Der Dichter,
Israel und die Denkverbote
Die Kampagne gegen Günter
Grass offenbart die eklatanten
Schwächen der deutschen und
westlichen Position im
Nahostkonflikt
Arn Strohmeyer
Günter Grass hat
in seinem Gedicht „Was gesagt
werden muss“ einige Wahrheiten
über Israels äußerst aggressive
Politik niedergeschrieben, die
auszusprechen bisher in diesem
Lande offiziell tabu war. Aber
Tabus verschleiern die
Wirklichkeit, lähmen das Denken,
stoppen nötige politische
Aktivitäten, ja machen politisch
handlungsunfähig. Insofern muss
man Günter Grass dankbar sein,
dass er den Mut gehabt hat, auf
die Gefährlichkeit der
israelischen Politik für den
Weltfrieden hinzuweisen und eine
Diskussion darüber auszulösen.
Zugleich spricht er aber auch
die moralische Sackgasse an, in
der die deutsche Nahost-Politik
steckt, wenn sie meint, mit der
Zusicherung von „Staatsräson“
und Waffenlieferungen an Israel
(übrigens nicht erst neuerdings,
sondern schon seit der
Adenauer-Zeit)
„Wiedergutmachung“ betreiben zu
wollen für das, was Auschwitz
symbolisiert, ohne dabei die
gefährlichen Folgen zu bedenken.
Und schließlich hat Grass auf
den unhaltbaren Widerspruch
hingewiesen, den sich der Westen
leistet, wenn er vom Iran die
Kontrolle seiner Atomanlagen
fordert, Israel in dieser
Hinsicht aber unkontrolliert
gewähren lässt. Man kann das
auch ein moralisches Debakel
nennen. Denn man sollte doch
meinen, vor dem Völkerrecht sind
alle Staaten gleich. Aber ein
Staat ist offenbar gleicher als
die anderen, weil er
Sonderrechte genießt.
Was nach
Erscheinen des Gedichts an
Kübeln von Dreck, Unrat, Lügen
und Denunziation über Grass
ausgekippt worden ist, ohne
dabei überhaupt auf seine
Argumente einzugehen, ist in der
an Skandalen und Affären reichen
Geschichte der Bundesrepublik
ohne Beispiel. Grass selbst hat
es noch milde als freiwillige
„Gleichschaltung der Medien“
bezeichnet, die zweifellos
vorliegt. Der israelische
Historiker Moshe Zuckermann hat
den Sturmlauf gegen Grass als
„orchestrierte Hysterie“
bezeichnet und nennt auch die
psychologischen Gründe für
diesen Aufstand des
Irrationalen: Grass‘
Tabu-Übertretung sei der
Ausbruch aus einer für schier
unantastbar gehaltenen
Konvention. Das bisherige
Einhalten dieses Denkverbots sei
aber interessengeleitet, also
ideologisch motiviert. Der
Tabubruch wirke sich dann als
narzisstische Kränkung der
Verteidiger des Tabus aus, eine
Kränkung, die ein erhebliches
Aggressionspotenzial freisetze.
Zuckermann fügt im Übrigen
hinzu, dass Grass nichts
geschrieben oder gesagt habe,
was in Israel nicht schon
hundertfach erörtert worden sei.
Deshalb wirkt der
Vorwurf des Antisemitismus so
infam, aber auch so absurd und
lächerlich, der in der
Gleichsetzung von Grass mit
Hitler durch die
Präsidentschaftskandidatin der
Linkspartei, Beate Klarsfeld,
seinen Höhepunkt fand. Was geht
in den Köpfen solcher Leute vor?
Wie ist es um ihr Vermögen
bestellt, Realität wahrzunehmen?
Da wurde dem 84jährigen Grass
seine kurze unfreiwillige, weil
erzwungene Mitgliedschaft in der
Waffen-SS als 17jähriger um die
Ohren gehauen, die er - darüber
besteht ja gar kein Zweifel -
früher hätte outen müssen. Aber
niemand von den Schlammwerfern
hat es für nötig gehalten, das
literarische Werk und das
politische Leben dieses Autors
mit in sein Urteil
einzubeziehen, das nun alles
andere als die Fortsetzung
seiner Tage in der Waffen-SS
ist. Lesen und Schlammwerfen
passen ohnehin nicht zusammen,
also muss man wohl davon
ausgehen, dass die
Dreckschleuderer nie einen Blick
in die Bücher von Grass geworfen
haben.
Dann hätte man
erfahren können: Dieser Autor
selbst muss tief unter seiner
eigenen und der Deutschen Schuld
zutiefst gelitten haben, denn
auch wenn er als Soldat nichts
mit Auschwitz zu tun hatte, das
deutsche Mega-Verbrechen war ein
Lebenstrauma und -thema für ihn.
Bis in die 90er Jahre hinein hat
er immer wieder die These
vertreten, dass es als
Vergeltung für Auschwitz keine
deutsche Wiedervereinigung geben
dürfe. Grass hat nicht Recht
behalten, die Geschichte hat ihn
widerlegt, die Einheit ist
Realität geworden, aber sein
langes Beharren auf dieser
Position belegt, wie ihn das
Schuldbewusstsein gequält hat.
Er hat dem
geistig muffigen, aber
wirtschaftlich sehr
erfolgreichen
Wirtschaftswunderland
Bundesrepublik Deutschland, das
unter gar keinen Umständen an
die eigene Vergangenheit
zwischen 1933 und 1945 erinnert
werden wollte, in seinem 1959
erschienen Roman „Die
Blechtrommel“ - noch vor dem
ersten Auschwitz-Prozess - am
Beispiel des Mikrokosmos Danzig
vor Augen gehalten, was damals
geschehen war: das Wüten des
Nazi-Mobs, das Morden an Juden
und Polen sowie die Euthanasie
an Krüppeln, geistig Behinderten
und Ostarbeitern. Während die
ältere Generation am Verdrängen
beharrlich festhielt, erfuhren
junge Leute, die darüber
natürlich nichts in der Schule
lernen konnten, bei der Lektüre
dieses Romans zum ersten Mal von
diesen deutschen
Ungeheuerlichkeiten.
1970 hat Grass in
Westberlin anlässlich der
Eröffnung der Ausstellung
„Menschen in Auschwitz“ eine
aufklärerische und zugleich
prophetische Rede mit dem Titel
„Schwierigkeiten eines Vaters,
seinen Kindern Auschwitz zu
erklären“, gehalten. Grass griff
die Überdrüssigkeit auf, die
viele Menschen damals beim Thema
Holocaust befiel - nach dem
Motto: „Schon wieder Auschwitz.
Immer noch Auschwitz? Wird das
nicht aufhören? Will das nicht
aufhören?“ Grass antwortete
darauf: „ Ich hoffe, nein! ...
Denn Auschwitz war kein
Mysterium, dem gegenüber Scheu
distanzierte und verinnerlichte
Betrachtung befiehlt, sondern
Realität, also zu untersuchendes
Menschenwerk.“ Seit Auschwitz
sei zwar keine neue
Kalenderzeitrechnung eingeführt
worden, aber seitdem habe sich -
wenn auch vielleicht unbewusst -
dennoch eine neue Zeitrechnung
niedergeschlagen, die erstmals
die Perfektion der anonymen
Reibungslosigkeit des Mordens
durch fleißig zu nennende
Schreibtischarbeit zur Kategorie
habe werden lassen.
Wie aber die
abstrakte Zahl von sechs
Millionen toten Juden Kindern
erklären? Bestenfalls sei das am
Beispiel eines Einzelschicksals
wie etwa dem von Anne Frank
möglich. Grass konstatiert -
wohlgemerkt 1970! - , dass die
junge, im Frieden aufwachsende
Generation nicht nur
geschichtsmüde sei, sondern
sogar vor der Geschichte Ekel
empfinde. Grass befiel Angst:
„Diese von mir hier nur
angedeutete Flucht aus der
Geschichte kann, so steht zu
befürchten, die zunehmende
Ablehnung der aufklärerischen
Vernunft zur Folge haben ... Ein
neuer Irrationalismus droht
Zukunft zu haben. Dem ist, wie
ich weiß, mit Appellen an die
Vernunft nicht beizukommen.“ Man
könnte diese prophetischen Worte
auf die Medienvertreter und
Politiker beziehen, die -
inzwischen in die Jahre gekommen
- wie die Barbaren über ihn
herfallen. Grass beendete seine
Rede mit den Sätzen: „Es gilt,
Auschwitz in seiner
geschichtlichen Vergangenheit zu
begreifen, in seiner Gegenwart
zu erkennen und in Zukunft nicht
blindlings auszuschließen.
Auschwitz liegt nicht nur hinter
uns.“
Günter Grass ein
Antisemit? Die Kontroverse um
den Autor zeigt einmal mehr, wie
absurd der
Antisemitismus-Vorwurf
inzwischen geworden ist, was
nicht heißt, dass es keinen
realen Antisemitismus mehr gibt,
den es zu bekämpfen gilt. Aber
um es mit dem Israeli Moshe
Zuckermann zu sagen: Dieser
Vorwurf ist zur politischen
Waffe und zur banalisierten
Ideologie verkommen und stellt
nicht mehr dar als ein von
Israels Politikern und den
Freunden und Anhängern dieses
Staates verhängtes Denkverbot,
ein Herrschaftsinstrument, um
jegliche Kritik an der
menschenrechts- und
völkerrechtswidrigen Politik
gegenüber den Palästinensern im
Keim zu ersticken. Aber
natürlich auch die
Kriegsabsichten gegen den Iran
sollen unter Denkverbot gestellt
werden. Man verfährt dabei nach
dem altbekannten Motto: Wer
Antisemit ist, bestimmen wir! -
eine für eine Demokratie, die
Israel ja sein will, gefährliche
Entwicklung, die totalitäre
Elemente in sich trägt. Und
außerdem: Auschwitz als
politische Waffe zu benutzen,
ist eine furchtbare Verhöhnung
der Opfer dieses
Mega-Verbrechens.
Zieht man die
Bilanz aus der organisierten
Hysterie-Kampagne gegen Grass,
dann kann sie nur lauten: Er hat
mit seinen Gedicht mitten ins
Schwarze getroffen, wäre dem
nicht so, hätten seine
Prosaverse niemanden hinter dem
Ofen hervorgelockt. Israels
Politikern wird der ganze
Aufruhr aber gar nicht so
unrecht sein, lenkt er doch wie
zuvor schon die Kriegsdrohungen
gegen den Iran vom eigentlichen
Streitpunkt des Nahostkonfliktes
- eben dem Palästinenser-Problem
- ab. So kann die Regierund
Netanjahu in aller Ruhe ihre
Siedlungspolitik auf Land, das
Israel nicht gehört, ausweiten.
Die Israelis sind
ein traumatisiertes Volk, und
das vorherrschende Gefühl eines
Traumas ist Angst. Und das
zionistische System tut alles,
um diese Angst nicht zu
überwinden, sondern sie
aufrechtzuerhalten und zu
instrumentalisieren. Wer das für
eine antisemitische Behauptung
hält, lese Abraham Burgs aus
tiefer Sorge um Israel heraus
geschriebenes Buch „Hitler
besiegen. Warum sich Israel
endlich vom Holocaust lösen
muss“. Und Atomwaffen in Händen
von traumatisierten Menschen zu
wissen, ist keine beruhigende
Vorstellung, denn Angst
verstellt die Wahrnehmung der
Realität. Und das ist es, woran
es im Nahen Osten und auch bei
uns offenbar am meisten fehlt.
Denn: Die einen haben die Bombe
und können damit drohen, die
anderen haben sie nicht. Die
einen sollen sich Kontrollen
stellen, die anderen nicht.
Deshalb kann man und darf man
nicht mehr schweigen, wie Grass
schreibt, weil man der
„Heuchelei des Westens“
überdrüssig ist.