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Antisemitismus – „ein Missverständnis der
Geschichte“?
Vor genau
40 Jahren erschien Arthur Koestlers noch heute hoch
aktuelles Buch „Der dreizehnte Stamm“ über die Chasaren
Arn Strohmeyer
6.11.016
Mit den Erscheinen seines Buches „Der dreizehnte Stamm. Das
Reich der Chasaren und seine Erben“ gelang dem
ungarisch-jüdischen Schriftsteller Arthur Koestler (1905 –
1983) im Jahr 1976 eine literarische Sensation. Das Werk
wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und löste heftige
Reaktionen aus. In Israel stieß es aber auf große Ablehnung,
erschien in Jerusalem nur in einer privaten Ausgabe und
gelangte wegen der Befürchtungen des Verlegers nicht in die
Buchläden. Die Israelis erfuhren über den Inhalt des Buches
nur über den Umweg der wütenden Reaktionen, die es auslöste.
Israelische Historiker verspürten wenig Drang, sich mit dem
offensichtlich sehr brisanten Thema der Chasaren zu
beschäftigen, es war ein wissenschaftliches Tabu.
Der
israelische Botschafter in Großbritannien bezeichnete das
Buch bei seinem Erscheinen als ein „von den Palästinensern
finanzierten antisemitischen Akt“. Und das Organ des
Weltzionismus, „Tefuzot Hagola“ unterstellte Koestler als
Motiv, dieses Buch verfasst zu haben, Eitelkeit und den
Drang, mit einem spektakulärem jüdischen Thema
Aufmerksamkeit zu erregen und seinen verblassten Ruhm als
Schriftsteller wieder aufpolieren zu wollen.
Dabei war
Koestlers Buch keineswegs das einzige Werk, das über die
Geschichte des Volkes der Chasaren erschienen war, seit dem
19. Jahrhundert bis in die Gegenwart gab es eine Fülle von
wissenschaftlichen Untersuchungen. Arthur Koestler war auch
als Autor völlig unverdächtig. Er war in seinen jungen
Jahren ein begeisterter zionistischer Pionier gewesen, stand
sogar der Richtung des Revisionisten-Führers Wladimir
Jabotinsky nahe. Er wandte sich dann aber vom Zionismus ab,
weil er Vorbehalte gegen das Siedlungswerk hatte. Nach einer
kurzen Phase der Begeisterung für den Kommunismus kehrte er
auch Stalin den Rücken. Dem Staat Israel hielt er bis zu
seinem Lebensende aber die Treue und unterstützte ihn mit
allen Mitteln. Sein Buch verstand er selbst als Schlag gegen
Hitler, den Nationalsozialismus und sein Erbe, um dieser
Barbarei eine letzte ideologische Niederlage zu bereiten.
Was hatten
Koestler und andere nun behauptet beziehungsweise ans Licht
gebracht, was die Gemüter so erregte? Ihre Forschungen
hatten ergeben, dass es in dem halben Jahrtausend von etwa
750 bis 1250 in der Region zwischen dem Kaukasus, dem Dnjepr,
dem Don und der Wolga das mächtige Reich eines aus den
zentralasiatischen Steppen zugewanderten Turkvolkes gab.
Dieses Volk der Chasaren nahm irgendwann zwischen der Mitte
des 8. und 9. Jahrhunderts den jüdischen Glauben an. Der
Grund für diesen ungewöhnlichen Schritt sehen Historiker
darin, dass das Chasaren-Reich im Spannungsfeld zwischen den
damaligen Großmächten, dem griechisch-orthodoxen Byzanz und
dem muslimischen Kalifat in Bagdad, lag und unter allen
Umständen seine Unabhängigkeit bewahren wollte, also nicht
in die ideologische Abhängigkeit einer der beiden Weltmächte
geraten wollte. Da bot sich der Übertritt zum Judentum als
Ausweg an.
Die
chasarischen Herrscher waren offenbar äußerst tolerant, denn
in ihrem Reich lebten Juden, Christen, Muslime und
Polytheisten friedlich nebeneinander. Was die Frage
aufwirft: War nur die chasarische Oberschicht zum Judentum
konvertiert oder auch das gesamte Volk? Der israelische
Historiker Shlomo Sand, der den Chasaren in seinem Buch „Die
Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf
dem Prüfstand“ viele Seiten widmet, kommt zu dem Schluss:
„Das Reich der Chasaren blieb geschätzte 200 bis 400 Jahre
jüdisch, was zu lange ist, um anzunehmen, dass Kult und
Glaube nicht auch ‚von oben‘ in die breiteren Schichten
vordringen konnten.“ Das Chasaren-Reich ging im 13.
Jahrhundert nach Kämpfen mit den im Norden erstarkenden
Russen (Kiewer Rus) und dann endgültig im Sturm der Mongolen
unter Dschingis Khan („Goldene Horde“) unter und hinterließ
kaum Spuren in den südlichen Steppen an den Mündungen von
Dnjepr, Don und Wolga.
Die Brisanz
des Themas liegt nun darin, dass Koestler und andere Autoren
behaupten, dass das osteuropäische Judentum (also in Polen,
Litauen, der Ukraine und Russland) zum größten Teil aus den
Nachfahren der Chasaren, die nach dem Ende ihres Reiches
dorthin ausgewandert seien, hervorgegangen sei – also nicht
aus „echten“ Juden, die vor allem aus Deutschland nach Osten
gezogen waren, wie bisher behauptet worden war. Anhand von
vielen Dokumenten und anderen historischen Belegen konnten
Koestler und andere die Hypothese der Präsenz der Chasaren
in Osteuropa untermauern: So hätte es im mittelalterlichen
Deutschland (vor allem im Rheinland konzentriert, wo die
meisten von ihnen lebten) gar nicht genug Juden gegeben (nur
wenige tausend), die nach Ostern hätten abwandern können.
Zudem seien sie obendrein durch Pogrome und die Pest noch
reduziert worden. Es fehlt auch jeder Beweis für eine solche
Ost-Wanderung.
Als
weiterer Beleg wird die jiddische Sprache angeführt, die von
den Juden in den osteuropäischen Ländern gesprochen wurde
und die sehr viele deutsche Anteile hat. Sie habe ihren
Ursprung nicht, wie bisher angenommen, in Deutschland,
sondern sei im Osten als eine Mischsprache aus dem Deutschen
(vier Millionen Deutsche waren nach Polen ausgewandert und
bildeten dort die Schicht des städtischen Bürgertums), dem
Slawischen und dem Turk-Dialekt, den die Chasaren gesprochen
hatten, entstanden. Viele Orts- und Familiennamen zeugten
noch heute von dem chasarischen Erbe. Die Historiker führen
noch andere Belege für den Einfluss der Chasaren an: die
soziale Struktur der jüdischen Gemeinschaft des „Städtl“,
die es nur hier und sonst nirgendwo auf der Welt gegeben
habe und eben chasarischen Ursprungs sei; außerdem wird die
einmalige Bauweise der dortigen Synagogen angeführt – mit
doppelter Kuppel und in Pagodenform, die so nur im Orient
vorkomme; dann die Kleidung, die aus der Kappe (Jamulke –
ein Turkwort) und dem Pelzhut (Schtreimel) bestehe; dazu
komme der lange Seidenmantel, der nur am Sabbat getragen
worden sei. „Alles dies“, schreibt Shlomo Sand, „erinnert
mehr an die Trachten des Kaukasus und der Steppenreiter als
an Talmudgelehrte aus Mainz oder Händler aus Worms“, also
den Zentren des deutschen Judentums im Mittelalter.
Arthur
Koestler fasste die Ergebnisse seiner historischen
Recherchen in seinem Buch so zusammen und bezog sich dabei
auf den israelischen Historiker Abraham N. Poliak, der auch
schon auf das Chasaren-Problem aufmerksam gemacht und auf
die Auswanderung sehr vieler osteuropäischer Juden in die
USA und nach Israel hingewiesen hatte: „Doch dies [Poliaks
Äußerungen] ändert nichts an der Tatsache, dass die große
Mehrheit der überlebenden Juden aus Osteuropa stammt und
dabei wohl chasarischen Ursprungs ist. Wenn dem aber so ist,
so kann das bedeuten, dass ihre Ahnen nicht vom Jordan,
sondern von der Wolga kamen, nicht aus Kanaan, sondern aus
dem Kaukasus, den man einst für die Wiege der arischen Rasse
hielt, dass sie genetisch viel enger mit Hunnen, Uiguren und
Magyaren verwandt sind als mit dem Samen Abrahams, Isaaks
und Jakobs. Sollte sich das als richtig erweisen, dann würde
wohl auch der Ausdruck ‚Antisemitismus‘ bar jeder Bedeutung
werden, denn dann wäre er aus einem Missverständnis
erwachsen, das sowohl die Mörder als auch ihre Opfer
teilten. Die Geschichte des Chasaren-Reiches, wie es nun
langsam aus der Vergangenheit empor taucht, erscheint wie
ein grausamer Treppenwitz der Weltgeschichte.“
Das war
natürlich starker Tobak für Vertreter der zionistischen
Geschichtsauffassung, die sehr stark vom zionistischen
Mythos abhängig ist – also der mythologischen Deutung der
homogenen „ethnischen“ Vergangenheit der Juden. Koestlers
Buch erschien in einer Zeit, als Israel sich nach dem
gewonnenen Krieg 1967 gerade anschickte, unter Berufung auf
die Mythen des Alten Testaments die neue eroberten Gebiete –
Westbank, Gaza-Streifen, Golanhöhen und den Sinai – zu
besiedeln und Jerusalem als „auf ewig unteilbare Hauptstadt
des jüdischen Volkes“ zu annektieren. Koestler stand als
„Verräter“ da, ja als „Antisemit“, da seine
Forschungsergebnisse nicht in die ethnozentrische
zionistische Geschichtsideologie passten. Da konnte er im
Schlusskapitel seines Buches noch so oft versichern, dass er
voll hinter dem Staat Israel stehe und keineswegs sein
Existenzrecht habe leugnen wollen, denn das sei durch den
Beschluss der UNO von 1947, Palästina in einen arabischen
und in einen jüdischen Staat zu teilen, völkerrechtlich
verbürgt. Und er fügte hinzu: „Ob die Chromosomen seines
Volkes nun die Gene der Chasaren oder solche semitischer,
romanischer oder spanischer Herkunft enthalten, ist
irrelevant und kann nicht das Existenzrecht Israels
berühren. [...) Das Problem der chasarischen Blutbeimischung
vor 1000 Jahren, so faszinierend es auch sein mag, ist für
das heutige Israel irrelevant.“
Einige
jüdische und israelische Historiker stimmten angesichts der
schwer zu leugnenden Fakten der offenkundigen Anwesenheit
der Chasaren in Osteuropa auch zu, betonten aber, dass eben
auch „echte“ Juden, die als Flüchtlinge aus Byzanz oder
Persien ins Chasaren-Reich gekommen waren, dort großen
Einfluss ausgeübt hätten. Außerdem wurden auch immer wieder
die aus Deutschland nach Osteuropa ausgewanderten Juden als
Träger des Judentums dort angesehen, auch wenn es dafür
keinerlei Belege gibt. Dennoch blieb die Skepsis bei vielen
zionistischen Historikern, die der Tradition verhaftet sind,
bestehen. Aus gutem Grund, denn Sand schreibt: „Die
Eroberung der ‚Stadt Davids‘ 1967 musste mehr denn je als
Tat der direkten Nachfahren des davidischen Reiches gelten,
und nicht, Gott behüte, als Sieg von Nachfahren grausamer
Steppenreiter von den Ufern der Wolga und des Don oder von
irgendwelchen anderen Hinterwäldlern aus den südarabischen
Wüsten oder von der Küste Nordafrikas. In anderen Worten,
das gesamte unteilbare Land Israel brauchte mehr denn je das
‚ganze geeinte Volk Israel.‘“ Hier muss man anfügen, dass es
in der Geschichte auch andere jüdische Reiche gegeben hat,
die durch Konversion entstanden waren: etwa das jüdische
Königreich Himjar auf der südarabischen Halbinsel, das
jüdische Berberreich der Königin Kahina in Nordafrika sowie
das jüdische Königreich Adiabene in Vorderasien.
Shlomo Sand
führt dann an, dass die Scheu vor dem Thema Chasaren in
Israel heute noch groß sei. So gebe es gut wie keine
soziologischen, philologischen oder ethnographischen
Arbeiten über die jüdische Lebensform des „Städtl“ in Polen
und Litauen, die eben chasarischen Ursprungs ist. Auch
archäologische Forschungsarbeiten zur Freilegung der
Überreste der chasarischen Kultur in Südrussland und der
Ukraine fänden nicht statt. Man will es offenbar nicht so
genau wissen, was es mit diesem Volk und seinem Erbe auf
sich hat. Sand schreibt: „Der Grund ist: Niemand möchte die
Steine hochheben, unter denen die giftigen Spinnen umher
krabbeln, die dem Selbstbild der ‚Ethnie‘ und seinen
territorialen Forderungen schaden könnten. Die nationale
Geschichtsschreibung versucht nicht wirklich, die Kulturen
der Vergangenheit zu erforschen, ihr Hauptanliegen war
bisher die rein auf die Gegenwart gerichtete Schaffung einer
Metaidentität sowie der Aufbau des Staates.“
Sand fügt
hinzu und unterstützt damit die Arbeit von Koestler:
„...dass es niemals eine gemeinsame ethnographische oder
säkulare Basis der jüdischen Gläubigen Asiens, Afrikas und
Europas gegeben hat. Das Judentum war schon immer eine
bedeutende, sich aus verschiedenen Strömungen
zusammensetzende religiöse Kultur, aber keine wandernde und
fremde ‚Nation‘“, die nach ihrer angeblichen Vertreibung
nach der Eroberung Jerusalems im 70 n. Chr. durch die Römer
– so muss man ergänzen – zurück in die alte Heimat wollte.
Mit der
Aufdeckung der historischen Ereignisse und der Folgen, die
im Zusammenhang mit dem Chasaren-Reich stehen, ist ein
weiterer zionistischer Mythos zerstört worden, was den
Widerstand gegen Koestlers Arbeit mehr als verständlich
macht. Das Buch dieses jüdischen Autors ist auch 40 Jahre
nach seinem Erscheinen noch hoch aktuell.
6.11.016
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