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Dar Rabbi und die
Nicht-Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit
Der Streit um Jakob Augsteins
„Antisemitismus“ geht weiter – und verliert jeden Bezug zur
Realität im Nahen Osten
Arn Strohmeyer
Nun ist Jakob Augstein in den Augen des
Rabbis Abraham Cooper vom Simon Wiesenthal-Zentrum in Los
Angeles doch ein schlimmer Antisemit, nachdem das Institut
sein Urteil zuvor etwas abgemildert hatte. Auf einer
Pressekonferenz in Berlin wiederholte der jüdische
Geistliche die Vorwürfe gegen den Journalisten und Verleger.
Coopers Verdikt richtet sich vor allem gegen eine Äußerung
Augsteins. In einer Kolumne hatte dieser geschrieben:
„Israel wird von den islamischen Fundamentalisten in seiner
Nachbarschaft bedroht. Aber die Juden haben ihre eigenen
Fundamentalisten. Sie heißen nur anders: Ultraorthodoxe oder
Charedim. Das ist keine kleine, zu vernachlässigende
Splittergruppe. Zehn Prozent der sieben Millionen Israelis
gehören dazu.“
Cooper hing an die Wiederholung dieser Sätze
die polemische Frage an: Wie viel Selbstmordattentäter
innerhalb und außerhalb Israels die Orthodoxen
hervorgebracht hätten? Und die Feststellung, diese Gruppe
von Juden sei in Auschwitz als erste umgebracht worden. Was
soll dieser rhetorische Ausfall? Niemand verteidigt
Selbstmordattentate, und der Vergleich mit Auschwitz ist in
diesem Zusammenhang völlig unangebracht. Man muss dagegen
fragen: Wie steht es mit der Wahrnehmung der Realität bei
diesem Rabbi? Kennt er die Verhältnisse in Israel nicht? Der
israelische Historiker Gershom Gorenberg (selbst ein
orthodoxer Jude) sieht in seinem neuen Buch „Israel schafft
sich ab“ (das in Deutschland beim Campus-Verlag erschienen
ist) drei große Gefahren, die Israels Existenz bedrohen: die
fortdauernde Besatzung, die Untergrabung von Recht und
Gesetz (liberaler Rechtsstaat in Israel und völlige
Rechtlosigkeit in den besetzten Gebieten) und die staatliche
Förderung des religiösen Extremismus.
Denn die Ultra-Orthodoxen, die Cooper und
auch Gorenberg meinen (wenn auch jeweils aus ganz anderer
Perspektive), nehmen an Zahl schnell zu, ohne selbst ihren
Lebensunterhalt verdienen zu müssen, da sie vom Staat
unterhalten werden. Sie können sich lebenslang ganz ihren
frommen Studien widmen. Gorenberg warnt davor, dass hier auf
Kosten des Steuerzahlers religiöse Extremisten und Fanatiker
herangezogen werden, die mit demokratischem Gedankengut
nichts im Sinn haben. Es sind genau diese Ultraorthodoxen (Charedim),
die das in jeder Hinsicht völkerrechtswidrige
Siedlungsunternehmen auf Land, das Israel nicht gehört,
durchführen, und das die größte Bedrohung für einen Frieden
im Nahen Osten ist. Auch für diese Siedlungen gibt der der
israelische Staat das Geld.
Dass diese Siedler jeden Tag palästinensische
Dörfer und deren Bewohner angreifen, die Ernten
palästinensischer Bauern zerstören oder rauben und sogar
Moscheen anstecken, ist kein Geheimnis. Nur kann man darüber
nichts in deutschen Zeitungen lesen und im Fernsehen sehen.
Man verschließt die Augen vor solchen permanenten Schikanen,
die nur ein Ziel verfolgen, die Palästinenser zu vertreiben.
Die israelische Armee schaut dem Vandalismus tatenlos zu,
denn sie hat ja nur die Aufgabe, „die Siedler zu
beschützen“. Da diese Extremisten schwer bewaffnet sind,
würde Israel einen Bürgerkrieg riskieren, fiele es wirklich
einer Regierung in Tel Aviv ein, für einen Nahost-Frieden
den Rückzug aus dem Westjordanland anzuordnen. Man muss also
nicht unbedingt Selbstmordattentate durchführen, um ein
gefährlicher Fundamentalist zu sein.
Am selben Tag (Donnerstag), als der Rabbi in
Berlin gegen Augstein wetterte, ereigneten sich zwei Dinge
von großer Bedeutung: Einmal forderten die vom
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf
beauftragten Völkerrechtsexperten das Ende der jüdischen
Siedlungen in den palästinensischen Gebieten. Die Siedler
müssten die Gebiete umgehend räumen. „Eine große Zahl von
Menschenrechten der Palästinenser“ werde in verschiedener
Weise durch die Siedler verletzt. Nach Artikel 49 Artikel
der vierten Genfer Konvention sei Israel verpflichtet, „ohne
Vorbedingungen“ die Siedlungsaktion zu beenden. Israel
selbst hatte die Sitzung des Menschenrechtsrats boykottiert
und damit einen Eklat ausgelöst. Das zweite Ereignis:
Israels Luftwaffe bombardierte am selben Tag gegen jedes
Völkerrecht Ziele in Syrien – natürlich nur zur
„Selbstverteidigung“. Die Lage in Israels Nachbarland ist
durch den Bürgerkrieg brisant genug. Dass Israel mit seiner
Attacke auf syrische Ziele eine weitere Lunte an das
Pulverfass im Nahen Osten gelegt hat, scheint in Jerusalem
niemanden zu interessieren. Die Gefahr eines großen Krieges,
der die ganze Region in den Abgrund reißen kann, ist damit
beträchtlich angewachsen.
Auch Rabbi Cooper sollte die Realitäten im
Nahen Osten zur Kenntnis nehmen und die Gesetze der Presse-
und Meinungsfreiheit in westlichen Demokratien obendrein.
Kritik an Israels selbstzerstörerischer Politik zu üben, hat
mit Antisemitismus gar nichts zu tun, aber sehr viel mit
Verantwortung für die Region und den Weltfrieden. Als guter
Zionist befleißigt er sich einer „defensiven, apologetischen
Rhetorik“ (die israelische Historikerin Idith Zertal), soll
heißen: Israel ist immer das unschuldige Opfer, die anderen
sind immer die Bösen. Dass er mit einem solchen Vorgehen
seinem Anliegen nur schadet, liegt auf der Hand: Wer überall
nur Antisemiten am Werk sieht, sorgt dafür, dass dieser
Vorwurf zum inflationären Klischee verkommt, das zum Schluss
keiner mehr ernst nimmt. Damit wird dem wirklichen Kampf
gegen den Antisemitismus also ein Bärendienst erwiesen.
Die Folgen einer solchen Sicht – auch in
Hinsicht auf den Holocaust - hat der verstorbene
amerikanisch-jüdische Philosoph und Historiker Tony Judt
einmal so beschrieben: „Setzt Israel seinen gegenwärtigen
Weg fort, verbindet es seine gedankenlose und
selbstzerstörerische Politik weiterhin selbstmitleidig mit
einem singulären Anspruch auf Gedenken und Deutung des
Holocaust, werden wir es bald mit einer neuen Generation von
Europäern und Amerikanern zu tun haben, die – mit der
Verpflichtung konfrontiert, die Geschichte des Holocaust
oder des Antisemitismus zu studieren – nur die Stirn runzeln
und gähnen werden.“
Rabbi Cooper ist ein verbohrter Ideologe, der
die politische Wirklichkeit nicht sehen kann oder will.
Angesichts seiner polemischen Attacken ist es gut zu wissen,
dass es in Israel auch die Gruppe „Rabbis für
Menschenrechte“ gibt, die die Realitäten in dieser Region
sehr genau wahrnimmt, für die Lage der Palästinenser viel
Verständnis hat und sich für einen gerechten Frieden für
beide Volksgruppen einsetzt. |