon Peres
sollte einfach mal seinen Amtssitz in Jerusalem verlassen und sich
die Graffitis an den Wänden und Mauern ansehen. Da steht überall
„Araber raus!“ und „Tod den Arabern!“ Wenn Peres solche Graffitis an
den Mauern in Berlin sehen würde und dort anstatt „Araber“ „Juden“
stände, dann würde er sich empören und sofort daran erinnern, was
unter dem Holocaust passiert ist. Peres redet über Menschenrechte,
dabei war er es, der Atombomben in den Nahen Osten gebracht hat. Er
hat als Ministerpräsident 1996 über einem Dorf im Libanon
Clusterbomben abwerfen lassen, wobei sehr viele Menschen ums Leben
gekommen sind. Er hat den ersten Baum in einer jüdischen Siedlung
auf der Westbank gepflanzt. Peres ist als Politiker für massive
Verletzungen der Menschenrechte verantwortlich. Gleichzeitig hält er
schöne Reden. Beides zu tun, ist sein Job. Er muss vor allem die
israelischen Verbrechen vertuschen und sie rechtfertigen. Aber er
hat dadurch Probleme mit seiner Glaubwürdigkeit, vor allem nach dem,
was im Gaza-Krieg geschehen ist.
Wie ist die Situation
im Gaza-Streifen? Was bezweckt Israel mit seiner totalen Blockade
der Bevölkerung?
Die
Blockade begann offiziell mit dem Wahlsieg der Hamas 2006 und der
Übernahme der Macht durch die Hamas im Gaza-Streifen als Ergebnis
der Wahlen. Ziel der Blockade war, Druck auf die palästinensische
Bevölkerung auszuüben, um so die Hamas-Regierung zu stürzen und die
Macht wieder an die PLO zu übergeben. Die Hamas sollte also
gezwungen werden, auf die gleiche Art und Weise mit der israelischen
Besatzung zu kooperieren, wie es die Palästinensische
Autonomiebehörde in der Westbank tut. Die Blockade war also ein
Instrument, politischen Druck auszuüben. Aber diese Politik hat dazu
geführt, dass heute die Menschen im Gazastreifen hungern und ohne
sauberes Wasser leben müssen. Viele Kinder können nicht mehr zur
Schule gehen und Unterernährung und Krankheiten nehmen zu. Die
Geschichte lehrt aber, dass Hunger und Arbeitslosigkeit nicht dazu
führen, die Menschen politisch zu mäßigen, sondern sie werden im
Gegenteil noch mehr radikalisiert. Was will Israel mit der Blockade
erreichen? Ich glaube nicht, dass es einen seriösen Plan gibt.
In Jerusalem werden
zur Zeit Tausende von Palästinensern aus ihren Häusern vertrieben
und dort ziehen jüdische Siedler ein. Was bezweckt Israel mit
solchen Maßnahem, die man ja durchaus als „Judaisierungs-Politik“
bezeichnen kann?
Da geht es um den Stadtteil Scheich
Dscharrah in Ost-Jerusalem. Dort vertreiben jüdische Organisationen
palästinensische Familien unter dem Vorwand aus ihren Häusern, dass
die Häuser vor dem Krieg von 1948 Juden gehört hätten. Sie berufen
sich dabei auf ein israelisches Gesetz. Die Palästinenser, die in
diesen Häusern wohnen, sind selbst Flüchtlinge des Krieges von 1948.
Sie stammen aus Tel Aviv, Jaffa, Haifa, West-Jerusalem und anderen
Orten. Sie werden jetzt zum zweiten Mal zu Flüchtlingen gemacht. Sie
werden von den Israelis mit der Begründung aus ihren Häusern gejagt,
dass hier vor 1948 Juden lebten. Wenn die Israelis aber jetzt den
Besitz von Häusern auf Grund der Besitzverhältnisse von vor 1948
definieren, müsste die Konsequenz sein, dass man diesen vertriebenen
Palästinensern ihre Häuser in Tel Aviv, Jaffa, Haifa und anderswo
wiedergeben müsste. Besser wäre zu sagen: Lasst alle Leute, wo sie
jetzt sind!
Mit der Anwendung des
Gesetzes begibt sich Israel aber in einen eklatanten politischen und
juristischen Widerspruch.
Natürlich. Wenn das Gesetz den Besitz
von Juden vor 1948 anerkennt, aber nicht den Besitz von
Palästinensern vor 1948, dann ist dieses Gesetz sehr
diskriminierend. Es ist so offen diskriminierend, dass die Regierung
es Jahre lang nicht angewendet hat. Dass sie es jetzt aus der
Schublade holt, zeigt aus Sicht der Regierung, wie dringend die
Jerusalem-Frage für sie geworden ist.
Was ist die letzte Absicht dieser
Maßnahmen?
Die Absicht ist, so viele
Palästinenser aus Ost-Jerusalem auszuweisen und dort so viele Juden
wie möglich anzusiedeln. Die Regierung will so verhindern, dass
Ost-Jerusalem einmal die Hauptstadt eines palästinensischen Staates
wird. Ein palästinensischer Staat ohne Ost-Jerusalem ist aber nicht
lebensfähig. Die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Häusern
bedeutet also, dass die israelische Regierung die Bildung eines
palästinensischen Staates verhindern will.
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