Arn Strohmeyer
Es gab und gibt in Bremen einen
erbitterten Streit über die Frage "was ist Antisemitismus?"
und existiert so etwas wie ein "neuer" Antisemitismus?,
nachdem der zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde dort,
Grogorij Pantilejew, nach der großen Demonstration gegen
Israels Überfall auf die Gaza-Flottille diese zumindest
indirekt als "antisemitisch" bezeichnet hatte. Anlass war
ein - nicht zur offiziellen Demonstration gehörendes -
Transparent, auf dem ein alter Mann mit Hakennase und langem
kaftanartigem Gewand mit Davidstern darauf zu sehen war, der
an einem Angelhaken einen großen Fisch hinter sich herzog.
Eine erlaubt Karikatur oder schon Antisemitismus? Die
Arabistin Ivesa Luebben fand den Vorwurf des Antisemitismus
"völlig absurd". In Ägypten, das sie von langen Aufenthalten
dort sehr gut kennt, hätten die meisten Menschen Hakennasen
und lange Gewänder trügen sie auch, sagte sie.
Der britisch-jüdische Philosoph
Brian Klug, der vor kurzem einen Vortrag in Bremen hielt,
führte dann noch einmal sehr differenziert aus, was "neuer"
Antisemitismus ist und was nicht. Der liegt eben nur vor,
wenn man typische den Juden zugeschriebene Stereotypen
(etwa: arrogant, profitorientiert, hart und unbarmherzig,
trickreich, verschlagen, im Besitz von Macht über Banken,
Medien und Märkte usw.) auf Israel und seine Politik
anwendet. Wörtlich formulierte er: "Wann immer ein Text,
eine Artikel oder eine Karikatur diese Klischees einzig aus
dem Grund auf Israel projiziert, weil es ein 'jüdischer
Staat' ist oder zweitens auf den Zionismus, weil er eine
'jüdische Bewegung' ist, dann ist der Text, der Artikel oder
die Karikatur antisemitisch. Das gilt auch für den Fall,
dass diese Klischees - individuell oder kollektiv - in
Verbindung mit den Kriterien auf Juden übertragen wird."
Ich füge diesem Artikel ein
paar Bilder bei, die auch Menschen mit levantinischer
Physiognomie darstellen. Als ich sie sah, habe ich fast
entsetzt reagiert und dachte, das sind ja üble
antisemitische Karikaturen - wie aus dem "Stürmer", dem
"Völkischen Beobachter" oder dem SS-Blatt "Schwarzes Chor".
Aber mein erster Eindruck war offensichtlich völlig falsch.
Die Bilder hängen seit Jahrzehnten friedlich in einer
Athener Taverne, die ich seit langer Zeit kenne. Bei
früheren Besuchen habe ich die Bilder zwar auch
wahrgenommen, habe mir aber nie etwas dabei gedacht. Als ich
jetzt wieder in Athen war, erschrak ich - wie gesagt - beim
Anblick der Bilder. Ich habe dann den Wirt gefragt, was das
für Darstellungen sind. Ich erhielt die Auskunft: Sie
stammen von einem Maler, der zu Beginn des vergangenen
Jahrhunderts mit Zeichenstift und Pinsel die griechische
Gesellschaft - besonders deren Oberschicht - kritisch aufs
Korn genommen hat. Er habe bestimmte Typen, die es damals
dort gab, karikieren wollen: reiche Geschäftsleute, Banker,
hohe Beamte, Dandys usw. Mich erinnern die Bilder stark an
Toulouse-Lautrec.
Als ich den Wirt fragte, ob die
dargestellten Typen in ihrer übertriebenen, stereotypen
Darstellung nicht einen antisemitischen Hintergrund haben
könnten, hat er mich angeblickt, als ob ich nicht alle
Tassen im Schrank hätte. "Nein", sagte er, "das sind alles
Griechen. Diese Typen finden Sie heute noch - natürlich
anders gewandet - überall in Athen!" Dass es sich wirklich
um Griechen handelt, belegt das letzte Bild: Es zeigt einen
Hellenen mit Hakennase und griechischer Landestracht.
Mich hat dieses Erlebnis sehr
nachdenklich gemacht, denn es zeigt, wie leicht bestimmte
Leute mit dem Vorwurf des Antisemitismus bei der Hand sind,
wenn da nur irgendwo ein levantinisches Gesicht auftaucht.
In Wirklichkeit führen sie aber etwas ganz anderes im
Schilde: einen kritischen Dialog über Israels Vorgehen im
Nahen Osten zu verhindern. Bei der Debatte über die
Demonstrationen gegen Israels Gaza-Krieg oder die
Schiffsaktion konnte man das gut beobachten. Man sollte
nicht über Israels völkerrechtswidrige Aktionen und die
dabei getöteten Menschen reden, sondern über die angeblichen
Antisemitismus dieser Proteste. Die Kritiker sollen mundtot
gemacht werden. Moshe Zuckermann geht so weit, dieses
Vorgehen als "Demokratie gefährdend" zu bezeichnen, weil
eben eine offene Diskussion über Israels Politik verhindert
werden soll.
Diese Gedanken kamen mir beim
Betrachten der Bilder in der Athener Taverne.