Es ist ein fast mythisches Bild, das der
türkische Fotograf Mustafa Hassouna am 22.
Oktober 2018 an der Grenze des Gazastreifens zu
Israel gemacht hat: Der 20jährige Palästinenser
Abu Amru stürmt die palästinensische Flagge in
der rechten Hand hochhaltend und in der linken
eine Steinschleuder schwingend mit nacktem
Oberkörper entschlossen und furchtlos auf die
Grenzmauer zu, wo die israelischen
Scharfschützen postiert sind und ihre
menschlichen Ziele anpeilen. Im Hintergrund sind
dichte Rauschwaden zu sehen – vermutlich von
Autoreifen stammend, die die Palästinenser
angesteckt haben, um den Scharfschützen die
Sicht zu nehmen, oder auch von israelischen
Tränengasgranaten herrührend. Drei Personen –
klein und an den Rand gedrängt – ducken sich im
Hintergrund, es sind Journalisten mit
Schutzjacken, deren Profession durch Schilder
gekennzeichnet ist. Sie sind nur Staffage im
Kampfgeschehen, denn der vorstürmende Abu Amro
beherrscht das Bild vollständig.
Der Vorwurf, der im Netz erhoben wurde, das Bild
sei gestellt oder inszeniert, ist unsinnig. Ein
solches Bild braucht man nicht zu stellen, die
brutalen Szenen an der Gaza-Grenze sind dort
grausamer Alltag. Die Realität des Geschehens
ist zu eindeutig, um an diesem Ort „schöne“
Bilder zu machen. Es war wohl der totale Zufall,
dass der Fotograf Mustafa Hassouna genau in
dieser Sekunde auf den Auslöser seiner Kamera
gedrückt und das Bild seines Lebens „geschossen“
hat.
Eine andere Assoziation als der Verdacht der
Inszenierung ist viel überzeugender: ein
Vergleich dieses Fotos mit dem berühmten Gemälde
von Eugene Delacroix (1798 – 1863), auf dem eine
über Gefallene hinweg vorstürmende barbusige
junge Frau – das Symbol der Freiheit darstellend
– in der rechten erhobenen Hand die Trikolore
und in der linken ein Gewehr hält. Sie reißt mit
ihrem kämpferischen Enthusiasmus die ihr
folgenden bewaffneten Bürger mit in die
revolutionären Gefechte auf den Barrikaden von
Paris. Die Ikonographie beider Bilder, des
Gemäldes und des Fotos, ist fast dieselbe.
Delacroix feierte auf seinem Gemälde die
bürgerliche Revolution von 1830, in der die
Franzosen den König Karl X. vertrieben und den
„Bürgerkönig“ Louis Philippe auf den Thron
brachten. Das Bild war aber auch als Warnung an
diesen gedacht: dass es dem neuen Herrscher
genauso ergehen könne wie seinem Vorgänger, wenn
er die Macht missbrauche. Das Bild galt als
Feier der Revolution, weshalb es auch für lange
Zeit der bürgerlichen Zensur zum Opfer fiel und
in der Versenkung verschwand.
Das Foto von Mustafa Hassouna nahm einen anderen
Lauf. Es verbreitete sich sofort im weltweiten
Netz und wurde als eindrucksvolles Symbol für
den Kampf der Palästinenser für ihre Freiheit
und Menschenrechte gegen den Besatzerstaat
Israel gedeutet. Auch der Mythos von David und
Goliath musste zur Interpretation herhalten,
auch wenn die politischen Bezüge bei diesem
Vergleich nicht stimmen. Denn David war ein Jude
und Goliath ein Philister, beide Rivalen um die
Macht im damaligen Palästina. Richtig ist aber
der Bezug auf die Ungleichheit der Waffen.
Einstimmig war das weltweite Lob für die Kunst
des Fotografen Mustafa Hassouna. Der britische
Künstler Dong Killen bezeichnete das Bild von
der Gaza-Grenze als ein Kunstwerk, es sei eine
Erinnerung daran, dass wir zur Zeit angesichts
der Wiederkehr von autoritärem Denken und
Bigotterie in den westlichen Staaten dafür
kämpfen, die Welt zu einem besseren Ort zu
machen und dass wir, indem wir das tun, nicht
allein sind. Ein anderer Interpret des Fotos
schrieb, dass es die Grenze zwischen klassischer
Reportage und künstlerischer Annäherung
überschreite.
Das Bild drückt vor allem auch aus: Militärisch
haben die Palästinenser gegen die israelischen
Belagerer und Besatzer keine Chance, sie wissen
sehr genau, wie asymmetrisch der Kampf ist. Aber
die Auseinandersetzung zwischen den völlig
ungleichen Gegnern ist auch ein Kampf der
Bilder. Während Israel mit Zensur die
Abbildungen der Unterdrückung eines ganzen
Volkes zu verhindern sucht, können die
Palästinenser Fotos für ihre Sache sprechen
lassen. Das emotionsgeladene Bild, das Abu Amro
zeigt, ist ein Sieg für eben diese Sache. Es
zeigt mit seiner äußerst realistischen
Darstellung, wie gnadenlos der Kampf um die
Freiheit und Menschenwürde der Palästinenser für
ihr Land ist, das ihnen geraubt wurde. Und wie
groß der Mut und der selbstlose Einsatz dieser
Menschen sind.
Der „Held“ des Fotos gibt sich bescheiden. In
einem Interview mit dem arabischen Sender Al
Jazeera sagte er, er sei sehr überrascht
gewesen, als Freunde ihm am nächsten Tag auf
ihren Handys das Foto, das inzwischen um die
Welt gegangen war, gezeigt hätten. Er habe den
Fotografen bei seinem Vorstoß auf die Grenze gar
nicht bemerkt. Aber das Bild ermutige ihn,
weiter gegen die israelischen Besatzer, für das
Ende der Belagerung des Gazastreifens und für
die Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat zu
demonstrieren.
Aber das ist nicht so einfach. Vier Mal ist Abu
Amro, der in Gaza einen kleinen Kiosk mit
Zigaretten betreibt und von seinen Einkünften
seine Großfamilie unterhalten muss, inzwischen
verwundet worden – das letzte Mal sehr schwer am
Bein, als er von einer „Schmetterlingskugel“
getroffen wurde, ein Geschoss, dass sich beim
Aufprall öffnet und dann seine maximale
verletzende Wirkung erzielt. Die Kugel traf sein
Knie und andere Knochen am Bein, sodass er seine
Zehen nicht mehr bewegen konnte und ständig
Schmerzmittel brauchte. Aber die sind im
Gazastreifen wegen der Abriegelung von der
Außenwelt schwer zu haben. Auch eine Operation
ist unbedingt nötig, aber auch das ist schwierig
bei weit über 10 000 von den israelischen
Scharfschützen Verletzten und deshalb völlig
überfüllten Krankenhäusern.
Abu Amro will dennoch nicht aufgeben. Die
Vergleiche mit dem berühmten Bild von Delacroix
mache ihn stolz, der versehentliche Aufstieg zu
einer Ikone motiviere ihn zugleich, sagt er.
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin gab es jetzt eine
Ausstellung der besten Fotos des Jahres 2018,
von den besten Fotografen der Welt. Das Motto
lautete: „Das Beste, was die zeitgenössische
Fotografie zu bieten hat.“ Sie lief unter der
Schirmherrschaft des Sony-Konzerns. Auch das
Foto von Mustafa Hassouna, das den mit der
palästinensischen Flagge und der Steinschleuder
vorstürmenden Abu Amro zeigt, war dort zu sehen.
6.02.2020
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