Weglassen, vertuschen und
manipulieren
„1948. Die Ausstellung zur Staatsgründung Israels“ ist
ein klassischer Fall von Geschichtsfälschung
Arn Strohmeyer
Der
israelische Historiker Ilan Pappe schreibt über die
offizielle Geschichtsschreibung des Staates Israel, die die
Zeit um 1948 behandelt, sie sei geprägt von „einer tief
sitzenden Angst vor einer Debatte über die Ereignisse von
1948, da Israels ‚Behandlung‘ der Palästinenser in jener
Zeit zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen
Legitimität des gesamten zionistischen Projekts aufwerfen
würde. Für Israelis ist es daher von entscheidender
Bedeutung, einen starken Verleumdungsmechanismus
aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft, die von den
Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten
Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede
eingehende Debatte über den Charakter und die moralischen
Grundlagen des Zionismus zu vereiteln.
Die Palästinenser als Opfer israelischer Taten anzuerkennen
ist für Israelis in mindestens zweierlei Hinsicht zutiefst
beunruhigend. Da eine solche Anerkennung bedeutet, sich dem
historischen Unrecht zu stellen, das Israel mit der
ethnischen Säuberung Palästinas 1948 begangen hat, stellt
sie die Gründungsmythen des Staates Israel in Frage und
wirft eine Fülle ethischer Fragen auf, die unausweichliche
Folgen für die Zukunft des Staates haben.
Die Palästinenser als Opfer anzuerkennen, ist mit tief
verwurzelten Ängsten verknüpft, da es von den Israelis
verlangt, ihre Wahrnehmung der ‚Vorgänge‘ von 1948 in Frage
zu stellen. Aus Sicht der meisten Israelis - und nach der
Darstellung, die die israelische Mainstream- und
Populärgeschichtsschreibung immer wieder verbreitet – konnte
Israel sich 1948 als unabhängiger Nationalstaat auf einem
Teil des Mandatsgebietes Palästina etablieren, weil es den
frühen Zionisten gelungen war, ‚ein leeres Land zu
besiedeln‘ und ‚die Wüste erblühen zu lassen‘.(…)
Was die Palästinenser verlangen und was für viele von ihnen
eine conditio sine qua non wurde, ist, dass man sie als
Opfer eines fortdauernden Unrechts anerkennt, das Israel
bewusst an ihnen begangen hat. Das zu akzeptieren würde
natürlich für israelische Juden ihren eigenen Opferstatus
beschädigen. Es hätte politische Auswirkungen auf
internationaler Ebene, würde aber auch – was vielleicht
weitaus entscheidender wäre – moralische und existenzielle
Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie
müssten sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres
schlimmsten Alptraums geworden sind.“
Das ist eine äußerst scharfe Kritik an der zionistischen
Geschichtsschreibung. Aber sie bringt das Problem auf den
Kern: Weil das Unrecht, das die Zionisten den Palästinensern
zugefügt haben, so ungeheuer groß ist, müssen sie ihre
eigene Geschichte verdrängen und sich in politisch bewusst
geschaffene Mythen flüchten. Die Wahrheit würde das ganze
zionistische Projekt in Frage stellen, wie Ilan Pappe
schreibt. Mythen haben zwar mit der historischen Wahrheit
nur sehr entfernt etwas zu tun (bisweilen haben sie einen
historischen Kern), aber sie erfüllen wichtige Funktionen:
Sie schaffen ein Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl,
was ein junger Staat wie Israel, dessen Bewohner aus der
ganzen Welt zugewandert waren, dringend braucht. Der
Zionismus musste zudem Mythen schaffen, weil sich
historisch, anthropologisch und juristisch keine sicheren
und überzeugenden Gründe für den Anspruch auf das Land
Palästina finden ließen, denn Mythen haben in diesem Fall
Rechtfertigungscharakter.
Der zionistische Staat Israel lebt von solchen künstlich
erzeugten Mythen. So ging der Zionistenführer und erste
Ministerpräsident Israels David Ben Gurion sogar so weit zu
behaupten, dass ein starker Glaube an den Mythos ihn in
Wahrheit verwandele. Sein enger Berater Jitzhar verstieg
sich sogar zu der Behauptung: „Ein Mythos ist nicht weniger
wahr als Geschichte, er ist jedoch eine zusätzliche
Wahrheit, eine andere Wahrheit, eine Wahrheit, die neben der
Wahrheit besteht: eine nicht objektive menschliche Wahrheit,
und doch eine Wahrheit, die zur historischen Wahrheit wird.“
Diese Sätze sind insofern „wahr“, als Menschen durchaus bei
der gewaltsamen Durchsetzung von Zielen von Mythen motiviert
sein können und sich dabei auf Mythen stützen – und eben
dadurch historische Tatsachen schaffen.
Die israelische Geschichtsschreibung ist heute noch
weitgehend von Mythen und Legenden bestimmt, das heißt, sie
passt sich den ideologischen Vorgaben der zionistischen
Ideologie an – etwa, dass die Juden ein „historisches Recht“
auf Palästina haben, weil es in einer fernen Vergangenheit
ihre „eigentliche Heimat“ war; dass das Land „öde“ und
„leer“ war, als die zionistischen Siedler dort ankamen und
sie erst „die Wüste um Blühen“ gebracht haben; dass die
palästinensischen Araber 1948 „freiwillig“ das Land
verlassen haben, weil ihre Führer sie dazu aufgefordert
haben; dass die jüdischen Einwanderer gewillt waren,
friedlich mit den einheimischen Palästinensern
zusammenzuleben, sich aber gegen deren ständige
Gewaltausübung wehren mussten; dass Frieden möglich ist,
wenn die Palästinenser denn wie Israel dazu bereit wären
Das sind alles zionistische Mythen, die gerade von
israelischen Historikern längst widerlegt sind. In den 90er
Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstand eine neue
Bewegung in der israelischen Geschichtswissenschaft, die
sogenannten „neuen Historiker“, die kritisch und aufklärend
gegen die Stereotypen und Klischees der zionistischen
Geschichtsschreibung vorgegangen sind, was nicht zuletzt
dadurch möglich wurde, dass die israelische Regierung
wenigstens zum Teil Dokumente in den Archiven freigegeben
hat. Aber auch die mündliche Befragung der letzten
Überlebenden der Ereignisse hat hier eine bedeutende Rolle
gespielt. Die wichtigsten Vertreter der neuen
Historiker-Generation sind Simcha Flapan, Benny Morris, Ilan
Pappe, Avi Shlaim und Tom, Segev, aber auch Shlomo Sand, Dan
Diner und Moshe Zuckermann müssen dazu gerechnet werden. Sie
alle haben wichtige Beiträge dazu geleistet, die
zionistischen Mythen zu entmythologisieren.
Man kann hinter die Ergebnisse der Arbeiten dieser
Historiker nicht mehr zurückgehen. Wenn Zweifel an den
Resultaten ihrer Forschungen bestehen, muss man sie
widerlegen. Von einem solchen rationalen Diskurs lebt die
Wissenschaft und nur so macht man Fortschritte. Die
Ausstellung „1948. Die Ausstellung zur Staatsgründung
Israels“, die von einer Israel nahestehenden Organisation
„DEIN e.V. Verein für Demokratie und Information“ (München)
zusammengestellt wurde und in verschiedenen deutschen
Städten gezeigt wird, genügt einem solchen Anspruch in
keiner Weise. Sie nimmt die Arbeiten der neueren
israelischen Geschichtswissenschaft überhaupt nicht zur
Kenntnis, tut so, als gebe es sie gar nicht – und fällt so
in eine von zionistischen Mythen bestimmte
Geschichtsauffassung zurück.
Zwar werden im Begleitkatalog der Ausstellung hohe Ansprüche
vorgebracht: Da ist im Vorwort davon die Rede, dass man in
dem Gezeigten die Vergangenheit „korrekt“ beschreiben und
sie nicht „verzerren“ wolle. Man versichert: „Was die 32
Tafeln der Ausstellung zeigen, überwindet weit verbreitetes
Halbwissen, Vermutungen und Desinformationen im Zusammenhang
mit der Staatsgründung Israels.“ Und: „Die Ausstellung ist
ein historisches Korrektiv. Ihre Bedeutung geht aber weit
über das Jahr hinaus. Sie bildet das Modell für eine
erstrangige demokratische Verpflichtung: Bei Propaganda,
Hassinformationen und Verzerrungen nicht zu schweigen.“
Das klingt gut, ist aber selbst reine Propaganda (hebräisch:
Hasbara, die in der israelischen Politik eine große Rolle
spielt), denn die Ausstellung wird den von ihr selbst
gesetzten Kriterien in keiner Weise gerecht. Ganz im
Gegenteil: Man wundert sich, mit welchen
Geschichtsfälschungen die Organisatoren der Ausstellung an
die Öffentlichkeit gehen. Offenbar ist es ihre Absicht, ein
völlig uninformiertes und ahnungsloses Publikum
anzusprechen, das solche Mythen und Legenden akzeptiert,
ohne zu widersprechen.
Die Methode des Vorgehens ist kurz gesagt: weglassen,
vertuschen, manipulieren. Es ist verblüffend, welche für den
Palästina-Konflikt wichtigen Fakten im Katalog der
Ausstellung, der immerhin 70 Din A4-Seiten umfasst, gar
nicht vorkommen. Bei Zitaten werden grundsätzlich keine
Quellen genannt, und die behaupteten Fakten – etwa Gewalt
von Seiten der Palästinenser (israelische Gewalt gibt es nur
als Verteidigung) – werden so gut wie nie in einen
politischen oder historischen Kontext gestellt. Die
Grundaussage ist: Die eingewanderten Juden sind friedfertig
und versöhnlich, die Palästinenser gewalttätig und brutal.
Selbst die Ziele der eigenen Ideologie, des Zionismus,
werden nicht genannt, obwohl es an historischen Dokumenten
und Literatur über diese Bewegung nun wirklich nicht
mangelt. Zahlen, etwa die Zahl der jüdischen Einwohner in
Palästina in der Vergangenheit, sind ungenau oder stimmen
nicht – natürlich aus gutem Grund und klarer Absicht: Man
will belegen, dass der jüdische Anteil der Bevölkerung immer
so groß war, dass er einen berechtigten Anspruch auf das
Land hat.
Die Ausstellung ist wegen der israelischen Staatsgründung
1948 natürlich im Jahr 2018 – das Jubiläum 70 Jahre Israel –
zeitlich genau platziert, sie soll mit Sicherheit aber auch
ein Gegenstück zur Nakba-Ausstellung sein, die die ethnische
Säuberung Palästinas durch die Zionisten im selben Jahr
darstellte. Im Gegensatz zur jetzigen Ausstellung war ihre
Vorgängerin wissenschaftlich exakt aufbereitet. Mir ist bei
allen Vorwürfen der „Einseitigkeit“ gegen sie keine
wissenschaftlich ernstzunehmende Widerlegung der Darstellung
der Ereignisse des Jahres 1948 bekannt. Was auch damit
zusammenhängt, dass sie sich auf die Arbeiten der oben
genannten „neuen“ israelischen Historiker stützte, was den
oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus besonders absurd
machte.
Eine wirklich seriöse Widerlegung ihres Inhalts hat es nicht
gegeben. Was man dagegen hielt, waren die altbekannten
Mythen und Legenden, mit denen die Zionisten seit
Jahrzehnten hantieren und die auch die jetzige „1948.
Ausstellung“ prägen – Hasbara eben. Warum die Zionisten von
diesen Mythen nicht herunterkommen, gibt das oben angeführte
Zitat von Ilan Pappe in vorzüglicher Weise wider. Dem ist
nichts hinzuzufügen. Die Mehrheit der Deutschen neigt aber
offenbar dazu, diesen zionistischen Mythen Glauben zu
schenken, wohl aus dem Schuldgefühl heraus, das die
furchtbare deutsche Vergangenheit der Hitlerzeit bei ihnen
hinterlassen hat und das immer noch nicht rational
aufgearbeitet ist. Und natürlich ist die Angst vor dem
Antisemitismus-Vorwurf groß. In diesen Kontext gehört auch
„1948. Die Ausstellung“.
Was diese Ausstellung sogar bedenklich, ja gefährlich macht,
hat Ilan Pappe in Bezug auf die zionistische
Geschichtsschreibung treffend so beschrieben: „Jeder Versuch
zur Lösung eines Konflikts muss sich zuallererst mit dessen
Kern auseinandersetzen und dieser Kern findet sich meistens
in seiner Geschichte. Eine verfälschte oder manipulative
Geschichte erklärt oft gut, warum ein Konflikt nicht beendet
wurde, während eine wahrhaftige, umfassende Betrachtung der
Vergangenheit zu einem dauerhaften Frieden und einer
bleibenden Lösung beitragen kann. Wie die Untersuchung des
Falls Israel/Palästina zeigt, kann eine falsch verstandene
Geschichte der jüngeren oder ferneren Vergangenheit sogar
noch direkteren Schaden anrichten: Sie kann die
Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung von heute
rechtfertigen. Es überrascht nicht, dass in solchen Fällen
auch die Gegenwart verfälscht wird, ist sie doch Teil der
Geschichte, deren Vergangenheit bereits entstellt wurde.
Diese Täuschungen über Vergangenheit und Gegenwart
verhindern das Verständnis des fraglichen Konflikts,
erlauben eine Manipulation der Fakten und richten sich gegen
die Interessen all jener, die Opfer des Konflikts sind.“
Eine kritische Aufarbeitung dieser Ausstellung bringt der
Autor Arn Strohmeyer in Kürze unter dem Titel Ein
klassisches Beispiel für Geschichtsfälschung. Wie eine
Ausstellung das Gründungsjahr des israelischen Staates
(1948) verzerrt darstellt. Eine Gegendokumentation als Buch
heraus. Es erscheint Mitte September im Gabriele Schäfer
Verlag Herne.
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