Israel – ein Staat im permanenten
Kriegszustand
Wie die
deutsch-israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl den
Zionismus beschreibt: eine politische Ordnung, die nicht
von Dauer sein kann
Arn
Strohmeyer
Es
gibt Bücher, die man erst spät entdeckt, die besprechend
wahrzunehmen aber nie zu spät ist. Dazu gehört
Tamar-Amar Dahls Buch Das zionistische Israel.
Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des
Nahost-Konflikts. Dass nur wenige Deutsche Zionismus
und Judentum auseinanderhalten können, mag eine banale
Feststellung sein. Tatsache ist aber, dass man Israels
Politik nicht verstehen kann, wenn man die Grundsätze
des Zionismus nicht kennt. Und daran mangelt es nicht
nur im breiten Diskurs über den Nahost-Konflikt, sondern
auch bei so manchem Politiker, weshalb die von dieser
Seite abgegebenen Erklärungen und Beurteilungen mit der
politischen Realität Israels zumeist nur wenig zu tun
haben und eher aus der Schuld entstandene deutsche
Befindlichkeiten ausdrücken. Über Israels zionistische
Staatsideologie und die politischen Folgen aus der
sachlichen Distanz der Historikerin umfassend
aufzuklären, ist das große Verdienst des Buches von
Tamar Amar-Dahl.
Die
Autorin, die aus einer marokkanisch-jüdischen Familie
stammt, in Israel aufwuchs und dort ihre zionistische
Erziehung erfuhr, brach 1996 mit diesem Staat, hat heute
einen deutschen Pass und lebt und arbeitet in Berlin.
Vielleicht braucht man eine solche Biographie, um sich
den Abstand zu erarbeiten, der nötig ist, eine
politische Analyse wie die vorliegende zu präsentieren,
denn man erfährt in diesem Buch vor allem, wie das
zionistische Israel – „eine auf Gewalt basierende
Ordnung“ – funktioniert. Am Anfang des zionistischen
Staates stehen zwei unumstößlich gültige
Gründungsmythen: Der Mythos von Eretz Israel als
Land des jüdischen Volkes und der Sicherheitsmythos. Sie
bilden auch das Kernproblem des Nahost-Konflikts und den
Hauptgrund, warum Frieden unmöglich ist.
Der
erstgenannte, nicht hinterfragbare Mythos benennt den
zionistischen Anspruch: Ganz Palästina gehört aus
historischen Gründen den Juden. Diese Aussage ist Teil
der israelischen Staatsräson. Insofern kann es auch gar
keine politische Debatte um Palästina geben, nur
die Palästinenser-Frage steht auf der
Tagesordnung. Diese sind ein überflüssiges Volk, das es
aus zionistischer Sicht zu verdrängen gilt, denn sie
stellen in der zionistischen Utopie eine nicht zum
„verheißenen Territorium“ gehörende gefährliche „out-group“
dar. Sie gehören eben nicht dazu. Mit ihnen das Land zu
teilen und ihnen Selbstbestimmung zu gewähren, würde die
zionistische Staatsräson in Frage stellen. Da Israel
aber seine Utopie – den „rein“ jüdischen Staat – wegen
der dort existierenden bi-nationalen Realität nicht
verwirklichen kann, muss der zionistische Staat eine
„systemimmanente Gewaltordnung“ aufrechterhalten. Das
gilt aber nicht nur gegenüber den Palästinensern,
sondern auch gegenüber den arabischen Staaten.
Denn die
nationale Existenz Israels – und das ist der zweite
Gründungsmythos – kann nur mit Israels absoluter
militärischer Überlegenheit und Abschreckung
(einschließlich dem Besitz von Atomwaffen) gesichert
werden. Ariel Sharon pflegte den Gedanken der
Abschreckung in dem Satz zu formulieren: „Sie [die
Araber] müssen Angst vor uns haben!“. Die totale
Fixierung auf die Sicherheit, die nur rein militärisch
verstanden wird, ist das wichtigste Kennzeichen der
israelischen Gesellschaftsordnung – eine Entwicklung,
die Israel zu einem Militärstaat gemacht hat. Die
Verfasserin hält sich hier an die Analyse des
israelischen Soziologen Baruch Kimmerling, der
konstatiert, dass der israelische Militarismus zwar als
Reaktion auf den Konflikt mit den Arabern entstanden
sei, er stelle mittlerweile jedoch selbst einen Grund
für die Aufrechterhaltung des Konflikts dar – was
bedeutet: der Konflikt sei inzwischen integraler
Bestandteil der israelischen Realität geworden und fest
im israelischen Bewusstsein verankert.
Kimmerling schreibt, der Militarismus sei in Israel
inzwischen dermaßen verinnerlicht, dass er zum
kollektiven Geisteszustand geworden sei: Er sei so
selbstverständlich, dass man sich seiner gar nicht mehr
bewusst sei. Alle Bereiche der Gesellschaft seien auf
Krieg fixiert. Kriegsvorbereitungen würden zum
gesellschaftlichen Dauerzustand, der nächste Waffengang
erscheine als unvermeidlich. Krieg und militärische
Einsätze würden zur Routine. Bei all dem müsse das
Militär gar nicht im Zentrum der Macht stehen.
Kimmerling bezeichnet dieses System als „zivilen
Militarismus“, d. h., das israelische Militär werde von
allen zivilen Gruppen der Gesellschaft getragen, und
alle politischen Entscheidungsträger und die breite
Öffentlichkeit ständen hinter dem militärischen
Bewusstsein und der militärischen Weltanschauung. Im
System dieses „zivilen Militarismus“ sei das Militär
also der Garant der nationalen Sicherheit und damit auch
der staatlichen Existenz, als solches habe es immer den
Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen. Dies sei das
Organisationsprinzip des israelischen Gemeinwesens.
Die Folge
dieses Zustandes und der Gründungsmythen ist aber eine
vollständige Entpolitisierung des Konflikts mit den
Palästinensern bzw. den „Arabern“. Denn neben dem
Sicherheitsmythos, der besagt, dass Israel die totale
militärische Überlegenheit über die „Araber“ behalten
muss, hat sich auch eine selbstherrliche
Friedensideologe etabliert, die besagt, dass Israel ein
friedlicher und gerechter Staat sei, dass es aber als
Opfer dem Hass und der völlig unbegründeten Feindschaft
der Araber gegenüberstehe. Diese Erzfeindschaft der
Araber wird im zionistischen Denken als Inkarnation und
Fortsetzung der als Leid- und Verfolgungsgeschichte
verstandenen jüdischen Geschichte aufgefasst. In diesem
Glauben steckt natürlich die Angst, die Nichtjuden
wollten die Juden vernichten. Aus dieser ideologischen
Annahme heraus kann die israelische Führung ihre Armee,
die schon so viel Leid über die nahöstliche Region
gebracht hat, zur reinen „Verteidigungsarmee“ erklären
und die von ihr permanent ausgeübte Gewalt als
„defensiv“ und „präventiv“ legitimieren. Israels Kriege
sind – und seien sie auch noch so offensiv und auf
Landraub angelegt – eben alle nur Kriege zur
„Selbstverteidigung“.
Die
israelische Friedensideologie und der Sicherheitsmythos
entpolitisieren den Konflikt mit den Palästinensern also
insofern, weil sie die Unfähigkeit der Zionisten
demonstrieren, sich mit der Entstehungsgeschichte des
Konflikts und mit seinen Kernfragen auseinanderzusetzen.
Beides wird verdrängt und der Konflikt wird jenseits von
dessen historischer Entstehung und der heutigen
politischen Realität begriffen und an einer gegen Juden
als solche gerichteten Feindseligkeit festgemacht. Die
Entpolitisierung des Konflikts wird noch dadurch
gesteigert, dass die israelische Führung die
Zuständigkeit für den Konflikt nicht in der Politik,
sondern im Militär sieht, das die Kontrolle und
Unterdrückung durchzuführen hat. Wenn der Kern des
Konflikts aber nicht politische Ursachen hat, sondern
meta-historisch im Kontext der jüdischen
Verfolgungsgeschichte verortet wird, dann ist auch ein
Frieden mit den Palästinensern unmöglich, weil eine
solche Projektion eine Versöhnung ausschließt. Der Hass
der Araber wird als feste, permanente und unabänderliche
Größe verstanden. Dem muss Israel Rechnung tragen, und
so kann Frieden für den Zionismus nur bedeuten, dass man
sich des palästinensischen Feindes entledigen muss.
So kommt
die Autorin zum Schluss ihres Buches auch zu einer
düsteren Prognose für die Zukunft Israels. Die
Verdrängung der eigenen Geschichte („dass der Zionismus
letzten Endes mit dem Schwert vollbracht worden ist“),
die immer noch nicht festgelegten Grenzen des
Staatsgebietes, der völlig unsichere Status der
Palästinenser in der zionistischen Utopie und die totale
Unfähigkeit zum Kompromiss bezeichnet sie als die
„Achillesferse“ Israels. Die Folgen dieser Fülle von
ungelösten und verdrängten Probleme sind Existenzangst
und Isolationsgefühle. Die Autorin bezeichnet Israels
innere Situation als „heikel“, weil die Geschichte nicht
mehr auf der Seite dieses Staates stehe. Sie schreibt:
„Trotz regionaler militärischer Hegemonie – von der
Israel seine Existenz abhängig macht – und noch immer
beträchtlicher Unterstützung des Westens wird im letzten
Jahrzehnt immer offensichtlicher, dass die politische
Ordnung Israels nicht von Dauer ist.“ Es sei eine
Illusion, schreibt sie, dass militärische Stärke die
Palästina-Frage klären könne, und der Einsatz
nationalstaatlicher Gewalt könne Israel auch nicht die
ersehnte Sicherheit, geschweige denn Normalität und
Frieden bringen. Trotz wachsenden internationalen Drucks
auf Israel halte es an seinen Gründungsmythen fest. Die
tief sitzende Unsicherheit über die eigene Zukunft gehe
dabei Hand in Hand mit der Angst vor der
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.
Hannah
Arendt hatte schon früh vor dem jüdischen Isolationismus
gewarnt, der im Zionismus zum Ausdruck komme. Er könne
weder den Antisemitismus bändigen noch die Juden vor der
„Außenwelt“ retten. Sie scheint mit dieser Prognose
richtig zu liegen. Natürlich kann Tamar Amar-Dahl in
ihrem Buch keinen Ausweg aus Israels selbst verursachter
Sackgasse aufzeigen, aber sie hat mit einer glänzenden
Analyse des zionistischen Systems ein aufklärerisches
Buch im besten Sinne geschrieben. Wer sich von seinen
Illusionen über diesen Staat, seine Ideologie und
Politik nicht trennen will, sollte dieses Buch aber
lieber nicht zur Hand nehmen.
Tamar
Amar-Dahl: Das zionistische Israel. Jüdischer
Nationalismus und die Geschichte des Nahost-Konflikts,
Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 2012, 24,90 Euro
21.05.2015