„Der Sieg von 1967
wird Israel nur Unglück bringen“
Die politischen Analysen des
antizionistischen jüdischen Autors
Isaac Deutscher sind auch nach 50
Jahren noch von höchster Aktualität
Arn Strohmeyer
Israels erster Ministerpräsident Ben
Gurion sagte ihm in einem Gespräch
unverhohlen ins Gesicht, dass
nicht-zionistische Juden keine
Wurzeln hätten, dass sie „wurzellose
Kosmopoliten“ seien. Er fügte hinzu:
„Es gibt nichts Schlimmeres!“ Aber
Isaac Deutscher (1907 – 1967) zog es
vor, ein „wurzelloser Kosmopolit“
oder ein „ausgestoßener Prophet“
(Adam Shatz) zu bleiben, ein
„unbußfertiger Marxist, ein Atheist,
ein Internationalist“, wie er selbst
bekannte. Die Bezeichnung
„Internationalist“ würde er heute
sicher durch das Wort „Universalist“
ersetzen, denn er fühlte sich sein
ganzes politisches Leben „der
universellen menschlichen
Emanzipation“ verpflichtet.
Aus dieser Haltung leitete sich
automatisch auch seine Haltung zu
Israel ab. Er bewunderte zwar die
Tatkraft und Aufbauleistung der
Zionisten, bezeichnet Israel als
„einzigartiges Phänomen“, stand dem
zionistischen Staat aber dennoch
höchst kritisch gegenüber. Als Grund
für diese Distanz nannte er immer
wieder seine Einschätzung der
Institution des Nationalstaates, den
er als völlig überholte, ja
„sinnlose“ Staatsform ansah. Er
schrieb: „Ausgerechnet heute, da der
Nationalstaat im Niedergang
begriffen und zu einem Anachronismus
geworden ist wie zuvor die feudalen
Fürstentümer, heute, da die
permanente technologische Revolution
die Herausbildung übernationaler
Lebensformen für die Menschheit zu
einer Frage des Überlebens macht,
ausgerechnet in dieser Zeit
investieren Juden ihren grenzenlosen
Enthusiasmus und ihre große
Fähigkeiten in einen eigenen
Nationalstaat und in einen neuen
Nationalismus.“
Und er warnt vor den Gefahren, die
daraus erwachsen könnten: „Die
Israelis müssen sich hüten, von
ihrem neumodischen, nachgerade
rotglühenden Nationalismus
fortgerissen zu werden. (...) Die
Zukunft Israels kann sehr davon
abhängen, ob sich die Israelis
selbst vor nationalistischer
Überheblichkeit zu hüten wissen, ob
sie in der Lage sein werden, mit den
umgebenden Völkern eine gemeinsame
Sprache zu finden.“ In diesen
Zusammenhang gehört auch der
ausschließlich mit Mythen und
Mystizismus begründete Anspruch auf
das Land Palästina: „Allzu oft
klingen die schrillen Töne eines
nationalistischen Mystizismus
unangenehm im Ohr, ein Mystizismus,
der nicht frei ist von dem alten
Rassendünkel des ‚auserwählten
Volkes‘ und der sich mit dem
nüchtern rationalistischen Element
im jüdischen Denken schwer in
Übereinstimmung bringen lässt.“ Er
kritisiert, dass die Israelis die
Entstehungsgeschichte ihres Staates
„mit einem goldenen Schleier
poetischer Erfindungen umgeben“,
diese verhüllten die nackten
Tatsachen der jüngsten Geschichte
mit einem Gewebe aus Illusionen und
könnten Israel eine gefährliche
unrealistische Perspektive vor
gaukeln.“
Deutscher wirft der israelischen
Politik „ungezügelte Aggressivität“,
„chauvinistische Arroganz und
Verachtung für andere Völker“ vor.
Diese „Entartung des politischen
Charakters“ komme voll in ihrem
Siegesrausch und –taumel nach dem
vernichtenden Sieg über die Araber
im Krieg von 1967 zum Ausdruck. Er
schreibt: „Der Krieg und das
‚Wunder‘ des israelischen Sieges
haben keines der Probleme gelöst,
dem sich Israel und die arabischen
Staaten gegenübersehen. Im
Gegenteil, sie haben all die alten
Streifragen verschärft und noch
gefährlich neue geschaffen. Sie
haben Israels Sicherheit nicht
verstärkt, sondern es noch
verwundbarer gemacht, als es vor dem
5. Juni 1967 war. Dieses
‚Sechs-Tage-Wunder‘, diesen allzu
leichten Triumph der israelischen
Waffen wird man in nicht sehr ferner
Zukunft vor allem als ein Unglück
ansehen.“
Man kann sich – auf die Deutschen
anspielend – auch „totsiegen“,
schreibt er und warnt die Israelis
mit Blick auf die neu eroberten
Gebiete: „Sie haben weit mehr
abgebissen als sie schlucken
können.“ Dass Ben Gurion, „der böse
Geist des israelischen
Chauvinismus“, auf die Schaffung
eines „arabisch-palästinensischen
Staates“ drängte, der freilich nur
eine von Israel dominierte Enklave
sein sollte, hält er nicht für eine
Lösung des Konflikts. Die
Palästinenser würden einen ein
solches Diktat niemals akzeptieren
und sie bis aufs Blut bekämpfen.
Immer wieder kritisiert Deutscher
den „abstoßenden und reaktionären
Charakter“ der israelischen Politik,
ihren enthusiastischen Chauvinismus.
Warnend fügt er hinzu: „Wir dürfen
es nicht zulassen, dass die Berufung
auf Auschwitz uns unter Druck setzt,
die falsche Sache zu unterstützen.“
Als Beispiel beschreibt er dann, wie
die Israelis 1967 ihren Sieg
feierten: „Ich habe in jenen Tagen
nur mit Abscheu die Szenen aus
Israel im Fernsehen sehen können:
das Zurschaustellen von
Erobererstolz und Brutalität, den
Ausbruch von Chauvinismus und das
wilde Feiern dieses unrühmlichen
Triumphs, die in so scharfem
Gegensatz zu den Bildern des Leidens
und der Verzweiflung der Araber
standen, den Trecks jordanischer
Flüchtlinge und den Leichen
ägyptischer Soldaten, die in der
Wüste verdurstet waren.“
Und weiter: „Ich sah auf die
mittelalterlichen Gestalten der
Rabbiner und Chassidim, die voll
Freude auf der Klagemauer hüpften,
und ich spürte, wie die Geister des
talmudischen Obskurantismus, die ich
nur zu gut kenne, auf das Land
einstürmten, wie schwer und
erstickend die Atmosphäre in Israel
geworden war. Dann kamen die vielen
Interviews mit General Dayan, dem
Helden und Retter mit dem
politischen Verstand eines
Oberfeldwebels, der mit den
Annexionen prahlte und einer groben
Gefühllosigkeit über das Schicksal
der Araber in den besetzten Gebieten
freien Lauf ließ. Er sagte: ‚Was
geht mich das an? Von mir aus können
sie gehen oder bleiben.‘ (Isaac
Deutscher schrieb seine Anmerkungen
über den Juni-Krieg 1967 kurz nach
diesem Ereignis, er verstarb zwei
Monate später im August desselben
Jahres.)
Der Hass der Israelis auf die
Araber, die aus dem Chauvinismus
herrührt, könne für die Israelis
lebensbedrohlich werden, so
Deutscher: „Die Israelis scheinen
somit von der alten europäischen
Geringschätzung und Verachtung für
die asiatischen und afrikanischen
Völker angesteckt zu sein – einer
Haltung, die die Europäer selbst
langsam aber sicher aufgrund ihrer
bitteren Erfahrung ablegen,“
schreibt er und fügt hinzu: „Schon
[Israels] Geburtsstunde war mit der
Missachtung arabischer Rechte
verbunden. Aber im eigenen Interesse
hätte Israel alles in seine Macht
Stehende tun können und müssen, um
das arabische Elend zu lindern und
die Gegensätze abzuschwächen. Statt
dessen hat Israel alles getan, um
diese Gegensätze zu verschärfen und
zu verewigen. (...) Auf die Dauer
kann Israel an den Grenzen zu Asien
und Afrika nicht im Konflikt mit
Asien und Afrika überleben. Für die
Überlebenden des europäischen
Judentums wurde Israel zum
Zufluchtshafen. Lasst es nicht zu
ihrer Todesfalle werden!“
In diesen Zusammenhang gehört auch
das Problem der palästinensischen
Flüchtlinge: „Dem Staat Israel ist
der Sprengstoff buchstäblich schon
in seine Fundamente eingebaut: das
Elend hunderttausender arabischer
Flüchtlinge.“ So lange Israel seinem
fanatischem Nationalismus anhänge,
so Deutscher, seien Juden und Araber
dazu verdammt, sich in einem
Teufelskreis von Hass und Rache zu
bewegen. Die Situation kennzeichnet
er mit einem Gleichnis: „Von einem
brennenden Schiff springt man
herunter – egal wohin: in ein
Rettungsboot, ein Floß oder einen
Rettungsring. Der Sprung wird zur
‚historischen Notwendigkeit‘, das
Floß wird gewissermaßen zur
Grundlage der gesamten Existenz.
Aber folgt daraus, dass man den
Sprung zum Programm erheben oder
einen Floß-Staat zur Grundlage
seiner politischen Orientierung
machen muss?“ Eine Zukunft Israels
kann sich Deutscher nur vorstellen,
wenn Israel die Verständigung mit
der Arabern sucht. Für beide Seiten
sei eine übernationale Organisation
wie eine Nahost-Föderation noch
reine Zukunftsmusik. Aber manchmal
sei dies die einzige Musik, die
anzuhören sich lohne.
Be Gurion zeigte sich bei aller
Kritik an dem Nicht-Zionisten Isaac
Deutscher dann doch noch milde und
gnädig. Er bemerkte über ihn: „Ich
empfinde keine Feindschaft gegenüber
Juden, die Antizionisten, ja
Antisemiten sind wie Karl Marx und
Isaac Deutscher. Sie waren durchaus
wertvolle Menschen.“ Dass der
sogenannte „große alte Mann“ Israels
hier nicht zwischen Antisemitismus
und Antizionismus unterscheidet, ist
blanke Demagogie, denn er wusste es
bestimmt besser.
Isaac Deutscher: Die ungelöste
Judenfrage. Zur Dialektik von
Antisemitismus und Zionismus,
Rotbuch Verlag Berlin 1977
18.06.2017 |